Der Padrone gibt sich cool. Pomade bändigt sein südländisches Temperament. Der Machismo ist ihm angeboren. Sein chromblitzendes Lächeln wird regelmässig von einem Mechaniker gewartet. Es harmoniert prächtig mit der Inneneinrichtung des Szene–Cafés und dem stylischen Soundtrack des Easy Electronic Listening, ein leicht verschleppter TripHop–Beat, auratisch verknistert, die Geschichte der gefundenen Tonträger zittert in der Musik mit.
»Einen Cappuccino!«, ordern die einzigen Gäste im Chor. Damit sind die Gemeinsamkeiten bereits erschöpft. Das Rascheln der Zuckertüte wird zum Ereignis. Der Löffel swingt gegen das Porzellan. Das Gespräch kommt schleppend in Bewegung. Der Körper traut den Worten nicht. Die Stimmung entspricht dem antiseptischen Interieur. Sie bewegen sich linear von einem zum nächsten Allgemeinplatz. Atemloser Stillstand. Hilflose Füllsel. Zischende Zahnlücken. Blauer Dunst belegt die Atemwege und kratzt im Hals. Der Vorrat an Zigaretten neigt sich dem Ende entgegen. Die Asche glüht aus. Sie mutiert zu einer Eisheiligen, deren tiefgekühlte Erotik nur den Ausgehungerten labt. Das Paar wechselt das Thema. Zahlt getrennt. Geht gemeinsam.
Vera legt den Sicherheitsgurt an. Streicht sich sorgfältig den Rock zurecht. Mit gezieltem Griff klappt sie den Sonnenschutz herunter. Sieht in den kleinen Spiegel. Greift an den Hinterkopf. Türmt die Frisur auf. Kontrolliert kritisch ihr Make–up. Ohne zu zittern zieht sie mit dem Lippenstift ihre sinnlichen Lippen klatschmohnrot nach. Zwischendurch ein sanftes Streichen über die Wangen. Gesten zwischen Selbstliebkosung, Derangiertheit und innerer Verzweiflung. Verweigerung von Sinnhaftigkeit ist bei ihr Prinzip.
Florin beobachtet ihre Malaktion mit einem spöttischen Lächeln. Startet das ererbte Wirtschaftswunderauto. Der Motor läuft im Takt. Er legt das Demo–Tape „… and half a pint“ der Rough’n’Roll–Bande silly encores in den Recorder.
»Zu sauber. Alles abgeschmirgelt. Live sind sie enervierender. Verfügen über ein unbändiges Reservoir an urbaner Energie. Sie spielen keine Rockmusik, sie spielen mit dem Rock’n’Roll«, nuschelt er vor sich hin. Notiert gedanklich eine Rezension und bereitet seine nächste Sendung vor. Doch gut sind die encores immer noch. Passen sich nicht dem Laufwerk des Motors an.
Vera betrachtet ihn schräg von der Seite. Zeigt kurz ihre Raubtierzähne. Lächelt. Schmollt. Sie schweigen die ganze Zeit über. Florin wechselt die Fahrbahn. Fährt auf die Stadtautobahn. Dreht mit der einen Hand die Scheibe runter. Zieht mit der anderen den Regler auf Maximum. Bei Lies knallen fast die Hochtöner raus.
„Autos, Frauen und Drogen, das ist Rock’n’Roll. Schnell, hart und laut, mehr is nicht‘ “, weht es ihn an. Plock, zeigt die Mechanik das Ende des Tapes an. Der Viertakter knattert den Beat des Alltags. In das Hintergrundrauschen mischt sich ein Klang aus der Ferne, das gutturale Rülpsen der Grossstadt. Florin lädt Fake–Jazz nach. Fragmente einer industrialisierten Landschaft fliegen vorbei. Der Saxophonist rotzt Cluster aus dem Lautsprecher. Vera klaubt eine Packung esportatione aus dem Handschuhfach. Zündet sich gelangweilt eine Zigarette an. Er nimmt sie ihr aus der Hand. Reicht ihr die Löte just in dem Moment an, als sie sich eine weitere anzündet. Altvordere Spiele. Beobachtungen der Verachtung. Die Bremsen kreischen. Sie halten vor der Parkbucht ihrer Haustür.
