Weltbeschreibungsbücher

Die KUNO-Redaktion drückt die Rückspultaste: Eigentlich ist ein Konzeptalbum eine LP, bei dem die einzelnen Titel nicht isoliert, sondern in ihrer thematischen Beziehung zu den anderen Teilen des Albums als Gesamtwerk betrachtet werden. Durch die Ausarbeitung eines musikalischen und textlichen Zusammenhangs wird ein durchgängiges Konzept, ein übergeordneter Zusammenhang verfolgt. Konzeptionell läßt sich dies in seltenen Fällen auch auf die Literatur übertragen. Mit den Novellen Cyberspasz, a real virtuality setzt A.J. Weigoni die im Band Zombies begonnenen Erforschungen der Trivialmythen fort.

Sind diese Zombies paranoid in einer überangepassten Welt, oder sind sie die einzig Vernünftigen in einer durch und durch paranoiden Welt?

Coverphoto: Anja Roth

Diese Erzählungen sind ein Gegenentwurf zu den Prolo–Komödien, die als ungeschönte Milieubilder daherkommen, letztlich aber nur Freakshows sind, die statt Menschen Witzfiguren zeigen. Die Zombies dagegen wissen durch alle Skurrilitäten und Absurditäten die Würde ihrer Protagonisten zu verteidigen. Das Lachen über sie ist immer empathisch, nie abfällig. Weigonis Erzählungen haben nicht nur – wie guter Wein – einen Körper, sie haben ein satirisches Bewußtsein, das sie mit jeder Silbe ausdünsten, das alle Sätze atmosphärisch umhüllt. Es entstand das wuchtige Porträt einer bis in ihre feinsten zwischenmenschlichen Verästelungen barbarisierten Gesellschaft. Und doch weist diese Prosa auch darüber weit hinaus. Da ist eine schmerzlich spürbare Differenz zur dargestellten Welt, die im ganzen Text vibriert und den Gefühlsraum des Lesers in Schwingung versetzt. Der Leser denkt in diesen Erzählungen mit, und so kann diese Literatur niemals abgeschlossen sein. Es sind Geschichten mit Matrjoschka-Charakter, in virtuos ineinander verschachtelten, zwischen historischen Ereignissen springenden Erzählpäckchen führt dieser Romancier sämtliche Schicksale und Handlungsstränge die er in den Zombies ausgelegt hat in Cyberspasz zusammen. Seine eigentümliche Denkweise, konträr zu den gewohnten Assoziationsbahnen, scheint mit ihrem schwarzen Humor passender zur Weltlage als der freudige Triumphalismus der neoliberalen Weltverbesserer, der seit den 1990er Jahren den Vordergrund der Szene beherrscht. Wer Pierre Bourdieus Bonmot, das Kapital kenne keine Erinnerung ausser der Akkumulation, illustriert sehen möchte, der ist bei Weigonis Konzeptalbum bestens bedient.

Gibt es überhaupt eine Software für die Wetware unseres Gehirns?

Cover: Jesko Hagen

Definierte dieser Romancier mit den Vignetten die Literaturgattung Novelle neu undanalysierte zugleich den Somnambulismus der Welt, so oszillieren seine Novellen zwischen dem mokanten Blick einer zuweilen herzlich boshaften Zeitgenossenschaft und der Ekstase einer ins Innere der Erscheinungen zielenden Sehnsucht, zwischen den Wonnen der Gewöhnlichkeit und ihrer argwöhnischen Begutachtung. Weigoni beschreibt eine Fragmentierung der Wirklichkeit, er lotet diesen Zerfall voller Schrecken und Schadenfreude aus. Seine Bücher führen dem Leser vor Augen, wie die Realität in letzter Zeit mehr denn je zerbröckelt und schon bald völlig auseinanderfallen wird. Der virtual reality zieht dieser Romancier in den Novellen Cyberspasz die reale Virtualität der Poesie vor und plädiert für die Veränderbarkeit der Welt.

Hier ist er also, der große Zeitroman für Marcel-Reich-Ranicki.

Wend Kässens, NDR 3, Literatur vor Mitternacht

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

A.J. Weigonis erster Roman erzählt von einer Zeit des Übergangs, von einer historischen Wasserscheide, von einer Welt in Bewegung. Die DDR ist gescheitert, aber sie geistert noch immer als Halbtote durch die Szenerie. Die neue Epoche scheint unter dem Zeichen des Wiedervereinigung zu stehen, doch ihre Züge zeichnen sich vorerst nur undeutlich ab.

In seinem ersten Roman stellt Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zwischen November 1989 und März 1990 komprimiert sich deutsche Geschichte unter dem Druck der Ereignisse. Dieser Romancier verdichtet Realitätsfragmente zu Poesie. Er artikuliert ein nicht­propagandistisches Sprechen, eine Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich abhebt von dem, was man über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte. Er überwindet die Antifaschismusfalle inden er die Realität vom ersten bis zum letzten Kapitel durchdringt, Widersprüche aufzeigt, und ausweist, wie sich Individuen im geschichtlichen Umbruch verhalten. Die Mauer erscheint als Metapher für den Kollektivwahn, der zum Ausbruch kommt. Der Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein zeitloses Buch über ein paar Tage, die außerhalb der Zeit liegen.

A.J. Weigoni beschreibt den Topos des Nichtorts als Sehnsuchtsort: Das Rheinland!

Coverphoto: Jo Lurk

Lokalhelden definiert den geschmähten Begriff ´Heimatroman` neu. Das Rheinland erscheint hier als eine in die Jahre gekommene BRD (Westdeutschland), eine angeschmutzte Provinz. Unter praktischen Gesichtspunkten qualifizieren sich die Bewohner dieses ´Retrotopia` (Zygmunt Bauman) als Lebensverpasser, sie schämen sich kaum, rutschen aus einer Problemlage in die nächste und erweisen sich auf diskrete Weise als schamlos. Weigoni ist ein Meister der Aneignung und der unsentimentalen Empathie, als passionierter Menschenforscher liefert  er ein eierkohlenglühendes Stimmungsbild der deutschen Zustände der Achsenzeit mit ihren veränderten Verhältnissen, Ansprüchen und Wesensverzerrungen. Bei aller Ruppigkeit ist ihm das liebende Einverständnis mit seinen Figuren wichtig. Die Anekdoten aus dem Rheinland sind Überlieferungen, die selbstverursachten Amnesien der Rheinländer bleiben durch das deklarative Gedächtnis der Literatur bestehen. Weigoni lotet in seiner Mythenbricolage die Legenden des Rheinlands aus, er will die Welt nicht mit Tatsachen verwirren.

 

 

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Schreibstab auf dem Cover von: Peter Meilchen

Vignetten, Novelle, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018