Das Ruhrgebeat, der Schnittpunkt der Popmoderne

Ein Streifzug durch die De-Industrialisierung

Seit der Industrialisierung ist das Ruhrgebiet ein Schmelztiegel. Nach der Einstellung des Bergbaus zunehmend einer der Kulturen. Als einer der größten Ballungsräume Europas verfügt die Region, die lange vornehmlich durch die Stahlindustrie und den Bergbau geprägt war, über eine der dichtesten Kulturlandschaften Europas. Hier ist Experimentiergeist und Aufbruch. Die Möglichkeiten unkonventioneller Spielorte, etwa Fabrikhallen oder auf Naturbühnen, werden genutzt. Hier gelingt es den Künstlern große Sinnzusammenhänge mit Lässigkeit zu unterlaufen.

Die Trash-Artisten wissen, daß die Lust an der Gegenkultur die erste Voraussetzung für ihr Gelingen ist, zudem muss man Rollen spielen und über Masken verfügen, um in Musik, Literatur und Kunst wirksam agieren zu können. Mit dem modischen Begriff der Authentizität haben sie wenig am Hut.

Man braucht nicht in einem Schacht hinabzusteigen, um im Underground zu landen, manchmal reicht im östlichen Ruhrgebiet auch die Straßenbahn, die hier quasi in einen Stollen verlegt wurde. Schreiben bedeutet für Hartmuth Malorny ein großes Individuations- und Selbstbehauptungsprogramm. Autoren, die einen Ich-Erzähler für einen Roman wählen, haben es bisweilen schwer bei der Kritik. Schnell handeln sich der Autor, der gesamte Text und seine Hauptfigur Vorwürfe ein, die von Gefühlsduselei, Besserwisserei bis hin zu Bildungshuberei, Unglaubwürdigkeit oder schlicht fehlender Sympathie reichen. Zu den Widrigkeiten zählten „der stetige Kampf gegen die Uhr und die mannigfaltigen Dinge, die eine Straßenbahn aufhalten können“. Auch habe sich sein Alkoholproblem nur schwer mit dem Schichtdienst vereinbaren lassen. Wie sein großes Vorbild Bukowski hat Malorny vor dem Erscheinen seines ersten Romans mehrere Gedichtbände bei Kleinverlagen herausgebracht.

Lieber ´n Dortmunder Export als ´ne Wanne-Eickel

Barbara Ester aus Wanne-Nord hat einen erheblichen Anstoß zum letzten Gossenheft gegeben, das auf der Cranger Kirmes spielt, also in ihrem „Hinterhof“, die Hauptdarstellerin ist eine Bi-sexuelle Serienkillerin. Geziert von manch semantischem Husarenstück. Klischees werden mit Hilfe von A.J. Weigoni clever arrangiert, Stereotypen gekonnt gegeneinander ausgespielt und vor dem inneren Auge des Lesers generiert sich einen kurzweiligen Nachmittag lang ein leicht nekromantischer, spannender B–Movie. Die Präsentation des Bandes war für den 11. September 2001 in Dortmund geplant…

 

Smells like Beat Spirit

Roland Adelmann gehört, zusammen mit Robsie Richter und Tom de Toys zum sogenannten Social Beat. Er veröffentlichte auch in der von Isabel Rox Anthologie Downtown Deutschland, (erschien 1992 im Verlag von Isabel Rox) und Asphalt Beat, die eine erste Bestandsaufnahme des entstehenden Social Beat darstellten. Im Laufe der 1990er entwickelte sich Adelmann laut Braunschweigs Stadtmagazin Cocktail zu einem der „Top-Entertainer“ der Slam-Poetry-Bewegung, wo er sich u. a. Wortduelle mit Jan Off lieferte. Seine witzigen, originellen und skurrilen Punkrockgeschichten waren meist einer der Höhepunkte der unzähligen Lesungen, die überregional abgehalten wurden. Via Dortmund versorgt RUP den Underground.

