Es macht die Faszination von Literatur aus, die Flucht in die Unwahrheit in die schönste Lüge zu verwandeln, die wir kennen – in Poesie.
Poesie ist gemeingefährlich. Ohne sich durch Logik, Vernunft, oder Benimmregeln beeinflussen zu lassen, dringt sie in das Gehirn und löst dort ohne Umwege heftige Gefühle aus. Bevor kritisch bedacht werden kann, ob eine Zeile und der Interpret etwas taugen, fällt das Gefühl sein Urteil, und dieses Urteil ist nie ausgeglichen gerecht, sondern von apodiktischer Härte.
Das Netz hebt die Grenzen der Kommunikation auf. Es eröffnet einen Raum, in dem der Zusammenhang zwischen Freiheit und Demokratie transnational erfahren und praktiziert werden kann. Die massenmedial erzeugte Globalisierung macht uns alle zu Heimatvertriebenen. Transnationale Identitäten werden von neuen Nationalismen überlagert. Es kommt darauf an, sich der Alternative von fundamentalistischer Identität einerseits und Preisgabe jeglicher Provinzialität andererseits zu entziehen.
Im Zeitalter der Globalisierung mit seinen schwindelerregenden Umwälzungen, die uns alle erfassen, ist ein neues Verständnis von Poesie vonnöten. Gefragt sind anschauungsgesättigte Texte, ohne die Leser durch unnötig ausgebreitete Realienkunde zu strapazieren. Es gilt wieder Geschichten über Recht und Unrecht aus der globalisierten Welt zu erzählen, oder anders gesagt, Recht und Unrecht im Raubtierkapitalismus in Geschichten zu fassen, dies aber nicht im Sinne von Rezepten, denn diese Geschichten müssen Fragen aufwerfen, nicht beantworten.
Die Globalisierung hat das Erzählen vor neue Realitäten gestellt. Die Gegenstände werden frei, weil die Sprache aufhört, sie zu beherrschen. Die Begrenztheiten menschlicher Sehfähigkeiten und Bewegungsmöglichkeiten im Raum lassen sich aufheben, um einen effizienteren Zugang zu Daten zu erhalten. Das Neue in der Literatur sind die erweiterten Darstellungsmöglichkeiten. Sie verdanken sich dem Umstand, dass der Computer eine Kombination verschiedener Medien und ihrer Wahrnehmung ist. Schriftsteller können als Compiler den Traum der Dadaisten, Surrealisten und Konstruktivisten von der Kunst als Montage realisieren. Die navigierbaren Datenräume der Welt.Weiten.Werkstatt, mit der übervollen Zitaten– und Mythenmülltonne der westlichen Zivilisation, lösen die Träume der künstlerischen Avantgarde der 1920–er Jahre ein.
Auch im Netz verhalten wir uns grundsätzlich beschreibend zur Welt. Unsere Beschreibungen sind Repräsentationen der Aussenwelt oder unserer Gedanken, sie können zutreffend sein, also wahr oder nicht, 0 oder 1. Das Netz ermöglicht eine Literaturgattung ohne Fussnoten, die sich in Ton und Anspruch zwischen gepflegter literarischer Unterhaltung und wissenschaftlich zuverlässiger Prosa bewegt. Wissenschaft bleibt eine fröhliche, solange sie unterhalten kann.
Eine der wichtigsten Fussnoten, die die Digitalisierung dem Literaturbetrieb anfügt, besteht darin, einen Work in progress–Charakter der Texte herzustellen, Poesie im Werden zu offenbaren, die LeserInnen zu zwingen, sich von dem Wunschtraum zu verabschieden, dass eine Idee eine Form zu haben hat. Nichts ist endgültig. Die Welt kommt zur Poesie, nicht umgekehrt. Fast lässt sie sich ein wenig bitten und nurmehr zwischen den Zeilen andeuten.
Internet–Literatur ist jedoch ein sich selbst erzeugendes System, das sich den Intentionen und Ideen der Schriftsteller entzieht, diesen aber durch Interaktion Regeln für die Performance aufgibt. Das Ergebnis liest sich wie Mikroprozesse, öffnet Räume, lässt den Gedanken in alle nur möglichen Richtungen enteilen, lädt den Leser ein, sich die Welt auf diese, jene oder noch eine ganz andere Art zu deuten. Und im besten Fall suggeriert sie ihm, dass sich auch sein eigenes Leben zuletzt wie ein Text verhält, vielfältig ausdeutbar, ein unendliches Spiel von Deutungen. Literatur ist wahrscheinlich der letzte Ort, an dem Grenzen noch aufgehoben werden können.
