Bei dieser Aufnahme hört man den Komponisten Tom Täger mit einer einer Musik der befreiten Melodien
In hochkonzentrierter Form macht das Monodram Señora Nada etwas, was nur die Literatur kann, aber auch sie nur sehr selten: Es macht Dinge vorstellbar, die man sich nicht vorstellen kann, weil es nicht auszuhalten wäre, wenn man es täte. Doch wenn sie wie hier verwandelt erscheinen, verdichtet, in jedem Wortsinn, zu Literatur, werden sie, wenn schon nicht erträglich, so doch erlebbar in einer Mischung aus Grauen und ästhetischem Genuß. Dieses Monodram handelt von der Konstitution einer Gegenwirklichkeit der psychischen Prozesse. Was scheinbar geschieht, ist nur die Oberfläche eines ganz anderen Abenteuers. Dem Titel liegt die Auffassung zugrunde, daß sich jeder Mensch in seinem Bewußtsein eine Welt nach seinem Maß erschafft – ein Vorgang, den das Werk gleichsam in der Schrift wiederholt. Die erzählerischen Strukturen des Monodrams geraten ins Wackeln, die semantischen und morphologischen Valeurs der Wörter rücken ins Zentrum. Die entfesselte Sprachalchemie triumphiert über den Traditionalismus. Die Redensarten haben versagt, so bleibt nur der Weg in die innere Demontage und Sprengung aller konditionierten Sprechhaltungen: heraus aus den Festlegungen, hinein in die Polysemie, das turbulente Spiel der Mehrdeutigkeiten. Seine Poesie ist kein Prozeß, in dem man eine Erkenntnis verschlüsselt oder treffender formuliert, sondern eine Sphäre menschlichen Tuns, die so autonom ist wie die Musik, die bildende Kunst, der Tanz. Will man beschreiben, warum diese lyrischen Monodramen eine so betörende Wirkung entfalten, könnte man sagen: Da ist ein Klang von Stille.
Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefaßte Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Langgedichte, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst. Bei Señora Nada provoziert Weigoni mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte, und nicht durch Dolby–Surround. Darin wird er von Tom Täger begleitet mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition ist durchsetzt mit minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Es entsteht in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Ioona Rauschan und der Darstellerin Marina Rother ein Weltuntergangsdrama in Form einer fein ausziselierten, virtuos durchkomponierten Wortsymphonie.
Schwarz ist die Farbe der Stille, Weiß jene des Rauschens auf diesen menschenleeren Bildern, die Meer und Riff, Bucht und Hafen ins wechselnde Licht rücken. Die grammatische Implosion im letzten Wort, das Herausbrechen unbetonter Vokale, versinnlicht sprachlich das Motiv des Schiffbruchs. Über den spärlichen Werken der Zivilisation liegt die Aura schrecklicher Schönheit, Spuren verlieren sich am Strand. Den Kampf um die Dauer hat der Mensch hier immer schon verloren. Die Schönheit von Weigonis Sprache liegt in der lakonischen Präzision des Wortes, der Genauigkeit jeder Beobachtung: in der Poesie des bewußt erlebten Augenblicks. So als habe die Todesnähe, in der die Protagonistin sich befindet, auch das Bewußtsein des Lyrikers beim Schreiben aufs Äußerste geschärft. Wo das Schreiben die Notwehr der Seele gegen den Ansturm des Nichts darstellt, wird alles möglich. Weigoni ist ein Vertreter stilistischer Polyphonie, er schert sich nicht um die klassische Schriftsprache und Forderungen der sprachlichen Reinheit, sondern mischt gehobene mit niederen Ausdrucksweisen und wartet mit einer Fülle von Soziolekten, dialektalen Eigenarten und syntaktischen Fügungen aus der gesprochenen Sprache auf. Er verwendet wissenschaftliche Begriffe wie Ausdrücke der Alltagssprache, nimmt tradierte Metaphern auf und prägt neue. Wiederholungen, motivische Wiederaufnahmen und Inversionen, rhetorische Fragen, aphoristische und apodiktische Formulierungen setzt er stilistisch wirkungsvoll ein und spickt seine Poesie mit Zitaten anderer und Anspielungen auf eigene Werke. Das kaleidoskopische Zitieren verschafft seinen Schriften eine intertextuelle Ebene, die sich als eine Form kultureller Erinnerungsarbeit deuten läßt. In diesen Satzgirlanden, die zuweilen von schelmischem Gelächter durchdrungen sind, geht es um unterschiedliche Anteile von Tradition und Traditionsbruch. Seine Sprache bringt das Geheimnis der Dinge zum Leuchten.
Señora Nada präsentiert ein schwankendes Daseinsgefühl. Hier geht es um die Krankheiten der Epoche, um Entfremdung, Auraverlust der Kunst und die metaphysischen Konsequenzen, die für den transzendental Obdachlosen aus der Entzauberung der Welt entstanden sind. Dieses Monodram zeigt sich lyrisch hermetisch und auf engstem Raum labyrinthisch, die dahinsurrenden Zeilen sind raffiniert und lapidar zugleich, Stimmungsbilder aus dem Innersten einer äußerst ungesicherten Existenz. Wie im Mondlicht die Dinge eine quecksilbrig harte und zugleich diffus changierende Kontur annehmen, von der einen in die andere Gestalt wechseln, somit der Einbildungskraft doppelt ausgeliefert scheinen, erweist sich Señora Nada als somnambul und luzide zugleich. Eine nächtlich phosphoreszierende Welt, Wachtraum und Traumerwachen, die sich nur in ganz wenigen Augenblicken versöhnlich entspannt. Dieses Monodram bietet Momentaufnahmen einer beängstigend sinnlichen Metaphysik des Schwebens, einer gegenständlichen Bodenlosigkeit gleitender, entgleitender Bezugspunkte, einer sich verschränkenden inneren und äußeren Welt. Es ist beides enthalten und gleichfalls bestimmend: Form und Formsprengung, bezogen auf die allgemeine Geschichte der Gattung Langgedicht, und besonders auf die individuelle.
Hier findet sich das längst verloren geglaubte Ewige der Literatur, das noch noch Hingabe erfordert.
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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2017
Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.
Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.