»Kommst du mit rauf?«, erkundigt sie sich mit verhangenem Unschuldsblick. Wartet nicht auf die Antwort, lässt die Tür ins Schloss fallen und ist gefangen in einer subtilen Choreografie von Distanz und Nähe, Zutrauen und Verlegenheit. Vera versucht sich darüber klar zu werden, welches Leben sie als Transgender führen soll. Ihr Geschlecht ist von Geburt an nicht eindeutig festgelegt worden. Im Alter von 16 Jahren wurde sie von ihren Eltern aufgeklärt. Sie erfuhr, dass sie anders war als andere Mädchen in ihrem Alter. Bei ihrer körperlichen Entwicklung im Mutterleib haben die Keimdrüsen Testosteron ausgeschüttet, jedoch nicht so viel, dass sie ein Mann werden konnte. Es bildeten sich ein x– und ein y–Chromosom aus und nicht zwei x– Chromosomen wie bei anderen Frauen. Deshalb entwickelte sie sich äusserlich zu einer Frau, innerlich wurden die weiblichen Organe jedoch nicht mit ausgebildet. Sie ist vergleichbar mit einer totaloperierten Frau. Hat keine Eierstöcke, keine Gebärmutter und keinen Eileiter. Ihre Vagina endet blind, ist wie ein Präservativ.
»Erzähl mal, wie es mit uns weitergehen soll«, kommt er nach dem Vorspiel des Taktierens ohne Umweg auf den Punkt. Vera zögert. Sie macht ein anderes Ordnungsmuster auf und ist zwischen den Polen unterwegs. Das eine Extrem sei die Frau, das andere der Mann. Dazwischen gibt es unendlich viele Möglichkeiten. In Partnerschaften hat sie nie Probleme. Sie liebt Frauen und Männer. Begehren ist die einzige Form von Anerkennung, die sie Männern gerne zollt. Um Zeit zu gewinnen, entflammt sie sich für eine Zigarette. Saugt den Rauch ein und versteckt sich im blauen Dunst. Sie kann anstrengend sein, ist hyperaktiv und albern und wirkt manchmal wie ein kleines Mädchen. In Sekundenschnelle verwandelt sie sich, strahlt Wut und Verschlossenheit aus.
»Die Verwirrung in meinem Körper ist so gross, dass ich ihr auf den auf den Grund gehen will. Oft weiss ich nicht, welche Bewegung ich warum ausführe. Meine Emotionalität ist ein wohl erzeugtes Edelgas auf der Oberfläche einer wohl konstruierten Liebesgeschichte«, macht sie auf Understatement, um ihn zu reizen. Die Vorfahrtsregeln funktionieren immer noch. Allerdings in geregelteren Bahnen als am Anfang, als jede Begegnung einen Totalschaden verursachte. Jeder Schauspieler versucht, diese Gabe zu trainieren. Ihr ist das egal, sie hat sich nie mit Schauspielerei beschäftigt, sie lebt einfach in den Tag hinein.
Vera entkorkt eine Flasche Wein. Wirft einen prüfenden Blick von schräg oben auf das Etikett. Wiegt die Flasche in der Hand. Hält beim Einschenken den Daumen in der Senke im Flaschenboden. Beherrscht das Abdrehen der Flasche nach dem Einschenken, das Schnüffeln und Goutieren. Trinkt in überhasteten Schlucken. Malt mit dem Finger Skizzen in den Raum. Sie denkt während sie redet. Und sie denkt sich in ihre Rede hinein. Der Strudel verschluckt sie. Und speit sie wieder aus. Stil ist ein symbolischer Aspekt ihres Widerstands und ihrer Entschlossenheit, ihr Anderssein als solches kenntlich zu machen. Vera ist nicht gewohnt, so viel zu reden. Sie verheddert sich. Gerät auf belanglose Nebenschauplätze. Widerspricht sich zum Teil.
»Lass dich nicht irritieren. Rede ruhig weiter!«, versucht er im Ton gelassen zu bleiben. Er kennt sie gut. Fast zu gut. Leider lässt sich kein Reim darauf, geschweige denn ein Song daraus machen. Die Magie eines Songs besteht darin, dass alle zuhören, aber aus verschiedenen Gründen. Sie kommt ihm dagegen vor wie ein taubstummes Gedicht, das nur durch Zeichen redet.
