Rheintor · Rückblick

Was ist uns Kunst wert – und was besagt das über ihren Marktpreis?

Was die Artisten dieser Reihe verbindet, ist der Rhein. Alles im Fluß, in Fluß. Es begann ganz lässig mit dem Kunstprojekt Drei über Wasser 1989, im Rheintor trafen sich auf Einladung von Klaus Krumscheid: Peter Meilchen, Jürgen Diehl und Martini mehrere Tage, um eine Ausstellung vorzubereiten. Danach folgten der Beginn der Reihe UnderCover und der ganzjährige Ausstellungszyklus Rheintorprojekt, kuratiert von Klaus Krumscheid und A.J. Weigoni.

Ein Rheinblick von Klaus Krumscheid

Neue Formen eines Miteinanders ausprobieren und füreinander agieren

Man muß diesen Zweifel nicht unbedingt teilen, aber etwas mehr Zweifel täte dem Kultur-Betrieb gut. In seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz hatte Walter Benjamin noch mit Verwunderung die Tricks notiert, mit denen man einem Darsteller einen glaubwürdigen Schrecken ins Gesicht zauberte: indem man „ohne sein Vorwissen in seinem Rücken einen Schuss“ abgefeuert hat zum Beispiel. „Das Erschrecken des Darstellers in diesem Augenblick kann aufgenommen und in den Film montiert werden.“ Nichts zeige drastischer als dies, so Benjamin, Daß „die Kunst aus dem Reich des ,schönen Scheins‘ entwichen“ sei. Der schöne Schein, möchte man ihn denn von der deutschen Klassik her begreifen, das ist der Triumph des Spiels über die Technik, die Autonomie der Kunst vor den Gesetzen der Realität. Method Acting feiert dagegen einzig die Kraft des Machbaren. Der Star-Virtuose verdient seinen Ruhm mit der Reproduktion von erkennbaren Klischees.

Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt.

Adorno 1949

Der Bewertungsfeuilletonismus klammert die ökonomischen Bedingungen der Kulturproduktion schamvoll aus. Die gehypten Künstler liefern ihren Auftraggebern die medienwirksame ästhetische Überraschung, die sie erwarten, und veredeln diese mit ihrer Signatur. Ergebnis ist nicht zuletzt eine neue gesellschaftliche Rolle der Literatur, glamourös und affirmativ zugleich. Ergebnis ist allerdings auch eine erhebliche Verwirrung, weil die Literatur, mit denen das Publikum tagtäglich mit immer scheinbar neuen Sensationen überflutet wird, alles möglich und paradoxerweise auch alles gleich erscheinen lassen. Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als sie mit einer Tradition der Moderne bricht, die in eine ganz andere Richtung weist: in Richtung der Zurückhaltung, der Reduktion, des Schweigens, der Banalität. Ihre Storys funktionieren so nach Regeln. Erste Regel: Du hast nicht länger als drei Sätze Zeit, um dem Leser plausibel zu machen, warum er deine Geschichte lesen soll. Zweite Regel: Keine Ablenkungen, wenn der Leser an der Angel ist. Dritte Regel: Jede Story mit einem Plot ausrüsten, die auch für einen Roman gut genug wäre – offene Enden unterminieren die Kreditwürdigkeit des Autors. Vierte Regel: Jede Ausnahme muß besser funktionieren als die Regeln eins bis drei. Die Affirmatiker verwechseln das Einfache mit dem Simplen, der Zwang zur Einfachheit bedeutet keine kulturelle Armut, wenn wir uns bemühen, so viel Schönheit als nur möglich einzufangen. Der bewußte, dramatische und vielleicht auch irreversible Bruch mit der Möglichkeit, sinnhaft mit Bildern umzugehen, wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen: nicht von einem Literaturwissenschafter, sondern von einem Literaten.