Figurenaneignungen oder Motivverwandlungen sind ein gängiges und legitimes künstlerisches Verfahren. Wenn Neues entsteht, hat sich Literatur immer schon selbst verdaut. Bewusstes Distanzschaffen zwischen sich und der Aussenwelt ist Grundakt menschlicher Zivilisation. Nicht denunziatorisches Pathos, sondern ironisch gebrochene Poesie prägt diese Art von Literatur. Die Basis für die analysierende Kombinatorik der Poeten und die schöpferische Fantasie der Schriftsteller ist die Poesie im Zeitalter ihrer permanenten Uploads.
Sprache ist nicht mehr das Zeichensystem, das die Welt nach ganz eigenen und von den Bedürfnissen ihrer Benutzer bestimmten Regeln ordnet, vielmehr steht jedes Wort zugleich für die Sache, der es den Namen gibt. Man verheddert sich nicht in veralteten Dichotomien von traditionell oder zeitgenössisch, lokal oder global. Auch gibt es keine Zonen des Schweigens mehr: Alles hätte einen Namen, und nichts kann sich ins Dämonische auswachsen, nur weil die Sprache dafür fehlt. Die Sprache wäre wieder im Zustand der Unschuld.
Ein zeitgemässer Poet muss sich vom hohen Ross der künstlerischen Freiheit an das Krankenbett der Wirklichkeit begeben. Er sollte in empfindlichsten Bereichen der Sinneseindrücke mikrotonale Strukturen ebenso ergründen, wie feinste Übergänge oder neue Ordnungen von bekanntem Material, welche überraschende Verschiebungen in der Wahrnehmung bewirken.
Eine Computertastatur transformiert Gedanken. Das Netz ist wundersames Neuland, das zu entdecken eine Voraussetzung hat: Hemmungslosigkeit. Nicht jedoch: Disziplinlosigkeit. Poesie oszilliert zwischen phonetischen, piktografischen und onomapoetischen Formen. Es entsteht eine Wucherung der Simulakren, die Bejahung als fatale Strategie der Subversion, um eine von Bedeutung befreite Sinnlichkeit, die im System der Medien nicht zu haben ist; im Netz selbst schon. Wer zwischen Bites und Bytes schreibt, räumt sich Platz für Hyperlinks ein. Wer auf der Datenautobahn genügend Platz und Speicherkapazität hat, kann auf Distanz zum unmittelbar Andrängenden gehen, selbst und besonders dann, wenn er über Bedrängendes schreibt. Hypertexter benutzen das Eigentümliche der Sprache, die sich bloss um den Hyperlink kümmert, eine Welt für sich ausmacht.
Worte in den Ruinen der Sprache suchen. Die nichtalphabetische Sprache entwickelt sich zu einem eigenen Genre. Ihre Bausteine sind non–linearity, auto–generation, inter–action und networking. Schrift findet sich auf dem Mobiltelefondisplay, auf elektronischen Billboards und als Wap–Message, als elektronischer Datensalat oder aleatorischer Metabrowser. Sie bedient sich grafischer Oberflächen, die verfremdet, travestiert, ausgebeutet und buchstäblich überschrieben werden. Diese lettristischen Interventionen verfolgen die Idee des visuellen Bild–Gedichtes als Crossover aus Bildschirmschoner und konstruktiver Kunst. Sprache ist in der E–Poetry nur ein Element unter vielen. Nur eine Maschine kann einen Endlossatz in beide Richtungen gleichzeitig schreiben, die Schrift dabei immer kleiner werden lassen und auf Bewegungen des Publikums reagieren, das den ganzen Vorgang für Sekunden aufhalten kann, sobald es sich rührt.
Assoziations–Blaster. Im Netz tritt uns die absolute Literatur in ihrer ganzen Kühnheit entgegen: verantwortungslos, verwandlungsfähig, durch keine juristische Identitätskontrolle dingfest zu machen. Anspruch dieser Literatur ist, Begriffe, die selbstverständlich geworden sind, zu hinterfragen und Realitäten so zu beschreiben, dass der Gewohnheitsvorhang zur Seite geschoben wird, damit man dahinter schauen kann.
Eine der wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lautet: andere Kulturen in ihrer Tiefe zu verstehen. Zu begreifen, wie menschliches Leben sich nicht nur ausdrückt, sondern von der Sprache geformt wird. Es handelt sich um ein Ringen um Demokratisierung und Anerkennung anderer Traditionen. Heutigentags ist es nicht mehr möglich, jemanden mit Sprache zu erschrecken.
