Die Ich-Erzählerin Sylvie Meyer, eine dreiundfünfzigjährige Mutter von zwei Söhnen, von ihrem Ehemann geschieden, überrascht von Anfang an mit einem radikalen Bekenntnis. Sie kenne keine Gewalt, selbst die Gewalt in uns, die wir auf die anderen übertragen, sei ihr fremd. Auch Sylvies folgende Bekenntnisse sind klar und entschieden. Sie erkenne das Böse, sie habe ihr Inneres zu einer Festung gemacht, sie könne jederzeit die Kammern dieser Bastion schließen, und wenn es notwendig sei, auch wieder öffnen, stark sei sie. Was dann folgt, klingt wie ein Manifest einer emanzipatorischen Bewegung, eine Kampfansage an das andere Geschlecht: „Frauen sind stark, stärker als Männer, sie verinnerlichen das Leid. Für uns ist Leiden normal. Es ist Teil unserer Geschichte, unserer Geschichte als Frauen.“
Nach diesem fulminanten Einstieg, der eher einer theatralischen Inszenierung gleicht als einem inneren Monolog, setzt sie ihren Selbstbehauptungskampf gegen ihre männlichen Protagonisten fort. Es ist zunächst der Rückzug ihres Mannes, der ihr nicht allzu viel Kummer bereitet, wie sie behauptet. Ein Zwischenfall sei es gewesen, den sie schnell verschmerzt habe. Viel anstrengender erweist sich jedoch ihr beruflicher Aufstieg bei Cagex, einem Gummiwarenhersteller, wo sie, wie sie selbst bekennt, zu einem Resonanzkörper ihres Chefs wird. Victor Andrieu sei, so Sylvie, ein Ausbund an Grausamkeit, eine Niete, ein Loser. Er benutzt sie in ihrer Funktion als Finanzbuchhalterin, um seine eigene Unfähigkeit zu kaschieren und Sylvie zugleich gegen die Arbeitnehmer*innen seines Betriebs als Spitzel einzusetzen. Die Auflistung seiner heuchlerischen und heimtückischen Handlungen ist lang. Er setzt zum Schein auf Sylvies Fähigkeiten, die Arbeitsprozesse zu koordinieren. Gleichzeitig stachelt er sie an, „unfähigen“ Arbeitnehmerinnen nachzuweisen, sie seien nicht mehr in diesem Betrieb geeignet. Obwohl sie diese perfide Strategie ihres Chefs durchschaut, verhält sie sich zunächst loyal, weil sie nicht nur Hierarchien respektiert, sondern sich glücklich fühlt, arbeiten zu dürfen. Denn für Sylvie heißt Arbeit „eine Rolle zu haben, am Lauf der Welt teilzunehmen.“
Doch die innerbetrieblichen Verhältnisse verschärfen sich. In einem langen Gespräch zwischen Victor Andrieu und Sylvie legt der Chef endgültig die Karten auf den Tisch. Angesichts der miesen Wirtschaftslage in seinem Betrieb soll Sylvie seine kleine Dirigentin spielen, sie soll ihre Kolleginnen bespitzeln, sie erpressen oder auch wegen angeblicher Disziplinlosigkeit entlassen. Nach einer quälend langen Denkpause, die länger als ein Arbeitstag dauert, kehrt sie zu ihrem Chef zurück, nicht um ihn zuzustimmen, sondern sich den Anschuldigungen ihres brüllenden Chefs zu stellen, den Raum auf seinen Befehl hin nicht zu verlassen, sondern nach ihrer Handtasche zu greifen, ein kleines Messer herauszuholen, nein, nicht um ihn ermorden, sondern ihm die Meinung zu geigen, so lange, bis ihr Chef ein kleines jämmerliches Etwas wird, das Angst verspürt, das sich für seine üblen Machtstrategien entschuldigt, winselt, gleichzeitig von Freiheitberaubung spricht, ihr heuchlerische Komplimente macht, ihr verspricht, nicht die Polizei anzurufen … Und Sylvie geht, hofft, dass Victor Andrieu sein Versprechen hält. Doch als im Laufe des Tages zwei Zivilbeamte sie in ihrer Wohnung abholen, erkennt sie, dass sie wohl eine Dummheit begangen hat. Und je länger die Fahrt in dem Polizeiauto dauert, desto deutlicher kristallisiert sich in Sylvie eine dezidierte Haltung heraus: „Ich hatte es gewissen Chefs im Namen ihrer Arbeiterschaft heimgezahlt, und ich war stolz darauf.“ Und sie lässt sich auch nicht von den diffamierenden Bemerkungen der zwei Bullen beeindrucken, die sie im vorauseilenden Gehorsam bereits im Knast sehen, sie mit Gesten und männlichem Herrschaftsgehabe erniedrigen. Doch ihre Haltung gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol ändert sich nach dem Betreten der Gefängniszelle jäh. Ein beklemmendes Gefühl kommt in ihr auf. Sie fühlt sich seltsamerweise beschützt. Erst der Geruch der Gefängnisbullen erinnert sie jäh an Gewalt. Kindheit- und Jugenderinnerungen kommen auf. Unsichere Gefühle ihres pubertierenden Körpers, die Bekanntschaft eines Mannes, der ihr Komplimente macht, sie in dem Glauben lässt, ein Bewunderer ihrer jugendlichen Erscheinung zu sein, eben kein plumper Vergewaltiger zu sein scheint, sondern etwas viel Fieseres. Einer, der sie sexuell diffamiert, ihr seine scheinbare körperliche Überlegenheit aufzwingt, und dann den eindringlichen Geruch gewaltsamer Körperlichkeit ablässt, wie Sylvie ihn immer wieder während eines Sexualaktes als Ausdruck maskuliner Überwältigung erfahren hat.
