Das Formgedicht KITE ist visuelle Poesie und verbindet fünfzig Sprachen und Dialekte miteinander, von denen in den seltensten Fällen alle Übersetzungen für den Rezipienten lesbar sein dürften. Ich sage bewusst „Rezipient“, denn das Formgedicht ist für den Leser und damit Betrachter auf mindestens drei Ebenen erfassbar:
Als Gedicht über Wahrheit und Freiheit (inhaltliche Ebene), als Textbild (Bild- und formgebende, visuelle Ebene) und vorgetragen (klangliche Ebene). Als Mark Klenk mir sein Projekt erstmals vorstellte, gefiel mir die Idee auf Anhieb, allerdings bestand ich darauf, dass in jeder Übersetzung seines Gedichtes die spezifische Flugdrachenform des englischsprachigen Originals umgesetzt sein müsste. Auch wenn wir nicht jede hier vertretene Sprache sprechen oder lesen können, bleibt uns die Schönheit der jeweiligen Schrift bzw. Sprache über die Form im Textbild erhalten, denn jede Form trifft bereits eine inhaltliche Aussage. Aber was genau ist die Idee hinter dem Symbol des Flugdrachens und ist diese tatsächlich international übertragbar?
Um einen Drachen steigen zu lassen, wie man im Deutschen sagt, brauchen wir vor allem Wind. Trotzdem garantiert uns der Wind nicht, dass unser Flugobjekt auch abhebt und von diesem emporgehoben und getragen wird. Wir brauchen dann umso mehr Raum, um Anlauf zu nehmen, und einen „freien, weiten Himmel“. Große Flächen eignen sich besonders gut zum Drachensteigen.
In manchen Ländern lernen Kinder bereits mit drei Jahren, wie man einen Flugdrachen in die Luft befördert. Drachen steigen lassen sieht kinderleicht aus, ist aber mit Arbeit, gar mit Technik verbunden. Neben dem richtigen Ort spielen der Drachen selbst, die Lenkposition, die Windstärke und die Richtung und nicht zuletzt etwas Glück eine tragende Rolle. Auf die Balance kommt es an und auch auf den Mut, im richtigen Moment loszulassen, die Kontrolle abzugeben, sie dem Wind zu überlassen, wenn die Leine bereits in die Finger schneidet. So besteht der traditionelle Lenkdrachen neben einer möglichst luftundurchlässigen Membran nicht zuletzt aus einer Drachenwaage, über die die Leinen befestigt werden. Diese koordiniert neben dem Lenker und dem Wind die Flugeigenschaften des Drachens. Das wird kaum deutlicher als beim Ballettflug, bei dem in einer ausgetüftelten Choreografie bestimmte Tricks nachgeflogen werden.
Was aber macht dieses augenscheinlich freie „Kinderspiel“ mit dem Wind für nahezu alle Altersgruppen und Nationen interessant? Es ist der uralte Wunsch, sich mit dem Himmel zu verbinden, der Wunsch, das eigene Sein zu Teilen in die Lüfte zu verlagern, anteilig selbst ganz leicht zu werden und im Wind zu tanzen. KITE ist also eine Verlängerung des Drachenlenkers bis in den Himmel hinein. Drachen fliegen zu lassen, gibt uns das Gefühl, eigene Grenzen, vielleicht sogar körperliche (wir haben keine Flügel), zu überwinden. Dafür riskieren wir den Absturz des Flugdrachens, denn der Wind ist ein wildes, himmlisches Kind, das ebenfalls zu allem Spiel und Schabernack bereit ist.