Rätsel können aufklären, auch wenn sie ungelöst bleiben. Denn es ist die Arbeit am Geheimnis, das Setzen, Ent– und Versetzen von Sprach– und Tonzeichen, wodurch Dynamik entsteht. Erkenntnisse erwachsen aus dem Zusammenspiel von Momenten, nicht aus einer wie auch immer gearteten Gesamtbedeutung. Die langweiligen Momente aus dem Leben herauszuschneiden, das ist Poesie.
Poesie gestattet eine grosszügige Sprachidentität, eine lebendige Vielfalt und die Nähe zu einem erdigen Sprachgebrauch. Sie ist eine Quelle erwünschter Vieldeutigkeit, eine Einladung zu Sprechlust und Sprachwitz. Und gibt sich dort zu erkennen, wo wir über das ästhetisch–sinnliche Erlebnis an unsere Möglichkeiten als geistbegabte Geschöpfe erinnert werden, hat etwas mit dem Bedürfnis zu tun, an unsere Grenzen zu gehen. Und mutet uns eine Anstrengung zu: über den Horizont hinauszublicken.
Über den Verlust der Schriftkultur reflektieren vor allem die, die sie noch nicht verloren haben. Es braucht keine Einheitsorthographie von der Maas bis an die Memel. Der Autorbegriff wandelt sich nicht in Kategorien wie das Authentische, das Negative oder das Plötzliche, wie es die Theorie gebietet. Der sinnstiftende Text beginnt immer mehr in den Hintergrund nurmehr im Kontext von Bildern zu wirken, Worte selbst werden zum musikalisch gestalteten „Material“. Raymond Federman definiert das Schreiben in erster Linie als Zitieren.
Intellektuelle Abrissarbeiten, in Differenz zu allem stehen, was man denken kann: Identität, Wahrheit, Empirismus, Idealismus, Materialismus. Man muss ergebnissoffen eine Art dichter Beschreibung vorführen, den Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven anblicken, ohne sofort und zielstrebig eine zu favorisieren. Mit einem Perspektiven–Pluralismus, der einseitige Wertungen unmöglich macht, eine gewisse Ratlosigkeit der Textur zur Stärke werden lassen.
Der Schriftsteller ist immer Plagiator, und sein Text gehört wiederum allen, lautet die Grundüberzeugung; im Zeitalter des Internets besteht seine Aufgabe vor allem aus den drei Tätigkeiten „surf, sample, manipulate“. Sich von Lesern sagen zu lassen, was man gemeint haben könnte, ist ein Verfahren der erweiterten Selbstinterpretation, das möglicherweise hilft, die Stimmen im Echoraum des Kopfes nachträglich zu sortieren. Kunst ist eine Sprache zur Translation von Ideen, die Umkehrbarkeit von Text–als–Bild und Bild–als–Text.
In einer Gesellschaft, in der ausschliesslich die merkantile Verwertbarkeit zählt, werden Poeten immer mehr an den gesellschaftlichen Rand abgeschoben. Die meisten Poeten zeigen nach aussen eine gesellschaftsfähige Persönlichkeit und vermitteln den Eindruck von Reife. Aber wenn sie sich zurückziehen, werden sie wieder zu Kindern. Befreit von den Zwängen des Erwachsenseins, können sie einem extrem ernsthaften Spiel nachgehen: Poesie schaffen. Poesie ist kein Werk der Natur, kein Werk des Zufalls und kein Werk der Literatur–Wissenschaft.
Durch eine Welt der Wortfenster erblickt man die poetische Sprache. Das Reinigen und Klären der Form hat etwas Protestantisches. Ein Schriftsteller sollte vollständig hinter seinem Werk verschwinden, doch dazu gehört Demut. Das eigentliche Leben, sofern es ehrenhaft ist, führt zum Schreiben, und das Schreiben, sofern es wahrhaftig ist, zum wirklichen Leben in einer wirklichen Welt.
Es geht ihnen bei dieser Art von Poesie darum, neue Denk– und Gefühlswelten zu entwerfen und die Subjektivität zu dekonstruieren. Dichter können die grössten Wissenschaftler werden, weil sie die Magie der Dinge erkennen, das Chaos ordnen, seine Prinzipien verstehen wollen, nicht aber das Unerklärliche pseudorational planieren – das sollte die Aufgabe für das 21. Jahrhundert umreissen.
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Weiterführend →
Hörproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst in in: MATRIX_45_3. KUNO dankt dem Herausgeber Traian Pop.