»Jeder Mann hat nur ein Bedürfnis: Frauen aus dem Gefängnis des Feindes in das eigene zu überführen. Du willst auch nur aus einer Geliebten eine Leibeigene machen!«, spuckt ihm Vera ihre Verachtung vor die Füsse. Wirft sich in Positur und präsentiert sich als eine Pandora, die ihren Büchsenöffner selbst mitgebracht hat. Sie ist die Extremfrau schlechthin: ungeheuer schön, wahnsinnig hysterisch und bezaubernd lebensuntüchtig.
»Sex ist von Moralkategorien und romantischer Gefühlsanbindung befreit und lässt sich nicht mehr direkt als Mittel zur Unterdrückung instrumentalisieren. Warum sollten wir uns so viel unnötige Arbeit machen?«, lächelt Florin sie unverschämt an und hält es für keine schlechte Idee, eine letzte Entgleisung zu begehen; als Ausstand, um den Abstand hin zu bekommen. Sex war ihnen das Einzige, was Glück garantierte.
»Das verstehe ich überhaupt nicht!«, kokettiert sie und lehnt sich zu ihm über den Tisch. Ihre grünen Augen schiessen Stichflammen auf seine Stirn.
»Die Mühe, die Zeit und das Geld, das du brauchst, um eine Frau anzubaggern, reichen, um sich von der teuersten Luxushure der Stadt einen blasen zu lassen«, beginnt er das Phänomen der reinen Sehnsucht und des Begehrens, der Schmerzensdialektik von Nähe und Ferne bereits zu vermissen.
»Was findest du eigentlich an mir interessant?«, zögert sie hinreissend. Ihre Augen sind immer so offen wie ihre Ohren. Sie hat unauslöschliche Erinnerungen im Kopf. Ihr Bemühen erinnert daran, auf Pepita–Muster Schach spielen zu wollen. Vera strömt eine Atemlosigkeit aus, die forciert wirkt in ihrer Bereitschaft zur Verschwendung, zur Verausgabung. Wie viele Frauen, befasst sie sich fast ausschliesslich mit sich. Ihr Selbstwertgefühl steht und fällt mit der Bewunderung von aussen. Das kann zu einem Ich führen, das leer und egoistisch ist.
»Was mich fasziniert, ist, dass du dich ganz bewusst als Frau inszenierst!«, verneigt sich Florin vor ihr und lässt die Tür leise ins Schloss fallen. Auf der Strasse spielen Kinder mit einem Lederball. Er stellt sich frei. Bekommt den Ball. Dribbelt zwei Kids aus und macht die Höhle. Ist froh, dass er den Ort verlassen kann. In dieser Vorstadt wüten der entfesselte Nihilismus, der Hass und die Zerstörung in Reinform. Ideologische Motive existieren dort nur noch als Lendenschurz der nackten Brutalität.
Der Viertakter summt ein beruhigendes Kontinuum und harmoniert mit dem rappelnden Recorder. Geschmeidige Elektrobeats und zeitgemässer Soul, eine Mischung aus Up–Tempo–House und elegant mehrstimmigen Gesangsharmonien schnurren vom Band. Die Musiker bewahren die intime Melancholie von Billie Holiday, die bittere Kraft von Nina Simone, den Triumph von Aretha Franklin und vermitteln ein Gefühl der Entgrenzung. Es gibt ein Weiterexistieren mit dem Schmerz, dem realen und dem Fantomschmerz des Verlustes, eines Scheiterns im Kampf mit sich selbst. Florin begreift die Welt als eine Art zweite Haut des Menschen, nimmt sich ihrer an, betastend, berührend, betrachtend. Körper sind Blendwerk und Schein. Gebäude erinnern an verdickten Duft, Schlösser in der Luft. Die Strasse, ein Band aus Teer. Leitplanken geben Sicherheit. Entgegenkommende blenden ab. Nackte Äste peitschen den Wind. Die glasklare Nacht legitimiert bitteren Frost. Es wird ein Herbst mit intensiven Momenten, wenn sich Schattenrisse zu einer Berührung finden. Diese Welt kennt keine Anklagen, keine abschliessenden Urteile, nurmehr die ewige Bewährungsstrafe.
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Zuerst erschienen in Downtown Deutschland: Underground-Anthologie Taschenbuch, Isabell Rox-Verlag, 1992. Überarbeitet für: Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterführend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.