FAHRSCHEIN

 

ich will einen fahrschein nach bitterfeld-wolfen kaufen. am schalter im schönebecker bahnhof sitzt ein mir unbekannter älterer herr mit prägnantem gesicht, der fahrkarten verkauft, während er leise rätselhafte sätze spricht. ich gebe ihm das geld. als noch zwei oder drei euro fehlen, öffnet er das schalterfenster, stellt einen strauß chrysanthemen in einer vase auf den schaltertisch und sagt im schönebecker tonfall: »bringen sie diese blumen zu ali, damit sie nicht verwelken. dann erlasse ich ihnen das restliche fahrgeld.« ich zögere. er fragt: »sie wissen doch, wo ali wohnt?«. ich bitte ihn, mir den weg zu beschreiben. er antwortet: »gehen sie die bahnhofstraße bis zur lessingstraße. gleich an der ecke, auf der rechten seite, wo früher die korbflechterei war, wohnt ali. sie müssen nur klingeln und die blumen abgeben.« ich erkundige mich, ob ali arabischer oder türkischer herkunft sei. er erwidert: »ich habe sogar ein buch, in dem die geschichte meines namens beschrieben wird. wollen sie es lesen?« ich sage: »ja gerne.« und er antwortet: »geben sie die blumen ab und sie bekommen das ali-buch. sie können es einige wochen behalten.« ich nehme fahrschein und chrysanthemen, gehe zum beschriebenen haus und klingle bei ali. frau ali schaut aus dem fenster, nimmt die blumen entgegen, reicht mir das buch, wünscht mir viel freude damit und schließt das fenster wieder.

 

 

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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2021

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015