Ein finnisches Sprichwort warnt uns: „Myrskyssä eikannata lähtea leijaa lennättämään“, „Du solltest keinen Drachen durch einen Sturm fliegen“. Mark Klenk selbst sagt, das „Go fly a kite“ ist in seiner Muttersprache eine Aufforderung, etwas oder jemanden zu verlassen. Disneys Mary Poppins veranschaulicht die amerikanische Sichtweise, the american dream, auf das Drachenfliegen, denn dort ist der Drachen ein Symbol für Freiheit schlechthin, die zudem mit der Kindheit verbunden ist. Der Flugdrachen ist ein internationales Symbol, das mit Glück, Schicksal, Wagemut und sogar dem Tod gleichermaßen aufwarten kann. Er strebt mithilfe des Lenkers der Freiheit entgegen. Der Preis ist manchmal hoch, nicht jede Kindheit ist eine glückliche. Auch der afghanisch-amerikanische Schriftsteller Khaled Hosseini hat das in seinem Roman Drachenläufer (2003) für den Leser fühlbar gemacht. Zwei Freunde und ein gemeinsamer Papierdrachen im Wettbewerb. Das Drachensteigen ist an Koranverse, an Gebete geknüpft, die gemeinsam mit dem Wind durch den Himmel wehen. Atem, Sprechen, Singen, Schreien, Wind, der alles fortträgt, bringt, schluckt, verstärkt oder zerstört. Wir bekommen ein Gefühl dafür, was es bedeutet, einen Drachen steigen zu lassen. So heißt es: „Ich holte tief Luft, atmete aus und zog an der Schnur. Eine volle Minute lang schoss mein Drachen gen Himmel. Es hörte sich an wie ein Papiervogel, der mit den Flügel schlägt.“ Wir steigen mit dem Papierdrachen, empfinden die seltsame Verwandlung in ein verlebendigtes Wesen, in einen Papiervogel. Während Amir, die Hauptfigur und der Erzähler des Romans, mit seinen Blicken dem himmlischen Wesen folgt („[e]s war der ideale Wind, um Drachen steigen zu lassen ‒ gerade kräftig genug, um Auftrieb zu geben oder sie herabschießen zu lassen“), bluten Hassans Hände bereits an der Spule. Die blutenden Hände des Freundes deuten das Geschehen voraus, und das Schicksal der beiden konzentriert sich im Symbol des Flugdrachens, mit dem der Roman auch sein Ende im Aufstieg, in der Befreiung des Drachens, gekappt von seiner Lenkschnur, findet. Im Drachenläufer wird der Läufer durch das Kappen der Schnur vom Drachen getrennt und der Drachen dem Himmel anvertraut. Wir erfahren nicht, ob der Drachen zerstört wird.
In China, von wo die erste geschichtliche Erwähnung des Drachens als Flugobjekt aus dem 5. Jahrhunderts v. Chr. stammt, steht ein flugunfähiger (斷線風箏), vom Wind zerstörter Flugdrachen für Menschen, Dinge oder Situationen, die niemals wieder zurückkehren. Die Zerstörung des Flugobjektes wird als Omen, als Zeichen des Himmels betrachtet. Im Deutschen kennen wir hingegen den geistigen „Tiefflieger“. Für die Niederländer ist ein Drachen, der nicht abheben will, wie eine unausgegorene Idee, die sich nicht verwirklichen wird („Geen hoogvlieger zjin“). Auch mit der freien Liebe sind die Flugdrachen verbunden. So existiert etwa im Armenischen ein geflügeltes Wort, das „Dating“ mit dem Drachenfliegen vergleicht und die Ehe damit, ein Flugzeug zu steuern. Das ist ein interessanter Vergleich, wenn man bedenkt, dass Benjamin Franklin die Wirkung elektrischer Blitze mit Drachen unter suchte und damit zur Entwicklung erster Flugmaschinen beitrug.
In vielen Sprachen und Dialekten heißt der Flugdrachen schlichtweg „Drache“. Mit dem Ursprungswort „Drache“ verbinden wir im Deutschen jedoch ebenfalls eine uralte Mythengestalt, ein fliegendes oder kriechendes Fabeltier, ein mythologisches Monster, das bestenfalls Glück verheißt, einen schlimmstenfalls auffrisst, zermalmt oder in Flammen aufgehen lässt. Es ist also nicht verwunderlich, dass Drachen ein zunächst neutrales Symbol für Macht im Sinne von Naturgewalt sind, deren stürmische Natur sich der Kontrolle durch den Menschen mehr oder weniger entzieht. Das griechische Wort „drakon“ (δράκων) wird gleichermaßen mit „Drache“ und „große Schlange“ übersetzt. Der Drache erscheint uns oft als ein Mischwesen. Ebenso kennen wir Erzählungen über geflügelte Schlangen. Das Hautabstreifen, die Verwandlung und damit auch Neugeburt war bewundert und gefürchtet zugleich.
Auch das KITE-Gedicht verwandelt sich in Ausdruck, Bild, Form und Klang, indem es vorgetragen, beflügelt durch unseren Atem von Mund zu Mund fliegt. Auch wenn die Grundform des Flugrachens gleich bleibt, kann man KITE als ein transformatives und zugleich transformierendes Gedicht bzw. Bild rezipieren und damit lesen. Der Drachen ist auch ein Mittler zwischen den Elementen Erde (Mensch, fest, sichtbar) und Himmel (Göttliches, flüchtig, unsichtbar). Ich erwähnte bereits, dass das Drachenfliegen dem Menschen einen Zugang zum Himmel schafft. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob wir sprichwörtlich als Drachenreiter oder -lenker fliegen. Über die Leine ist der Pilot mit seinem Flugdrachen verbunden.