Das abschließende Kapitel besteht aus einem Brief, den Sylvie aus der Zelle des Untersuchungsgefängnisses an ihren Ehemann schreibt, von dem sie mehr als ein Jahr getrennt lebt. Er ist von einer frappierenden Offenheit, von einer verblüffenden Vielschichtigkeit, er führt in die Tiefen einer mehr zwanzig Jahre währenden Ehe, in der die gegenseitigen Bedürfnisse von einer ausdifferenzierten Vielfalt sind, in der Liebe und Begehren aus der Sicht der Frau ineinander übergehen, mit einem gravierenden Unterschied: Während der begehrende Mann sich durchaus von der Liebe trennen kann, um sein Machtverhältnis gegenüber der „Liebsten“- bewusst oder auch unbewusst – zu seinen Gunsten durchzusetzen. Ob unbewusst oder nur seinen Gelüsten und seiner körperlichen Über-Macht gehorchend, dieser Frage versucht Sylvie auszuweichen. Auf jeden Fall bekennt sie, dass sie oft in ihrer langen Ehe von einer Scheißtraurigkeit befallen gewesen sei, Dennoch verzeiht sie ihrem „geliebten“ Mann, dessen Vorname sie übrigens in ihrem Brief nicht nennt. Sie verzeiht ihm vielmehr mit dem Gedanken an ihre Traurigkeit, die für sie ein Zeichen von immer noch vorhandener Lebendigkeit ist. Es bleibt dabei, auch sie ist eine Geisel der Liebe und eines erdrückenden Lebens, eine Frau, die den Aufstand gegen die von Männern bestimmenten Machtverhältnisse begonnen hat.
Nina Bouraoui, 1967 in Rennes geboren, verbrachte die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens in Algier. Sie hat bis 2020 achtzehn, zum Teil hochdotierte Romane publiziert, gehört einer thematisch eng verbundenen Gruppe von Schriftstellerinnen an, die ihre emanzipatorische Haltung gegenüber dem immer noch männlich dominierten französischen Literaturmarkt auf unterschiedlichen Foren durchsetzen. Nina Bouraoui, nicht zuletzt aufgrund ihrer frühen Erlebnisse während des Algerien-Kriegs im Hinblick auf die geistige und körperliche Unterdrückung von Frauen durch die französische Kolonialmacht sensibilisiert, verarbeitete ihre Romane auch als Theaterstücke. Im Falle des vorliegenden Romans „Geiseln“ („Otages“) kommt dies vor allem in der dezidierten Sprechweise der Ich-Erzählerin Sylvie Meyer zum Tragen. Ihre markant formulierten kurzen Sätze, ihr häufiger Wechsel von Perspektiven und Handlungsorten, ihre kompromisslosen Bekenntnisse, ihre gnadenlose und zugleich tolerante Haltung gegenüber den männlichen Protagonisten – das sind Aspekte, die den Leseprozess der „Geiseln“ vorantreiben. Kein Wunder, dass Nina Bouraoui für ihre Romane eine Reihe von Literaturpreisen erhalten hat, die ihr Anerkennung auch auf dem internationalen Buchmarkt gebracht haben. Ebenso lobenswert sind die Bemühungen des Züricher Verlag Elster, diese hoch emanzipierte und literarisch ausgereifte Stimme durch die Übersetzerin Nathalie Rouanet auf dem deutschsprachigen Markt zum Klingen zu bringen
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Geiseln. Roman von Nina Bouraoui. Aus dem Französischen von Nathalie Rouanet. Zürich (Elster) 2021