Nachklang des Vokalalphabets
Soweit man es nachvollziehen kann, kam das Vokalalphabet aus der Donaukultur. Nach Süden, brachten es die Phönizier auf ihren Handelsrouten mit. Die Reduktion der Zeichen bei enormer Ausweitung des mit ihnen Ausdrückbaren stellt in ihnen einen Umschlagpunkt der Geschichte dar. Daß das Melodische an der Stimme notierbar wurde, ist eine kulturtechnische Leistung der altgriechischen Vokalalphabetisierung der Gesänge Homers. Verblüffenderweise wurden mit diesem Alphabet jedoch nicht nur Sprache und Musik, sondern auch Mathematik und Geometrie angeschrieben. Der interessante Befund liegt darin, daß damit von Beginn an – und einer inhärenten medienästhetischen Logik folgend – ‚alphanumerisch‘ avant la lettre operiert wurde. Diese sonst disziplinär entfernten Bereiche medienarchäologisch zusammenzudenken eröffnet eine neue Dimension von Kulturgeschichtsschreibung. Mit der kulturtechnischen Leistung des Vokalalphabets wurde die Welt sowohl exakt darstellbar wie auch komplett erfindbar. Auch davon erzählen die Dichtungen der Ilias und der Odyssee
Mit den LiteraturClips erweiterte Weigoni nicht nur die Grenzen der Sprache, er brachte auch neue Arten der Weltbeschreibung und der Wahrnehmung hervor.
A.J. Weigonis Werkliste ist thematisch wildgefleckt. Wir finden neben der – jeweils in einem Schuber dokumentierten Lyrik und Prosa – eine nennenswerte Anzahl von akustischer Kunst. Diese erweiterte Form der Literatur bewegte sich als Klangcollage zwischen einer poetischen Performance, dem Hörspiel und dem Klangbuch. Bereits 1991 legten Frank Michaelis und Weigoni die zum Schlagwort gewordenen LiteraturClips vor. Diese Clips mögen für den ungeübten Hörer heiße Luft sein, sind aber angereichert mit purem Sauerstoff. Sauerstoffhappen, eher Häppchen, die den Ohrganismus am Überleben halten. Das frühzeitige Erkennen, daß in der Kürze der einzelnen Beiträge der Erfolg zum langen Atem liegt – beim Produzenten vielleicht, beim Zuhörer gewiss – ist sehr hoch anzurechnen. Mit der Kürze entsteht eine Konzentration auf das Elementare.
Wenn es Videoclips gibt, muss auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren.
A.J. Weigoni
Seit 1989 interessieren sich die Frank Michaelis und Weigoni unter dem Projektitel Das Labor für eine Audio-Art, die bislang nach den herkömmlichen Marktgesetzen unerschlossen bleibt. Die Menschheit steht zu Beginn der 1990er Jahre vor einer Transformation der Sprache ins Medium der technischen Kommunikation. Die Konfrontation der Ästhetiken der digitalen Medien mit dem Kassettenuntergrund erweist zweierlei: Zum einen, daß das Pensum, das eine digitale Ästhetik für sich reklamiert, bereits von den avancierten Werken der Analogepoche überboten wurde, zum andern, daß die Theoretiker einer digitalen Ästhetik die Entwicklung der Technologie notorisch einem ästhetischen Fortschritt gutschreiben. Die Stichworte dieser Fortschrittsvorstellung sind auf KUNO diskutiert worden: Interaktivität, Synergie von Mensch und Maschine, und das Ende der Gutenberg-Galaxis.
Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.
lyrikwelt.de
Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 mit Frank Michaelis die LiteraturClips auf CD (der Claim für Klangbücher war noch nicht abgesteckt) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Diese Titelgebung ist selbstverständlich reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur. Manche Künstler sind ihrer Zeit voraus. Besonders dann, wenn sie Dinge sichtbar machen, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen oder ignorieren. 1995 begann die Zusammenarbeit A. J. Weigoni und Tom Täger, die mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen crossmedialen Zirkelschluß findet, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert oder bei dem zweiten Monodram Unbehaust eine Klang-Collage aus Papiergeräuschen anfertigt. Weigoni bewegt sich auf dem Hörbuch Gedichte in der Intermedialität von Musik und Dichtung, er sucht mit atmosphärischem Verständnis die auditive Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!
MetaPhon seit 2012 auf vordenker.de mit einer Werkschau von A.J. Weigoni
Die Germanistik erweist sich dem Rundfunk gegenüber bisher ohnehin allzuoft als schwerhörig. Dieser „déformation professionelle“ versucht die Reihe MetaPhon zu entkommen. Neben einem Forum hat man bei vordenker.de die Möglichkeit, Hörspiele herunterzuladen. Seitdem Hörspiele ständig und überall herunterladbar geworden sind, schwimmt auch die zuständige Kritik öfter im Ocean Of Sound – und taucht manchmal unter. Zumal die allgemeine Herunterladbarkeit von Hörspielen, die Veränderung der Hörgewohnheiten, die mit dem großen stilistischen Durcheinander auf Festplatten einhergeht, längst auch auf die Hörspielproduktion selbst durchschlägt. Nicht nur die Grenzen zwischen verschiedenen Stilen sind durchlässig geworden, auch der Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist längst verwischt. Dem muß man sich stellen. Das mag heißen, daß man mit den Beinen strampelt, daß man um Hilfe ruft oder daß es einem gelingt, auf den Wellen surfen und elegant über die Schaumkronen des Ocean Of Sound zu reiten. Am Ende kommt es darauf an, so wenig Wasser wie möglich zu schlucken. Mit der Digitalisierung beginnt das Zeitalter des Literaturclips.
In den Download-Angeboten der Reihe MetaPhon werden bei vordenker.de Hörspielschreiber, Musiker und Komponisten aus der Rhein/Ruhr-Region vorgestellt: Mario Giordano, Helge Schneider, Jens Neumann, Marina Rother, A. J. Weigoni u.a. als Horspielschreiber, Peter Brötzmann, Eva Kurowski, Franz Halmackenreuther, Mona Lisa Overdrive, Alexander Perkin, Volker Förster, Tom Täger u.a. als Komponisten.
Weiterführend → ein Kollegengespräche über die Meta-Ebene zu Reihe Metaphon
* * *
Der Schuber I, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2017
Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.
Der Schuber II, Werkausgabe der gesamten Prosa von A.J. Weigoni, nur darin enthalten ist der Band Vorlass und die Doppel-CD 630 mit der letzten Lesung des Romaciers, aufgezeichnet im Tonstudio an der Ruhr. Edition Das Labor, Mülheim 2019