So sieht man auch in einer Szene aus Eine unerwartete Reise, dem ersten Teil der Verfilmung von J. R. R. Tolkiens Der Hobbit, drei Flugdrachen in den Farben Orangerot, Gelb und Blau über den Dächern von Seestadt gleiten, die das Verhängnis bereits ankündigen, denn der Himmel, durch den sie tanzen, ist bedrohlich dunkel verfärbt. Der orangerote Flugdrachen ist in Drachenform ausgestaltet und wirkt in seinen Bewegungen lebendiger, beinahe lebensecht. Smaug, der Drache im Einsamen Berg, erklärt sich dem Hobbit Bilbo Beutlin hingegen als Naturgewalt: „Meine Rüstung ist ein zehnfacher Schild, meine Zähne sind Schwerter, meine Klauen Speere, das Aufschlagen meines Schwanzes ist ein Donnerkeil, meine Schwingen sind Wirbelstürme, und mein Atem bringt den Tod!“ Dass ein Tanz mit Drachen nicht immer ungefährlich ist, musste nicht zuletzt George R. R. Martins Heldin Daenerys Targaryen feststellen. So gibt es ebenfalls explizite Warnhinweise für das Drachensteigen. Wer seinen Flugdrachen in Deutschland bspw. höher als 60 Meter steigen lassen will, braucht die Erlaubnis der örtlichen Luftfahrtbehörde. Auch besteht die Gefahr, dass man mit seinem Drachen abhebt.
Die etymologische Wurzel von „Drache“ und „Drachen“ ist vermutlich im alten Rom zu finden, wo man zu besonderen Anlässen verzierte und mit Segenssprüchen versehene Windsäcke tanzen ließ. Das Militär verwendete dafür als Feldzeichen die Drachenkopfstan darte, die aus einem stilisierten Drachenkopf und einer im Wind flatternden Tuchröhre bestand. Ob mythologisch oder Fluggerät, beiden Drachen ist gemeinsam, dass ihr Ursprung heute nur noch schwer feststellbar ist und dass sie seit jeher die Verbindung des Menschen und seine Sehnsucht zum Himmel bestärken. Der uralte Wunsch, dem Himmel nahe zu sein, spiegelt der Drachen in allen Sparten der Kunst wieder. Bekannt ist das Gemälde Drachensteigen (1880–1885) des deutschen Malers Carl Spitzweg, das Kinder beim Drachensteigen zeigt und das fröhlich freie Momentum als einen ewig währenden Augenblick der Kindheit beliebig wiederholbar macht. Interessant ist, wie viel mehr Raum Spitzweg in seiner Bildkomposition dem Himmel einräumt, denn dieser nimmt die oberen beiden Drittel des Gesamtbildes ein.
Durchbrochen wird die Anordnung durch die Drachenschnur, die das Kind mit dem hier wolkenlosen Himmel verbindet. Der wolkenlose Himmel Spitzwegs gibt so manchem Betrachter Rätsel auf, denn die Drachen sind hoch aufgestiegen und der Wind ist ein unsichtbarer Genosse. Den Wenigsten dürfte bekannt sein, dass Drachenfliegen ohne Wind auch eine Möglichkeit ist. Der fehlende Wind wird durch die Fortbewegung des Piloten ausgeglichen, durch schnelles Gehen oder Laufen. Drachen steigen lassen wird so sogar in geschlossenen Räumen möglich. An dieser Stelle kann man natürlich den Rückbezug zu Khaled Hosseinis Romantitel Drachenläufer wagen und die Frage stellen, wer den Drachen aufsteigen lässt – der Wind oder die Beinarbeit des Lenkers?
Natürlich funktioniert auch das Vortragen eines Gedichtes heute vordergründig in geschlossenen Räumen. Dennoch haben wir es uns nicht nehmen lassen, auch KITE mit dem Himmel zu verbinden. So ist es dem KITE-Gedicht nicht möglich, ohne Himmel „zu fliegen“. Die „Himmel“ im Buch sind den Bildern des Erfurter Malers René Büttner zu verdanken. Auch er bezeichnet sein „Wolkenwerk“ als einen Versuch, die Zeit anzuhalten, abzubilden und damit festzuhalten. Eines seiner zentralen künstlerischen Themen sind die Naturgewalten, weshalb aus seinen Himmeln aus Ölfarben eine Schönheit in ihrer ganzen Bedrohlichkeit spricht. Wolken sind für ihn die flüchtige Poesie des Himmels, die sich stets im Wandel befindet. Wir haben die „Wolken(trans)formationen“ seinen Werken für KITE in Ausschnitten entnommen. Das ausschnittsweise Verfahren unterstreicht die Tatsache, dass wir den Himmel niemals in seiner Gesamtheit erfassen können, ebenso wenig, was es bedeutet, wahrhaftig frei zu sein, Flügel zu haben. Wir leben Freiheit im Moment, im Augenblick, von Wimpernschlag zu Wimpernschlag. Wir folgen dem Drachen, unseren Versuchen, ihn zu lenken und gleichzeitig günstige Winde zu nutzen.
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KITE, Formgedicht von Mark Klenk, kul-ja 2021
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→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.