Pop ist der Versucht das Substanzlose der Subjektivität zu erweisen

Gut Ding will Weile haben… geschlagene 16 (in Worten Sechzehn) Jahre lang kursierten unter den gewöhnlich gut eingeweihten Szenen kennen diverse Gerüchte um das unveröffentlichte Album Gift aus dem Jahr 2000. Es sollte seinerzeit Pia Lunds zweites Solo-Album nach ihrer Trennung von Phillip Boa & The Voodooclub werden. Lundaland, ihr Solo-Debüt von 1999, hatte die Kultsängerin als elegante Vorreiterin des verspielten Elektrobeats etabliert. Gift sollte den Durchbruch mit Pop-Perlen wie „Der Himmel“ (man höre des großartigen Console-Remix), „Summer Is Over“ oder der Coverversion „Propaganda“ bringen. Doch die Plattenfirma veröffentlichte das Werk nicht; stattdessen erschien ein Jahr später das Album „La Folie Angélique“ mit Remixen ihrer Solosongs von Artists wie René Tinner, Console, Kreidler, Boa, Nieswandt und To Rococo Rot. Gift blieb ein Sehnsuchtsobjekt der Fans.

Geschlagene 16 (in Worten Sechzehn) Jahre lang warteten die Liebhaber auf dieses Album und hörten nie auf, danach zu fragen. Pia Lund dachte sich, es sei eine gute Zeit, den Fans endlich Gift zu schenken, ihr Reenactment demonstriert, daß die Deutsche Popgeschichte anderes verlaufen wäre. Mit Gift ist jedoch ein Endpunkt erreicht, weiter läßt sich der Kampf gegen die erzählerische Ordnung nicht treiben, sollte der Kampf als solches noch erkennbar sein. Diese Songs sind auch ohne Frischhaltefolie nachhaltig haltbar.

Bottrop, lange Zeit Synonym für eine etwas härtere Gangart des Lebens im Revier, mit Menschen, die eine raue, herzliche Mentalität entwickelt haben, zupackend, der Wirklichkeit und keinen Wolkenkuckucksheimen verpflichtet. Und doch hat hier jemand viele Jahre lang geträumt. Biby, ein Kulturrocker von der Ruhr.

Werner Streletz

Zwei Tage, nachdem das analoge Internet eingestellt wurde, ging der erste Blog im Netz online. Betätigen wir kurz die Rückspultaste: Gegen Ende 1969 begann Josef „Biby“ Wintjes unter dem Namen Nonkonfirmistisches Literarisches Informationszentrum den Vertrieb von Alternativzeitschriften und dem Versand eines einseitig bedruckten DIN A4-Schreibens, kurz INFO genannt (Info Nr. 1 vom 10. November 1969). Das „Ulcus Molle Info“ erschien anfangs monatlich, ab Nr. 4/5-1972 zweimonatlich und zuletzt ab 1987 vierteljährlich. Es verstand sich als Öffentlichkeits- und Publikationshilfe für junge Autoren und Kleinverlage. Die Zeitschrift wurde zu einem wichtigen Diskussionsforum der literarischen, spirituellen und politischen Gegenkultur. Der Name der Zeitschrift leitet sich von der Geschlechtskrankheit „Ulcus molle“ ab, auch als „Weicher Schanker“ bekannt. Mit einem Umfang von 16 DIN A4-Seiten und einem Vertriebsangebot von über fünfzig Publikationen sowie Buchankündigungen und -besprechungen von Klein- und Selbstverlagen erschien 1970 die Nr. 10 mit einer Auflage von 2.500 Exemplaren; weitere Auflagen erschienen dann in Höhe von 1.200 und mit 200 Abonnenten. Auf seinem Höhepunkt hatte das Ulcus Molle Info 2.500 Abonnenten. Der Ulcus Molle Info−Dienst war zusammen mit der Aktion Feuerzeichen der bekannteste Buch- und Zeitschriftenversand für Alternativliteratur in Deutschland.

