Archivrecherchen in Berlin und Riga

 

Wer sich auf die Suche nach Quellen monströser nationalsozialistischer Mordtaten während der Zweiten Weltkriegs in Osteuropa begibt, der wird bereits nach der Lektüre des Vorwortes von Prof. Sabine Schleiermacher hellwach. „Volksdeutsches“ Selbstverständnis, das mit der ethnischen Neuordnung Osteuropas verbunden war, militärische Zweckforschung in Verbindung mit dem auf Rassismus basierenden NS-Gesundheitssystem und eine Person namens Bernsdorff, die in einem Institut in Riga in den späten 1930er und während des Zweiten Weltkriegs ihre epidemischen „Forschungen“ durchführte – solche Themenfelder riefen in den vergangenen Jahrzehnten vor allem das Interesse von Medizinhistorikern hervor. Uta von Arnim, praktizierende Ärztin für Allgemeinmedizin, wählt in ihrer minutiös dokumentierten Geschichte über die Karriere von Herbert Bernsdorff, einen vielschichtigen Forschungsansatz. In ihrer Vorbemerkung zu ihrer Publikation (S. 10) stellt sie fest: „Mein Großvater hat weder Tagebücher noch Briefe hinterlassen. Ich habe sein Bild und das seines Instituts daher aus Dokumenten, Büchern, Interviews zusammengesetzt.“ Aus diesem Grund arbeitet sie mit Erzählstimmen, die kursiv im Text gesetzt und deren Quellen in über 520 (!) Fußnoten festgehalten sind. Deshalb seien, so U.v.A., diese Fußnoten integraler Bestandteil des Fließtextes. Darüber hinaus stammten Details „aus Interviews mit Familienmitgliedern“.

Wie multiperspektivisch die Autorin die Darlegung der Fakten präsentiert, verdeutlicht ihr Beschreibungsansatz im Prolog. Die einleitenden Zeitschienen 1968 – 1997 – 2020 umfassen die fotografierten Blicke aus der Perspektive der damals vierjährigen Uta bei ihrem Geburtstag mit dem schönen Opa, in der Person von Herbert Bernsdorff; der Leichenschmaus 1997 nach dem Tod von Edda Berndorff, der Ehefrau von Herbert, in einem niedersächsischen Dorf, in dem die Familie nach ihrer Flucht aus Lettland nach 1946 untergekommen ist, und das Jahr 2020 mit dem Stichwort ‚Archiv‘, in dem eine Forschergruppe unter der Anleitung der Autorin nach „den Indizien nicht verjährter Verbrechen“ sucht.

Die folgenden drei Kapiteln widmen sich unter I) der Geschichte des Kleistenhofs in der Nähe von Riga; II) der Forschung 1941-1944 und III) den Nachforschungen 1944 – 2020. Das Kapitel I dokumentiert die berufliche Laufbahn von Herbert Bernsdorff. Sie umfasst Medizinstudium in Dorpat, Militärarzt im Ersten Weltkrieg, Tätigkeit als Arzt für Allgemeinmedizin in Riga, die Übernahme seiner ersten politischen Führungsposition als Beauftragter des Reichsärzteführer für die Alten, Kranken und Siechen im September 1941, zu einem Zeitpunkt, als Hitler 60 000 Baltendeutsche zwecks Umsiedlung in das besetzte Polen, also ins „Reich“, heimholen lässt. Im Zuge dieser Umsiedlungsaktion lenkt Bernsdorff auch die Transporte der sog. Geisteskranken in die Vernichtungslager. Seine Haupttätigkeit besteht in der Koordinierung von Maßnahmen, die seit 1941 u.a. in der Fleckfieberforschung vornehmlich zum Schutz der deutschen Bevölkerung aufgenommen wurden. Sie wird, administriert von Herbert Bernsdorff im Kleistenhof angesiedelt, und umfasst die skrupellose Benutzung von jüdischen Häftlingen aus dem Rigaer Ghetto als Versuchskarnickel für die Erforschung der  epidemischen Verbreitung des Fleckfiebers unter russischen Kriegsgefangenen und Militärangehörigen. Parallel zu dieser Darstellung der reichsdeutschen „Forschungsarbeit“ bewertet die Autorin auch die lettische medizinische Forschung, die nach 1941 weitgehend unter der NS-Obhut ablief.

Es zeichnet diese Forschungsarbeit dadurch aus, dass auch die mühsamen Archivarbeiten unter Angabe des Zeitraums ‚2020‘ in den Blick genommen werden. Mit einer gewissen Einschränkung: Die ständigen Zeitsprünge zwischen historischen Abläufen, minutiösen Darlegungen der Impfstoff-Forschung, Berichten über das Archivmaterial zur Beschlagnahmung jüdischen Eigentums durch die Nazis verwirren zuweilen! Erst die Einsichtnahme in die sorgfältigen Quellennachweise (S. 170-239) und die Verweise auf die Publikationen von zwei betroffenen jüdischen Zwangsarbeitern und Zeitzeugen (Percy Gurwitz, Semyon Peyros) verdeutlichen die tiefschürfende wissenschaftliche Dimension dieser Untersuchung. Eingeschlossen in diese Wertung ist auch das Kapitel ‚Nachforschungen‘. Es bündelt die  Erinnerungen von Edda und Herbert Bernsdorffs Flucht aus dem Baltikum nach Niedersachsen, die verzögerte Nachforschung zu den Verbrechen der Nazi-Täter durch die bundesdeutschen Behörden und die Auflistung von monströsen nationalsozialistischen Mordtaten. Auch Bernsdorffs Name taucht in den Listen des Nürnberger Ärzteprozesses im Jahre 1946 auf. Aber erst 1969 sollte gegen ihn ermittelt werden. Da war er schon nicht mehr am Leben! Und die forschende Autorin, die so unermüdlich den Verbrechen auch ihrer nahen Verwandten nachgegangen ist? Sie kommt aus dem Archiv und registriert: „Ich ertrage die immer neuen Varianten der Grausamkeit nicht mehr!“ (S. 122)

Diese hoch zu lobende Dokumentation wird in die Aufdeckungsgeschichte der Nazi-Verbrechen in Lettland am Beispiel einer Familiengeschichte ebenso eingehen wie sie zu einer Aufklärung der Rolle der Baltendeutschen zwischen 1919 und 1944 beitragen wird. Sie liefert damit einen Beitrag zur Deutung der Banalität des Bösen in der nationalsozialistischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

 

 

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Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner „Forschung“. Eine Spurensuche von Uta von Arnim. Zürich-München (Nagel & Kimche ) 2021