Heimat ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der deutschen Kultur und Geschichte.
Friederike Eigler
Erinnern ist immer ein Verlangen nach Geschichte, nach Herkunft, nach Heimat. Heimat als konstruierter und dekonstruierter Raum. A.J. Weigonis Gefühle gegenüber Deutschland waren ebenso gespalten wie das Land selbst. Der Roman spielt irgendwo im Dazwischen. Die DDR löst sich zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990 auf. Aber auch die alte BRD hört auf zu existieren.
Poesie soll den Alltag mit seiner Zweckorientiertheit und routinierten Ökonomie der Gefühle transzendieren. Die Menschen brauchen etwas, das über sie selbst hinausweist. Dies Prosa von A.J. Weigoni trifft ins Herz einer Gegenwart, die das unbehagliche Gefühl nicht los wird, die Wendezeit zu einer Zukunft zu sein, die keiner will. Wie in einem Zwiebelschalenmodell finden sich in diesem Werk Schichten und Zwischenschichten, die zunächst unabhängig voneinander existieren und aus der Rückschau dennoch ein Ganzes ergeben.
Man kann Bücher leider nur einmal zum ersten Mal lesen. Die großen Autoren entschädigen für diese traurige Einmaligkeit dadurch, daß ihre Bücher bei der zweiten und dritten Lektüre sich erst wirklich entfalten.
Jan Philipp Reemtsma
Die Prosa von Weigoni ist inkommensurabel, gerade deshalb geht von seiner Poesie eine große Anziehungskraft aus. Bereits im Band Massaker beschrieb er die Umbruchprozesse der Gesellschaft und dekonstruierte beiläufig die Ruhrgebietsromantik. In den Zombies erwies sich Weigoni als nüchterner Pathologe, der die Dynamisierungen des zeitgeschichtlichen Erzählens von Null auf Hundert in dreieinhalb Sekunden beschleunigt. In Cyberspasz hat sich die Welt weitergedreht, sie trudelt den Katastrophen des 20. Jahrhunderts hinterher. Auch in seinen Novellen greift er Muster des Krimis auf, die er zum ‚Gesellschaftsroman‘ nobilitiert. Keine leichte Lektüre – aber eine, die sich lohnt.
Ein Autor wird nicht, wer die Worte hat, ein Schriftsteller wird, wer um die Worte kämpft. Seine Romane sind eine erfahrungsgesättigte Literatur. Es ist die Prosa eines Schriftstellers, der an der deutschen Geschichte, insbesondere an der Gesellschaft der Bundesrepublik und der Zweistaatlichkeit laboriert. Auch hier windet sich eine scharf geschliffene Sprache, mit Sinn für Komik und Doppelbödiges, hat er darin seine soziologisch geschulten Beobachtungen von Menschen, Situationen und Diskursen literarisch verdichtet.
Sowohl Abgeschlossenes Sammelgebiet als auch Lokalhelden beschreiben eine Gesellschaft, in der alte Rituale verdächtig geworden sind, neue haben sich noch nicht etabliert. Gleichzeitig ragt in das beginnende neue Jahrhundert noch vieles aus der alten Zeit hinein. Der Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein Psychogramm deutscher Mentalitäten. Spätestens seit November 1989 haben die Menschen den Seinszustand gewechselt. Ihre hoffnungslose Lage ist eine allgemeine in einer Gesellschaft gleichgültiger Toleranz. All ihre Geschichten überlappen sich mit lokalen Anekdoten und breiten Rückblenden auf die historische Tradition, sie kreuzen sich, geraten in Konflikte, sie leben nebeneinander, manchmal gegeneinander. Die Kunst von Weigoni besteht darin, dass er dafür eine gleichermassen epische wie bewegliche literarische Form gefunden hat. Weigoni zeigt sich in seinem opulenten Roman als kritischer Zweifler mit zwischendurch aufblitzendem satirischen Humor, zugleich als ausserordentlich präziser, scharfsinniger Beobachter und Chronist, der auf die deutsche Geschichte der kriegerischen Perversionen (auch wenn dieser Krieg angeblich Kalt geweisen ist) und politischen Obszönitäten zurückblickt. Als Flaneur registriert Weigoni ohne Pathos, aber mit Aufmerksamkeit die Veränderungen der Rheinischen, der Pariser und der Berliner Topologie.