Die Kartographin des Ruhrgebiets

Photo von Helge Schneider

Eva Kurowski wuchs im Jazzkeller ihres Vaters Kuro in Oberhausen–Eisenheim auf und erlernte dort schon früh den Beruf der Jazzsängerin. Mit ihren eigenen zauberhaften Chansons und Balladen auf dem Album „Reich ohne Geld“ gelang es ihr, sich als ‚Billie Holiday des Strukturwandels’ einen Namen zu machen, der weit über die Jazzszene des Ruhrtals hinausragt. Ihren Gassenhauer „Reich ohne Geld“ widmete sie den Musikern des legendären Tim Isfort–Orchester, mit dem sie gemeinsam mit Christian Brückner, Tom Liwa, Katharina Thalbach, Blixa Bargeld, Sam Lee Brown durch Deutschland tourte. Kurowski erweist sich als Kartographin des Ruhrgebiets, das sie so detailgetreu nachzeichnet, daß das Abbild mit der Wirklichkeit deckungsgleich wird, um alsbald in dieser zu zerfallen. Was bei ihrer CD »Reich ohne Geld« an lächelnder Schwermut antönt, findet sich auf knapp 200 Seiten in ihrer selbstironischen Biographie »Avanti Popoloch«, ihre eigentliche Kunst, bleibt ganz an der Oberfläche, fast hält sie die Firnis, die unmittelbarste, epidermische Wirklichkeit fest. Eva Kurowskis Menschenporträts, von Erörterungen der eigenen Zerrissenheit durchwirkt, verdichten sich zum Sittengemälde des Ruhr-ge-Beats. Die Songschreiberin weiß es, und sie gestaltet diese Dramen ebenso gewaltig wie zart. Ihre halluzinativ genaue Wiedergabe von Geringfügigkeiten, in deren Verkettung ein Ort und eine Zeit decodierbar werden, macht sie zur Post-Pop-Autorin, einer Heimatdichterin fern aller Folklore und eine Reiseautorin im eigenen Hinterhof.

Eigentlich sollte die Hamburger- eher Duisburger-Schule heißen

Tom Liwa spielte sich mit seinen famosen Flowerpornoes in die Kritikerherzen, als die Begründer der so genannten Hamburger Schule noch im Kindergarten tobten. Nach der Trennung von seiner Band changiert er als Solist zwischen deutschem Indie-Rock und Neo-Bildungsbürgertum. Dieses Original, ein schräger Songwriter, der sich trotz seiner sperrigen Singstimme auch als Sänger einen ganz eigenen Platz geschaffen hat. Näselnd, nah und unaffektiert, gibt Liwa mit erheblicher Ausdrucksfähigkeit zu deutscher Liedermacherei mit amerikanischen Tugenden textlich genau das, was ein Songtitel wie „Casanovas Rückkehr zum Planet der Affen“ andeutet: zeitgemäße Dichtung, vertont zu Liedern. Liwas Songs besitzen die Kraft, als Aussage stehen zu bleiben, ohne irgendwann umzufallen. Worte, gleichsam aus dem Leben gegriffen und nicht aus der Luft geholt, Worte voll von Echtheit und Eigentlichkeit; Worte von Dringlichkeit und Sehnsuchtshaftigkeit. Es spielt und singt ein Mann, der nichts verbergen will, der sich zeigt als sich auseinandersetzende Gestalt, die offen durch das Leben wandert. Sein Leben lang hat er auf mittleren, kleinen oder privaten Konzerten gespielt. Er war nie in irgendeiner bedeutenden Talkshow zu sehen und verweigert sich, mit Ausnahme einer Netzseite, erfolgreich den Medien. Selbst bei YouTube findet man fast nichts und wenn doch, dann wirkt das eher wie ein Gag. Nicht zuletzt die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Tim Isfort und seinem Orchesterprojekt hat diesem Artisten neue Wege eröffnet.

„Bad“ Mülheim!

Seit 1981 ist Tom Täger an Produktionen mit ‚Comalounge‘, ‚Die Regierung‘, ‚His Girl Friday‘, ‚Die Sterne‘, ‚MissFits‘, Combos aus der Weltmusik, Life-Mixen für Musicals an der Folkwangschule Essen und anderen beteiligt. Mit großer Kompetenz und menschlicher Wärme betreut Tom Täger “Behinderte und Bekloppte” sowie exzentrische Künstlerpersönlichkeiten.

