Wie man im Rheinland ein anderer wird, um derselbe zu bleiben

Ein geschriebenes Wort ist die köstlichste Reliquie.

Henry David Thoreau

In seinem bis hinter das „tolle Jahr“ 1848 – in den deutschen Vormärz zurückgreifenden Roman – erzählt A.J. Weigoni von den rheinischen Umbrüchen. Einfache Antworten liefert er keine, auch nicht auf die nahe liegenden Fragen. Die Lokalhelden stehen in der Kontinuität dessen, was er bereits in Abgeschlossenes Sammelgebiet angedeutete hatte. Hier addiert sich einiges, aber es entstehen auch vielfältige Synthesen. Dieser „Heimatroman“ ist ein Spiegelkabinett aus Geschichte und Gegenwart, aus Tragik und Komik, aus Banalem und Bedeutendem. Die Rheinländer leben in Sünde und Unwissenheit, „Schlunzigkeit“ ist ihr hervorragendes Prädikat. Möglich ist auch, dass Sünde und Unwissenheit das Leben selbst darstellen. Weigonis im Gewand des Ästhetischen verborgene Moral verstört und versöhnt zugleich. Der Roman skizziert die untergründige kollektive Nervosität, die zwischen dem 9. November und dem 11. September 2001 herrscht. Und nie aufbricht. Als Ursache der Aggressivität ortet Weigoni die moderne Existenzunsicherheit zu Zeiten der Globalisierung. Die neoliberale Werteordnung mag günstig für die Wahrheit sein, er fragt die Leser, inwieweit Wahrheit günstig fürs Leben ist. Angst wird zur Signatur dieser Epoche. In der Literatur ist interessant, dass auch im Mainstream oder dem, was die Leser vielleicht sogar als angepasst empfinden, subversive Diskurse virulent sein können. Man sollte sich nicht davor scheuen, in der Flut der Referenzen auch mal richtig unterzutauchen und die Dichte der Anspielungen zu genießen.

Auch ein Stadtplan ist die Vorlage zur Lektüre, Weigoni lehrt das Rheinland zu lesen, lehrt es retrospektiv, noch einmal neu und anders zu lesen. Das Rheinland ist für diesen Schriftsteller keine trockene Fibel, aber auch kein Buch mit sieben Siegeln, sondern eine einzige Verführung zum Literarischen. Wir betrachten die plattgemachte Moderne. Die Handlung ist hoch dynamisch erzählt und vereint sex, crime and history auf angenehm unaufdringliche Weise. Vor allem aber, und das ist das unplanbare Element jedes Kunstwerks, weist die Handlung fast schon unheimliche Parallelen zur Gegenwart auf. Die Rheinländer geraten immer tiefer hinein in den Strudel des Wissenwollens, sie schweifen ab, verzetteln sich und genießen es, als freischwebende Denker mitten ins Zentrum der Gegenwart zu gelangen. Weigonis Ton ist ironisch, seine Sätze bilden endlos rhythmische Schleifen, mäandernd durch den unübersichtlichen Dialekt. Originalität und Kreativität sind wichtige Stilelemente dieser Sprachfärbung. Die Rheinländer finden zwar immer wieder Neues, finden aber nicht unbedingt etwas heraus.

Die Rheinländer haben ein Geburtsrecht auf Zweckfreiheit. Ihr Versuch, die gerade erlebte Wiedervereinigung, den Bedeutungsverlust der Bonner Republik, die Verzweiflung an der Globalisierung, die widerstreitenden Gefühle, die durch das Internet ungefiltert einströmen, nicht nur auszudrücken, sondern durch Sprache möglichst zu kontrollieren, ist Weigonis Ansinnen. Dabei lässt ihn sein ganz und gar desillusionierter Blick auf die Welt, die nicht besser oder schlechter zu haben ist, als sie nun einmal ist, hellsichtig erscheinen. Wie schon Walter Benjamin, so erkennt auch Weigoni in der Tendenz, dass es immer so weiter geht, die eigentliche Katastrophe, da mit der ungebrochenen Kontinuität dessen, was ist, Oberflächlichkeit, Sinnleere, Konsum und Zerstörung einhergehen. Durch die funktionalen, immergleichen Abläufe bleibt im Rheinland alles unhinterfragt. Weigoni versucht, mit seine Prosa gegen diese Glasglocke der abgestumpften Unreflektiertheit anzukämpfen, indem er durch Orts- und Stimmungsdichte, durch geprägte Sprachrätsel die Sprache aus ihrer kommunikativ-gleichmachenden und durch die Massenmedien forcierten Verzweckung herauszulösen trachtet. Zeitlos sind seine Fragen nach Heimat, nach der eigenen Identität, nach dem richtigen Leben und dem aufrechten Gang.

Erinnern ist eine Voraussetzung dafür, die Fehler der Vergangenheit in der Gegenwart nicht wiederholen. Die Vorherrschaft des Woher macht die Ernsthaftigkeit des Wozu in Rheinland erst recht unmöglich. Die Anfänge des Sprechens und der Sprache im Rheinland, der Kunst, der Religion, der Musik, der Schrift oder der Mathematik, des Staates, des Rechts oder des Geldes, die Anfänge des Erzählens oder der katholischen Ehe. Staatsgläubigkeit herrscht allenthalben. Auch wenn diese unterschiedlichen Typen so manches trennt, so eint sie ein unstillbares Begehren nach der nächsten Anekdote, dem letzten Gerücht, nach Geschichten. Weigonis Sprache verführt und berührt gleichermaßen. Er hat die rheinische Geschichte genau recherchiert, dies gibt ihm die Freiheit, die einzelnen Lebensabschnitte in der Tiefe auszuloten und diese Typen aus ihrem Erleben heraus Sprache werden zu lassen. Die Rheinländer bemühen sich täglich darum besser zu scheitern.

Der Grundstein für die auf Differenz-Prinzipien beruhende Anthropologie, ist für Weigoni – selbstredend – der Dialekt. Bei aller tief empfundenen Heimatliebe lässt er die Rheinländer nicht sentimental werden, er gestattet ihnen keinen nostalgischen Heimatkitsch. Oft sind es flüchtige Momente, von denen diese Prosa ausgeht. Werden die Sätze Figuren länger, so wird die Sprache komplexer und die Verhältnisse komplizierter. In der Reflexion gewinnen die Motive der Figuren im Handlungsverlauf ihre Vielschichtigkeit und abgründige Tiefe. Dabei psychologisiert er nicht, er erzählt und gestattet dem Leser, mit den Figuren unterwegs zu sein, als bewegten sie sich durch die Altstadt wie durch ein Wimmelbild. Die Rheinländer quält das Gefühl der Vergeblichkeit, das Zerwürfnis über die eigene Identität, das Nachgrübeln über das eigene Sein, auch Wehmut, Nostalgie, Alkoholismus, Todessehnsucht, Verdruss über die ubiquitäre Allerweltsdummheit und der Ekel vor der nachbürgerlichen Unkultur der Gegenwart. Als Remedur gegen den Etatismus registriert dieser Schriftsteller den Liberalismus der individuellen Existenz als gegeben, doch macht dieser in der „hypermodernen Massengesellschaft“ mit ihren abstrakten Vermittlungsprozessen der frei gewählten Demokratie eine denkbar schlechte Figur.

Wir betrachten die Wundmale die sich seit 1848 im Rheinland abbilden. Die Lokalhelden sind ein großer Stoff, der den menschlichen Maßstab auf das anlegt, was das Individuelle gleichermaßen bestimmt wie übersteigt: Politik, Geschichte, Philosophie. Und neben seiner Gewitztheit ist dieser Roman auch noch ein überaus komisches zu lesendes Buch. Weigoni setzt in seinem rheinischen Roman auf süffige Multiperspektivität und weckt, in klassisch–realistischem Sinne, Empathie für all seine Figuren. Dabei bedient er sich einer bilderstarken, sinnlichen Sprache und jongliert, wie es sich für einen Heimatroman gehört, gekonnt mit historischen Fakten und gut Erfundenem. Dezente Ironie sorgt dafür, dass die notwendige Distanz zum Erzählten nicht verloren geht, auch wenn man in jeder Zeile spürt, wie fasziniert der Schriftsteller von seinem Stoff ist. Die Kunstfertigkeit dieses Romans besteht darin, dass Weigoni das Rheinland auf humane Weise freischaufelt, Schicht für Schicht. Dieses Dokument einer sozioökonomischen Zeitenwende zeigt die Bonner Republik in ihrem Antlitz von der Wiedervereinigung bishin zu 9/11, doch nie auf museale Weise.

Das Rheinland mit seinen zeremoniellen Selbstvergiftungen zu Karneval ist beinahe nichts gegen die Nachricht, dass Bier durchaus gesundheitsgefährdend sein könnte. Rund um die Altstadt entwickelt Weigoni eine raffiniert gebaute Geschichte, in der nichts dem Zufall überlassen ist. Verlässlich kreuzen sich die Wege der Figuren, bis ein Netz aus biografischen Bezügen des Rheinlands entstanden ist. Diese Typen leben mit all ihren Widersprüchen, mit dem gänzlich Unauflösbaren, mit antagonistischen Wahrheiten. Das Leben und die Literatur haben das Scheitern gemeinsam. Die Sinnlosigkeit des Lebens liegt in der untergehenden Bonner Republik in der unüberbrückbaren Kluft zwischen Lebenszeit und Weltzeit begründet. Das Kennzeichnende dieser Prosa ist das Widerständige, das Paradoxe, das Autonome, das sich nicht auf kulturelle Zweckgebundenheit reduzieren lässt. Das Rheinland wird exakt so beschreiben, wie es vor dem Auftauchen des Anthropozän bestand, es scheint die autoritäre Biederkeit der Bundesrepublik als Folge der Zerrüttung der bürgerlichen Verhältnisse durch den Nationalsozialismus durch, die sich in der Pubertät des Punks im „Ratinger Hof“ und anarchischer Bewegung in der Kunstakademie vorübergehend befreien ließen. Der Einbruch des Realen in die Erzählung ist selten zu vermeiden, Weigoni erzählt dies eher unterkonturiert und gestattet auf die Globalisierung – wenn auch augenzwinkernd – eher beiläufige Blicke.

