Gedanken zur Stimmabgabe

 

Der Kehlkopf ist eine bemerkenswerte Konstruktion. Er sitzt direkt auf der Luftröhre, quasi an der Kreuzung von Atem- und Speiseweg. Seine vordringliche Aufgabe ist es, zu verhindern, dass Nahrung in die Luftröhre gelangt, weshalb er gleich über zwei Verschlussmechanismen verfügt: Über den sogenannten Kehldeckel, der sich, daher sein Name, wie ein Deckel auf die Öffnung der Luftröhre legt. Und über zwei Schleimhautfalten mit innenliegenden Muskeln, die sich so weit aufeinander zubewegen können, bis sie sich berühren. Ein zweiter Verschluss, quasi als Back-up.

Bei Babys liegt, wie bei allen Säugetieren, der Kehlkopf, und mit ihm die Luftröhre, relativ weit oben im Hals. Und damit höher als die Speiseröhre. Wie in einem Waschbecken mit zwei Ausgüssen, bei dem der eine Ausguss nach oben verlängert wurde. Füllt man nun Wasser ein, fließt es durch den tiefer gelegenen Ausguss, die Speiseröhre, ab, nicht aber durch den höher gelegenen Ausguss, die Luftröhre. So kommt es, dass Babys und Säugetiere gleichzeitig atmen und trinken können: Sie schlucken, ohne sich zu verschlucken.

Der Kehlkopf hat bei Säugetieren allerdings noch eine weitere Aufgabe: die Regulation die Atemluft. Diese Aufgabe erledigen die unteren Schleimhautfalten, die Stimmlippen, Ligamenta vocalia, umgangssprachlich ‚Stimmbänder’ genannt. Sie besitzen eine feine Muskulatur, Musculus vocalis, die durch Vibration Töne und Laute erzeugt.

Nun wandert aber der Kehlkopf, Larynx, im Hals des Menschen im Laufe seiner Entwicklung vom Baby zum Erwachsenen zunehmend weiter nach unten. So schafft er die physiologische Voraussetzung für die zutiefst menschliche Funktion des Kehlkopfes – den Raum für die zielgerichtete Manipulation der Töne: Stimme. Artikulation. Sprache. Diese im Tierreich einzigartige Fähigkeit hat jedoch ihren Preis: Weil der Mensch nun nicht mehr gleichzeitig atmen und trinken kann, verschluckt er sich gewissermaßen an der Sprache. Ein Leid, das eigentlich niemandem zuzumuten ist. Insbesondere nicht der Fleisch gewordenen völkischen Hybris:

Gäbe sie ihre Stimme ab, wäre allen gedient.

 

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2021

Die Essays von Stefan Oehm sind eine Reihe von Versuchsanordnungen, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verleihen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.

Weiterführend →

Die Verwandtschaft zwischen Stimmungen und der Stimme ging hier ein Artikel von Joanna Lisiak voraus. In diesem Zusammenhang sei auch auf einen einen Essay über das Hören verwiesen.