1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr.

Nach der Produktion von Helge Schneiders Hörspielen folgten Hörbuchproduktionen mit dem Minnesänger Ludmillus, der seit 1994 die Herzen seines Publikums mit mittelalterlicher Musik und galanter Unterhaltung erfreut. Der neuzeitliche Barde reist mit seiner Cister “Nelly” und drei Hörbüchern im Gepäck durch die Lande. In der Tradition von Walther von der Vogelweide singt Ludmillus Lieder der gleichberechtigten Liebe oder schildert erotische Erlebnisse. Im Frauenlied wiederum wird der Minnedienst aus der Sicht der angebeteten Frau betrachtet. Sie nimmt den Minnedienst entgegen und drückt ihr Bedauern aus, dass sie ihn – natürlich – zurückweisen muss. Ludmillus ist Haus- und Hofbarde aus dem “Lager der Spiel- und Handwerksleut’” des renommierten Mittelalterveranstalters “Kramer, Zunft und Kurzweil”. Ludmillus spielt auf Burg- und Schlossfesten, sowie historischen Stadtfesten im ganzen Land und seit Anno Domini 1999 gehört er zur erlesenen Schar jener, die jährlich zum Bardentreffen auf die Marksburg eingeladen werden. Diese Auftritte wurden von Täger mit dem Hörbuch »Live« eindrucksvoll dokumentiert.

Täger hat ein Faible für Trivialmythen, ihn faszinieren die technischen Entwicklungen der elektronischen Medien. Seine vielgestaltige Arbeit als Musiker und Produzent im Tonstudio an der Ruhr läßt sich exemplarisch an der Produktion RaumbredouilleReplica darstellen. „Was heute noch wie ein Märchen klingt…“ – so haben sich die Deutschen in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts die Zukunft vorgestellt, als militärischen Staat, in dem die Akteure in einem Rhythmus reden, der sich als Vorläufer des Raps hören lässt: „Es gibt keine Nationalstaaten mehr, es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien.“

Die RaumbredouilleReplica berücksichtigt die Anforderung des klassischen Science-Fictions (Bedrohung der Planeten, Rettung desselbigen) und ergänzt sie um Chiffren der Popkultur. Was für das „Raumschiff Enterprise“ die Klingonen, waren ‘die Frogs’ für „Raumpatrouille Orion“, der deutschen Science-Fiction-Serie mit Kultstatus und Heimwerkerappeal: Bügeleisen dienten dem hochtechnisierten Raumschiff als Schaltgeräte, und brennende Tennisbälle flogen durch die wolkenlose Weite des Himmels. Die neu aufbereitete Tonspur dieses Straßenfegers hält ein weiteres ungeahntes Abenteuer bereit. Wie meinte Dietmar Schönherr nach bestandenem Abenteuer: „Rücksturz zur Erde“. Bei der Hörspielcollage RaumbredouilleReplica geht es in einer Invasion der Geistesgegenwart um alles: Die Bedrohung der Erde. Einen gesteuerten Schnellläufer. Eine Invasion und natürlich: Die Rettung der Erde. Selbstverständlich mit einem Humor, der Lichtjahre von der Spaß– und Eventkultur dieser Tage entfernt ist. Tom Täger ist es gelungen, dem Genre Schundliteratur eine ästhetische Dimension abzugewinnen, er gibt so der Sprache der Straße im 21. Jahrhundert eine künstlerische Form.

Beatniks – Social beat – Ruhrgebeat

KUNO deutet Trash in diesen Streifzug durch die De-Industrialisierung als transhistorisch und transkulturell. Es geht um die Funktion einer „nonkonformistischen“ Kunst im speziellen Kontext der Ruhrgebeatsgeschichte. Die Künstler, Musiker und Autoren interpretieren Trash als Form der Selbstbehauptung des popmodernen Menschen gegenüber dem Absolutismus der globalisierten Wirklichkeit.

 

 

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Josef „Biby“ Wintjes, Porträt: Bruno Runzheimer

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.