Die größtmögliche Verfügungsgewalt über die Bonner Republik ist die Literatur. Die Rheinländer werden mit der Erkenntnis konfrontiert, dass sie etwas versäumt haben, ohne es zu wissen. Die alte BRD ist nicht die gewohnte Welt und sie ist es eben doch. Verblüffend ist, wie viel Formfreiheit Weigoni aufzeigt und dem Leser eröffnet, bei aller formalen Selbstbeschränkung. Er kann sich nicht auf Deutsch ausdrücken, ohne sich von der Tradition einsperren zu lassen. Er sucht im Rheinland alles, was ihn einengt, zu sprengen, indem er sprachliche Grenzen negiert und durch Vermischung, Hybridisierung und Bastardisierung des bestehenden Dialekts etwas Neues kreiert. Immer besteht er auf der Differenz zwischen Schein und Sein und liefert damit ein Porträt der rheinischen Bastel-Denker. Seine Kunst besteht darin, die Simplizität der narrativen Form mit Raffinesse zu nutzen, um mittels erzählerischer Abschweifung, historischer Exkursionen eine zweite Ebene der Ideen und ihrer Geschichte einzuziehen. Auf einer dritten Ebene schließlich macht sich Weigoni ein Vergnügen daraus, den Text selbst vom rheinischen Dialekt inspirieren zu lassen.

Weigoni findet zu einer hybriden Sprache, weil er Zusammenhänge und Bewusstseinszustände ausdrücken will, die in der Stipendiatenliteratur nicht adäquat zur Sprache gebracht werden. Ein großer Teil der rheinischen Existenz vollzieht sich in einem Zustand, der nicht durch hellwache Sprache, trockennüchterne Grammatik und vorantreibende Handlung wahrnehmbar gemacht werden kann. Eine Dynamik gewinnt diese polyphone Ästhetik dadurch, dass Weigoni die angelesenen Konzepte nicht übernimmt, sondern sich ohne Rücksicht auf den Kontext nur einzelne Fragmente herausklaubt, mit denen er dann ganz nach eigenem Gusto verfährt, indem er fragmentarisiert und auf den erhaltenen Fragmenten eine eigene Sprachwelt aufbaut.

Das Ende der Bonner Republik vollzieht sich im Spannungsfeld alltäglicher Unwägbarkeiten. Auf der Müllhalde dieser Epoche beschreibt Weigoni wie sich das historisch Tragische als Farcewiederholt. Dieser Roman ist gleichermassßen eine Studie über das Wirken von sozialem Ressemtiment im dumpfen, gedanklich unbeweglichem sozialen Gefüge der rheinischen Provinz. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf oberflächliche Erscheinungen des alltäglichen und kulturellen Lebens, um aus zufälligen Zeichen, aus den Phänomenen das Wesen einer neuen Gesellschaft zu diagnostizieren. Es ist der mikrologische Blick eines engagierten Flaneurs, der auch das Ohr öffnet. Die Dialoge der Rheinländer sind gewitzt, Klischees werden in ironischer Absicht zitiert. Oftmals sorgen die ungewöhnlichen Assoziationsstrukturen der Rheinländer, die eigentlich den bindenden Zusammenhang stiften sollen, für Verwirrung. Was die Farce hier vom einfach nur Komischen unterscheidet, ist ihr überaus luzider Doppelcharakter. Weigoni führt souverän ein großes Figurenensemble aus dem alltäglichen Wahnsinn vor. Ehrliche Makler und raffinierte Blender, Wendehälse und Halsstarrige, Gewalttätige und Eingeschüchterte, Unternehmungslustige und Resignierte. Das Böse verbirgt sich meist im Harmlosen. Das Leben im „Kannibalenkapitalismus“ ist wild, roh, ambivalent, gierig, stürmisch, gewitzt, unberechenbar und hemmungslos verdorben. Und diesen Vorgang zu dekuvrieren, ist Weigoni mit seinem Schreiben seit den Zombies angetreten. Kunst ist immer Abbildung, sie verweist auf die Welt und ist doch von einer Gestaltetheit, die der Welt abgehen muss. Insofern ist dieser Roman unentbehrlich. Mit dieser Prosa offenbart sich vollends ein Masterplan, mit dem Weigoni seit den Vignetten von 2009, Buch an Buch zu einer Makroerzählung zusammenfügt hat. Weigonis Werk ist eine umfassende Diagnose unserer Gegenwart. Seine Poesie bietet die Möglichkeit, sie aushalten zu können.

 

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

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Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.