Nach der sogenannten Wiedervereinigung herrschte die Annahme, die beiden Landesteile würden innerhalb einer Generation zusammenwachsen. Zum 30. Jahrestag ist Deutschland so parzelliert, wie vor 1871
Die Deutsch-Deutsche Geschichte besteht seit 1848 aus ausgefransten Rändern, inneren Brüchen und holprigen Übergängen. Als Skeptiker waren A. J. Weigonis Gefühle gegenüber Deutschland ebenso gespalten wie das Land selbst. Er bewegte sich in Spannungsfeldern konträrer Interessen und kann einiges darüber berichten. Die Auseinandersetzung damit setzt er seit Abgeschlossenes Sammelgebiet fort: Immer wieder kehrt seine Fiktion in die alte BRD zurück, wobei die Darstellung ständig zwischen Heimat und Anti-Heimat oszilliert, zuletzt in den Lokalhelden. Daß sich die Form eines Romans fast von allein ergibt, wenn die Morphologie der rheinischen Landschaft und ihr Kulturerbe eine Entwurfsidee leiten, belegt diese ausschweifende Prosa. Der tiefgreifende Wandel der politischen Diskussionskultur beschäftigte den Vordenker bis zu seinem Ableben.
Die im Alltag von vielen gelebte Kulturnation ist längst auf dem Altar des Konsumglaubens geopfert worden.
Die Lokalhelden spielen in einem Surreapolis, wird lesen eine spielerische, stadtmythologische, teils auch neoexpressionistische Aufladung von Rheinlanddarstellungen. Weigoni gelingt eine Semiotik des Visuellen und Stadtmythologischen, es ist ein Metropolenroman in urbanomaner Schreibtradition. Das Rheinland erscheint in diesem Roman als multikultureller Stadt- und Metropolenraum, in dem sich Globalisierungs- und Regionalisierungsphänomene auf einzigartige Weise überschneiden. Die untergegangene Bonner Republik ist ein Monument der Erinnerung, das Kraft geben kann, das Unabgegoltene zu retten, nämlich im tatsächlich demokratischen Sinne fortzusetzen. In seiner Sinnstudie beobachtet er die kleinen Scharmützel der Punks, der Bettler und der fliegenden Händler, mit Argusaugen registriert er auch das unterschiedliche Verhalten der müßiggängerischen Upper Tens. In diesem flotten und in einer unangestrengten Sprache erzählten Roman schieben sich Bilder übereinander wie beim Film, Sequenzen werden aneinander gereiht, und das Personal wechselt, wie bei einem schnellen Schwenk mit der Kamera. Mit der gewählten formalen Komposition des bisweilen abrupten Übergangs verwischt Weigoni auch die Grenzen zwischen den sozialen Klassen. Schein und Sein verlieren ihre Kontraste und lösen sich im Nebel des geschäftigen Treibens der Alkstadt auf. Weigoni hat mit Lokalhelden keinen Heimatroman, noch weniger einen Antiheimatroman mit Abgeschlossenes Sammelgebiet geschrieben, sondern fulminante Geschichten zum höchst aktuellen Thema der Bindungslosigkeit als Gegensatz zur Verbundenheit. Weigonis Protagonisten ringen um ihre Anpassung an die neue Realität. Ihr Bezugspunkt für die inneren Konflikte der Protagonisten bleibt jedoch das Rheinland, der Raum, an den sie sich gebunden fühlen, mit dem sie sich identifizieren.
Im Rheinland ist Deutschland universell erkennbar, aber nicht konkret zuzuordnen.
Enrik Lauer
Spricht man von dem Staat, der sich „Deutsche Demokratische Republik“ nannte, so ist es ganz üblich, von der ehemaligen DDR zu reden. Dies ist ein überflüßiger Zusatz, denn niemand spricht vom ehemaligen Römischen Reich oder der ehemaligen Weimarer Republik. Und schon garnicht der vergangenen „alten BRD“. Die Poetologie besteht darin, dass sich Weigoni intensiv mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt und dabei stetig Geschichtsreflexion mit Sprachreflexion verbindend. Der Begriff des linken Intellektuellen und seine eklatanten Versäumnisse durch Schweigen und Fehlverhalten werden in beiden Romanen dekonstruiert. In seinem ersten Roman stellt Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zwischen November 1989 und März 1990 komprimiert sich deutsche Geschichte unter dem Druck der Ereignisse. Dieser Romancier verdichtet Realitätsfragmente zu Poesie. Er artikuliert ein nichtpropagandistisches Sprechen, eine Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich abhebt von dem, was man über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte. Eine fiktionale Wirklichkeit wird umstandslos abgebildet, so wie die Politik gern für sich behauptet, die Realität einfach nur zu spiegeln. In Abgeschlossenes Sammelgebiet durchdringt er die Realität vom ersten bis zum letzten Kapitel, zeigt Widersprüche auf, und weist poetisch aus, wie sich Individuen im geschichtlichen Umbruch verhalten. Die Möglichkeiten des Sozialismus werden mehr und mehr zum Konjunktiv, während die Menschen versuchen, auf je individuelle Weise der Realität ein wenig Leben abzuringen. Die Mauer erscheint als Metapher für den Kollektivwahn, der zum Ausbruch kommt. Der Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein zeitloses Buch über ein paar Tage, die außerhalb der Zeit liegen.
***
Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
Weiterfühend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.
Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
Weiterführend → Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay