A.J. Weigoni, 1991
Dieser Sprechsteller hatte ein feines Gespür für eine Literatur in den Zwischenräumen des in Bild, Text und Ton überlieferten. Literatur im Spannungsfeld der neue Medien hat ihn sowohl in Theorie und Praxis interessiert. Weigoni betrachtete die Gegenwartskultur mit mit analytischem Gespür und einem bewundernswerten Hintergrundwissen. So unterschiedlich die Bände Vorlass und Parlandos vom Ansatz her sind, so verdeutlich sich hier in den Glossen, Essays und Sprachpartituren auf unterschiedliche Weise das Miteinander unterschiedlicher Künstler.
Um eine Existenzberechtigung zu besitzen, muss die Kritik parteiisch, leidenschaftlich und politisch sein
Charles Baudelaire
Wer sich hingegen im Unverbindlichen verschanzt, befördert die Literatur ins Niemandsland der Beliebigkeit. Dieses Verständnis von Literatur entstammt dem 19. Jahrhundert, als man an das höhere Wesen des Schriftstellers glaubte. Das 20. Jahrhundert hat die Leser dazu aufgefordert, in ein persönliches Verhältnis zur Literatur einzutreten. Den meisten Menschen des 21. Jahrhunderts ist bewußt, daß Literatur nicht unbedingt die Realität aufscheinen lassen muss. Und ebenso vertraut ist es ihnen, dass auch die elektronischen Medien nur eine Version von Wahrheit verbreiten: alle Erkenntnis ist vom Standpunkt des Erkennenden bestimmt. Poesie ist aktuelle und akute Gegenwart, nicht im journalistischen Sinne, sondern in ihrem Streben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bewußtsein zusammenzuführen. Gerade weil sich die Leser selbst eine Wahrheit zutrauen, sind sie an Entschiedenheit interessiert. Diese Überlegungen werden ausgeführt im Band Vorlass. Die Essays Verweisungszeichen zur Literatur und VerDichtung sind zuerst erschienen auf dem Portal vordenker. Hier ist vor allem Joachim Paul für die wohlwollende Zusammenarbeit zu danken.
Die Reflexion Medienpädagogisches Arbeiten mit Jugendlichen wurde vom Minipressenarchiv, Mainz in Auftrag gegeben. Sie beleuchtet die Produktionen Ohryeure, eine akustische Anthologie und Zur Sprache bringen, die als Hörbuch erschienen. Hörbeispiele sind auf vordenker in der Reihe MetaPhon zu finden.
Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde
Der Band Parlandos zeigt Langgedichte und Zyklen, die Weigoni mit diversen Künstlern in Bild und Ton umgesetzt hat. Schland war ist für ihn eine wichtige Arbeit, weil hier Bildende Kunst, Komposition und die Darstellende Kunst sinnfällig ineinander gegriffen haben. Schland ist ein Zeitfetzen. Ein akustischer Raum in einem räumlichen Behältnis, dem „neuen“ DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Er folgt dem poetischen Kernsatz: „Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde.“ Mit dem Künstler Peter Meilchen arbeitete ich an einem Stück, das sich zwischen bildender Kunst, Theater und Performance bewegte. Die bisherigen Aufführungen bestätigten: Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf dem Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poe’s: „Man sieht es und sieht doch hindurch“.) um den Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. Im Gegensatz zum oft beliebigem High-Tech-Bilderschaschlik, wurde Schland mit einem scheinbar antiquierten Bildträger gedreht: Super 8 S/W-Material. Peter Meilchens Nachbearbeitung mit Tipp-Ex, Tinte, Farbstiften und das partielle Zerkratzen der Filmoberfläche kommentiert und verfremdet den Film zugleich. Genauso wie der Blick manipuliert wird, wurde die Tonspur bearbeitet. Wir hören als Continuum: Zikaden aus dem Mittelmeerraum, Kühe vom Niederrhein, Kuhglocken aus dem Zillertal und Unken aus dem Aquazoo. Die heile Welt als virtuelles Ereignis.
„Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.“
(Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels)
Die Produktion Señora Nada provoziert mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte und nicht durch Dolby–Surround. Darin begleitet Tom Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung ist rasch im Grundtempo. Crescendo- und Decrescendo-Verläufe schaffen fiebrig-erregte Ausdruckszonen wie die buchstäblich hervorbrechenden Forte- und Fortissimo-Attacken. Tägers Klanglichkeit bleibt Weigonis Exaltiertheit nichts schuldig. Es gibt Momente, da berühren sich Musik und Sprache, wie eine Fingerkuppe vorsichtig in eine gespannte Wasseroberfläche eintaucht, ohne sie zerstören zu wollen. Diese behutsamen Momente sind die Augenblicke, in denen für ein paar Takte kaum etwas zu hören ist. Es sind Sekunden von viel größerer Kraft als jedes Crescendo. Das Angebot, das in dieser Musik liegt, ist eine Herausforderung.
Wenn sich gegen Ende von Señora Nada, die Komposition zu einem leeren Quintklang zusammenzieht in der Pianissimo–Dynamik, haben die Takte dieses Hörstücks Welten an Ausdruck, Dynamik, Ambitus durchschritten. Man weiß es nicht so genau, ob die Ruhe nach dem Sturm nachklingt oder eine im statischen Quintklang erstarrte Erschöpfung. Die Vertonung Tom Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Jedes bedeutende Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.
Ioona Rauschans wachsame, im Erzähl-Augenblick so genau beobachtende Regie vergegenwärtigt jedes dieser literarisch möglichen Leben so intensiv, daß sich niemals das Gefühl eines bloß spielerischen Als ob einstellt. Jedes mögliche Leben ist in dem Moment wahr, da es erzählt wird.
A text that alludes to Eliot’s Waste Land, was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.
Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century
Unbehaust ist ein ein poetisches Polymorphem. Folgt man den Gedanken Weigonis, ist die Hörspielfassung von Unbehaust ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben als Held. Jo Chang, die Heldin, mißtraut diesem Traum. Sie führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Das Leben bietet andere Realitäten. Und mehr noch – andere Traumata. Das Formganze dieses Monodrams wird nicht durch metronomgenaues Durchschlagen der Poesie von außen übergestülpt, sondern entwickelt sich bruchhaft und widerspruchsvoll gerade aus der Verschiedenheit ihrer Bestandteile. Das Hörspiel ist gleichsam ein Wassertropfen, in dem sich die Welt spiegelt. Erfahrung einatmen, Gedichte ausatmen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Stenografische Spontaneität und szenografisches Geschick sind in diesem Stück kein Widerspruch.
Dieses Langgedicht schraubt sich wie Tunnelbohrer durch zeitgenössische Erfahrungsräume. Ob dieses Monodram etwas bedeuten soll, ist zweitrangig. Entscheidend ist, daß sie sich ereignet. Diese Lyrik ist ein Sprachgeschehen, das die Leser synchron miterleben können, vorausgesetzt, er ist bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Weigoni liefert in seinem Monodram ein subtiles Kammerspiel eines inneren Monologs. Die Schauspielerin Bibiana Heimes ist Silbe für Silbe auf der Suche nach dem Kern und sieht darin eine Metapher zu den Bekleidungen der eigenen Identität. Sie gestaltet feine Zäsuren im Redefluss mit einer freien, reinen Gelenkigkeit als Sprecherin, eine locker schraffierte Haltungen, überhaupt das Skizzenhafte, die hingehauchte, nie vollends auserklärte Figur. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.
Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.
lyrikwelt.de
In Parlandos finden sich Langgedichte und Zyklen, die man bereits beim Lesen innerlich hört, der Rhythmus der Stimme wird ebenso hörbar wird, wie der Rhythmus der Welt. Als Rezitator inszeniert Weigoni seine Lyrik streng aus der Sprache heraus, er bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!
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Vorlass, Gebrauchsprosa von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2019.
Parlandos, Langgedichte und Zyklen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Bad Mülheim 2013.
Weiterführend →
→ Alle Gedichtbände von A.J. Weigoni sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch Gedichte in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich.
→ Eine Werkübersicht über die akustische Kunst von A.J. Weigoni finden Sie in der Reihe MetaPhon.
→ Auch die Prosa von A.J. Weigoni ist in einem Schuber erhältlich. Und nur darin enthalten ist das Hörbuch 630 und der Band Vorlass.