Frühes Dokument der kulturellen Krise

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

1902 veröffentlichte Hugo von Hofmannsthal in der Berliner Tagespresse den fiktiven Brief von Lord Philipp Chandos an Francis Bacon, in dem er die Leere hinter den Worten als Folge der Vertreibung aus dem Paradies des Sprachvertrauens schildert und das Schweigen als einzig möglichen Ausweg suggeriert. Seitdem war dieses Schweigen oder zumindest eine dem Schweigen nahe kommender Reduktion das zentrale Leitbild der Moderne. Ein knappes Jahrhundert später ist die Moderne nicht mehr ganz so modern, wie sie einmal war. Von einigen ihrer Prinzipien mußten und müssen wir uns verabschieden. Es erweist sich, daß die moderne Literaturförderung ein Unternehmen von abgrundtiefer Dialektik ist und der Literatur ebenso sehr schaden kann, wie sie ihr zu nutzen meint. So hat das rein formale Verhältnis zur Literatur zur Folge, daß der Literaturbegriff immer wieder allzu eng an die Kunst, also an die Sphäre der freien Selbstentäußerung des bürgerlichen Subjekts gebunden ist. Es entsteht durch die enge Bindung des Literaturbegriffs ein Konzept des Verantwortungslosen, Verschwenderischen, der subjektiven Selbstentäußerung, das verhindert, daß ganze Bereiche der Literaturproduktion überhaupt noch als solche erkennbar sind. Würde man statt dessen mit einem Kulturbegriff arbeiten, so wie er noch im frühen zwanzigsten Jahrhundert, also etwa bei Georg Simmel, Siegfried Kracauer oder Walter Benjamin, Gemeingut war, wäre es völlig selbstverständlich, in den Visionen der Wirtschaftsführer die vulgär gewordene Lebensphilosophie, das vitalistische Gerede von Wesen und Wille, von Herausforderung, Kraft und Durchbruch, kurz: ganz gewöhnliches gesunkenes Kulturgut zu erkennen.

Die Moderne bleibt unvollendetes Projekt

Jorge Luis Borges, Porträt: Pepe Fernández.

Jorge Luis Borges hat all das mit seiner allumfassenden »Bibliothek von Babel« analog vorweggenommen: die Verbindungen zwischen dem dezentralisierten Internet von YouTube, Blogs und Wikipedia – dem sogenannten Internet 2.0 – seine Erzählungen lassen den Leser zu einem aktiven Teilnehmer werden. Jorge Luis Borges‘ Phantasie läßt einen vollständig digitalisierten und allgemein verfügbaren Mega-Textkorpus erkennen, von dem einige Professoren der Computerwissenschaften träumen. In „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ wird die anonyme Wissensgemeinschaft der Wikipedia vorweggenommen, in „Funes“ die Idee des „Life-Loggers“ Gordon Bell, der mit einem Audiorecorder und einer winzigen Kamera um den Hals, die alle sechzig Sekunden ein Bild produziert, ein manisches Alltagsprotokoll erstellt, um es in digitalen Speichern aufzubewahren. Für den Argentinier haben sich die Dinge immer wieder in einander gegenüberliegenden Spiegeln aufgelöst, die Nähe der Wikipedia zur Bibliothek von Babel liege auf der Hand: Man setzt tausend Schimpansen an die Schreibmaschine, und irgendwann kommt King Lear heraus. Das Weltnetz ist voller Cy-Borges, sie erkennen Zeichen, wohin man blickt.

Die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist das Ziel der Kunst

Oscar Wilde

Hochwasser, Collage von Klaus Krumscheid

Die Artisten des Rheintorprojekts interessierten sich für eine Kunst, die nicht illustriert, sondern anders politisch relevant ist. Klaus Krumscheid, Andreas Noga, Charlotte Kons, Joachim Paul, Stephanie Neuhaus, Birgit Jensen, Francisca Ricinski, Almuth Hickl, Swantje Lichtenstein, Dietmar Pokoyski, Enno Stahl, Jesko Hagen, Haimo Hieronymus, A.J. Weigoni, Denise Steger, Peggy Neidel, Katja Butt, Heidrun Grote, Jürgen Diehl, Bernhard Hofer, Peter Meilchen, Holger Benkel, Theo Breuer, Thomas Suder und Stan Lafleur pflegen die Kunst des Unmöglichen. Es sind Künstler, die sich für Lebensentwürfe und das Zusammenleben interessieren und nicht für standardisierte Wege. Diese Art zu arbeiten, befreit diese Artisten von der Massenidentität, die gerade in der globalisierten Gesellschaft entsteht. Sie experimentieren mit allen möglichen Formen des Fragmentarischen, der Multiperspektivik.

Das Rheintor war ein Ort der Aufklärung und Selbstreflexion.

 

 

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Rheintor, Linz – Anno Domini 2011, Edition Das Labor 2011. – Limitierte und handsignierte Auflage von 100 Exemplaren. – Dem Exemplar 1 – 50 liegt ein Holzschnitt von Haimo Hieronymus bei.

Rheintor, Photo: Klaus Krumscheid

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Bei KUNO präsentieren wir Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten, wobei das Denken von der Sprache kaum zu lösen ist. Einen Essay zur Rheintorreihe finden Sie hier.

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