Anstelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt.
Nelly Sachs
Lokalhelden ist ein Roman über das Weltgeschehen en miniature, die „Heimat“. A.J. Weigoni blickt neu auf ein verschwundenes Land, die Bonner Republik. Weigoni bleibt auf kritischer Distanz zu ideologischen Gruppierungen und theoretischen Erklärungsmodellen jedweder Art. Er hat ein Gespür für die Mentalitäten und Brüche, die Lebenslügen und schlecht verspachtelten Risse in der Bundesrepublik. Darüber hinaus schaut er sehr genau auf all die Stellen, an denen der Putz schon abgebröckelt ist und die Fassade kurz vorm Einsturz steht. Heimat ist im Rheinland kein Ort sondern ein Zustand, ganz ohne jede Tümelei. Dieser Roman macht uns das Deutschland von heute begreiflich. Die Rheinländer sind unverbesserliche Weltverbesserer, sie bekennen sich zur Mehrdeutigkeit. Im Wahren ist für sie immer auch etwas Falsches, im Vernünftigen immer auch etwas Unvernünftiges, in ihrer Freiheit immer auch Zwang. Eine negative Ethik hat in dieser Region kein Ziel, ausser Schaden zu vermeiden. Sie will keinen Endzustand erreichen, kein Paradies auf Erden. Weigoni begibt sich auf die Spuren des beschädigten Lebens. Er ist ein Gedankenexperimentator, der keine Berührungsängste auch vor fragwürdigsten Ideen kennt. Die gedrechselten Gedankengänge der Rheinländer führen ihn immer zu absurden Dialogen. Die Fragen nach Sinn und Unsinn, nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Lebens treiben sie an und führen sie letztlich zurück zur Lust am Leben. Weigoni beschreibt dies mit sehr viel Ruhe, melancholisch, mitunter gar resigniert, distanziert und sehr mitfühlend. Im Rheinland ist die makelhafte Verknüpfung von Wunsch und Realität, Vision und Trash ein Stilmittel. Seine Romane (siehe auch: Abgeschlossenes Sammelgebiet) sind scharfsinnige sprachexperimentelle Gesellschaftsbeobachtungen und -diagnosen, ohne als dröge soziologische Studie daherzukommen. Ihr eigenwilliger Sound, ihre Schreibweise und ihr gesellschaftskritischer Ton machen ihn zu einem Solitär.
Dialekt ist, wenn die Seele atmet.
Goethe
Die Rheinländer sind in Empfindsamkeits-Ghettos eingeschlossen und bleiben auf Distanz zu einer Idee von Heimat, zur alten wie auch zur neuen. Sie verstehen sich nicht, verfallen aber gerade dadurch auf Kommunikationsformen, die mehr zu verstehen geben als tausend Worte. Weigoni hat ein Gespür für die Abgründe seiner Figuren und ein Gehör für deren Dialekt. Die Rheinländer parodieren. Sie reden unentwegt. Sie psalmodieren, sprechen nur mit schneller, modulierender Zunge, sich das Wort hin und wieder wie bei einer Stafette aus dem Mund nehmend. Kurze Hacksätze. Subjekt. Verb. Objekt. Sie häufeln kurzangebundene Syntax. Diese Typen scherbeln die Sprache, jazzen mit Worten und treiben Wort-Beat. Weigoni kommt sprachlich auf die Höhe des Kunstwerkes, macht es nachempfindbar, ordnete den rheinischen Dialekt dabei wie beiläufig ein und beschreib selbst Kompliziertestes so sinnlich, daß ihn auch Lischen Müller verstehen könnte, wenn sie nur wollte. Weigoni wechselt behände zwischen Tonarten und Textsorten hin und her, zwischen genauen Wirklichkeitsbeschreibungen und ins irreale kippenden Bildern, er nutzt verschiedene Stimmen, verändert immer wieder die Blickwinkel, manchmal von Absatz zu Absatz. Lokalhelden ist ein Panoptikum, ein Gemurmel, ein ohrenbetäubendes Klangwerk.
Heimat ist eine Behauptung, ein imaginärer Ort
Olga Grjasnowa
Wenn die Rheinländer sagen: „Alles kommt irgendwann wieder.“ Damit meinen sie: „Alles Schlechte kommt irgendwann wieder.“ Der Konsumismus entfaltet sich als die Religion der Gottunfähigen. Das universalistische Ideal hat sich aufgelöst, nach der Ernüchterung herrscht im Rheinland degenerierter Moralismus. Immer wieder torpedieren Störungen und Irritationen den restlos perfektionierten Alltag. Daraus entsteht ein subtil schattiertes Bild unserer Zeit. Die rheinische Abschweifungslust kennt keine künstlerischen Grenzen, daher läßt Weigoni das Leben selbst zu Wort kommen. Was sich als Leitmotiv durch die Kapitel zieht, ist der Basso continuo der unbarmherzig verstreichenden Zeit. Relativsätze jagen Parenthesen. Das locker parlierende Erzählen und das konzentrierte gedankliche Abschweifen verdichten sich zur Parabel. Manches taucht ab und zu wieder auf, schichtet um, verzahnt sich, wie in einem Refrain oder einem Gedicht. Man muß nicht jeder Gedankenkapriole folgen, doch ist Weigonis Text pointiert, spitz und mit Vergnügen geschrieben, ihn fehlt jener verschwiemelte Bierernst, der die deutsche Literatur so unlesbar macht.
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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
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Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.