Die Lokalhelden sind von einem ethnologischen Gestus geprägt. A.J. Weigoni betätigt sich als literarischer Rekonstrukteur der rheinischen Geschichte. Damit erschafft er Erzählwelten, die aus eigenem Recht leuchten, das war zuletzt der Fall bei seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet. Er beschäftigt sich mit Machtkonzepten und der Performativität des Alltagslebens in der allmählich untergehenden BRD. In diesem fein gesponnenen Netz hängt alles mit allem zusammen. Es sind Abhängigkeiten ökonomischer oder emotionaler Art, es sind Liebschaften, Enttäuschungen, Hierarchien und Neidkomplexe. Die Repräsentanten dieses verbrauchten bürgerlichen Systems sind als Protagonisten einer grundsätzlichen Machtdynamik gänzlich austauschbar. Wenn man ihnen zuschaut lernt man, wie Macht im Alltag ausgeübt wird – und sich dann im größeren Rahmen der politischen Arena manifestieren kann. Eine demokratisch gewählte „Staatsperson“ verfügt über Macht eben nur solange, wie ihr die Bevölkerung diese erteilt. Weigoni gibt mit dieser Erzählweise den Rheinländern und ihren Beziehungen zueinander Raum, sich zu entwickeln, dies führt zu einer epischen Darstellung, die mit den Mitteln von Ambiguität und Widersprüchlichkeit arbeitet. Die Welt wird nach dem Mauerfall opulenter, vielfältiger und drastischer.
Der Geist gehört zum Rheinland wie Bratwurst und Bier. Weigoni spürt den Unvollkommenheiten nach, er nähert sich diesen „Ruinenbewohnern“ in einer Haltung aus abgebrühter Distanz und leidenschaftlicher Nähe. Wir lernen in diesem Roman nicht nur die urbanen Existenzen mit gesellschaftlich relevanten Problemen kennen, sondern die kleinen Leute mit ihren aufgegebenen Träumen, ihren täglichen Dosen an Desillusion, ihren Ehe- und Alltagsdefiziten. Weder verfällt dieser Satiriker in Sozialromantik noch führt er seine Charaktere in distanziertem Spott vor. Weigoni ist ein gnadenloser Realist, der sich den menschenfreundlichen Blick bewahrt hat. Die Geschichte spricht für sich, die Einzelbilder sprechen für sich. Dieser Schriftsteller befasst sich in ihrem zweiten Roman mit großen und kleinen tektonischen Verschiebungen. Wenn all diese soziologischen Elementarteilchen etwas eint, dann die Empörung. In diesem Roman ist eigentlich seit 1848 alles bereits vorhanden, in der Form von Kleinstaaterei und nachfolgendem Chaos. Dann setzt die Geschichte ein. Die Dinge werden unterschieden, sie bekommen ihre Namen, es werden spätestens nach dem 9. November 1989 Ordnungen errichtet. Die Paroxysmen der ‚Achsenzeit‘ sind Instabil, spannungsgeladen, gewalttätig – aber: Es sind noch die Ordnungen der alten BRD, der „einzichsten“ Demokratie, die von Deutschen Boden ausging. Irgendwann brechen sie zusammen, weil das innere Chaos wieder aufbricht, weil die Antagonisten aus dem Morgenland bereits trainieren, wie man als Pilot ein Flugzeug hijacked. Aber dies wäre eine andere Geschichte.
Auf die welthistorischen Veränderungen reagiert Weigoni mit kritischem Regionalismus. Sein Ausgangsort ist das Rheinland, die alte Bonner Republik ist irreal, ein Nichtort, ein Purgatorium. „Die Vergangenheit ist nicht tot“, schrieb William Faulkner, „sie ist nicht einmal vergangen.“ Die Romane von Weigoni sind zwar aus einer anderen Zeit, aber kaum aus einer anderen Epoche. Die Vergangenheit ist nicht nur nicht vergangen, sie wirkt geradezu unheimlich nach. Die äußere Zeit löst sich auf und geht ein in die Zeit des Erzählens. Hier ist zu lesen wie Geschichten sich zu Geschichte verdichten, wie aus Heimatliebe Hassliebe wird – und umgekehrt. Nicht nur an diesen Stellen tritt der Roman immer wieder aus sich selbst heraus und bricht leidenschaftlich mit einigen Regeln der Kunst. Eigentlich ist es logisch, dass seine Romane nicht für einen Literaturpreis nominiert wurde. Es könnte sich am Ende noch jemand erschrecken, bei so viel Wahrhaftigkeit.
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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend → Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.