Hörspiel als Spiel

Vorbemerkung der Redktion: 200 Jahre alt wollte sie werden. Zum ersten Geburtstag, den KUNO ohne sie feiern muss, beleuchtet A.J. Weigoni ein Stück Mediengeschichte.

Mit der Industrialisierung begann das Zeitalter der Kurzgeschichte. Damit war die Geschichte des bürgerlichen Bildungsromans beendet. Wenn die Geschichte der Medien die Geschichte einer Konkurrenz ist, begann sie mit einem Vorsprung. Die Dichter hatten die Montage entdeckt, als die ersten Fotografen noch Stunden brauchten, um ein einzelnes Bild zu entwickeln. Es war, als hätte die Literatur den Film erahnt, und als er kam, genossen sie gemeinsam den Rausch der sich überstür­zenden Eindrücke. Das Drehbuch wurde erfunden, später der Rundfunk mit dem Hörspiel begrüßt. Von den so genannten ›Neuen Medien‹ ist das Radio der Vorläu­fer all dessen, was wir an Angeboten im Netz finden. Er ist eine medienarcheologi­sche Reminiszenz, dem Echo des ›Neuen Hörspiels‹ der späten 1960er Jahre nach­zulauschen.

Fünf Mann Menschen

Photo: Peter Paul Wiplinger

Die gerade installierte Stereophonie regte Friederike Mayröcker und Ernst Jandl zu einem Spiel mit Wörtern und Hörkonventionen an: Fünf Mann Menschen. In die­sem Hörspiel haben sie gemeinsam mit dem Regisseur Peter Michel Ladiges erstma­lig die Möglichkeiten konkreter Poesie akustisch umgesetzt.

Parodie erweist sich als ein Vorgang des Heranholens. Jandl / Mayröcker zeigen in Fünf Mann Menschen exemplarische Sprach– und Handlungsvorgänge, in denen der zur Norm programmierte menschliche Lebenslauf hörbar wird. Im Schnell­durchlauf laufen zentrale Lebensereignisse durch: Von der Geburtsklinik über El­ternhaus, Schule, Kino, Berufsberatung, Kneipe, Militär, Krieg, Spital, Gericht, Ge­fängnis, Erschießung … und wieder zurück zur Geburtsklinik, diesmal in der Vater­funktion, denn: Solange es Kinder gibt, wird es Kinder geben. So entsteht in Fünf Mann Menschen das ironisch simplifizierte Modell eines an Bürokratien und inhu­mane Verhaltenszwänge ausgelieferten Daseins.

Leichtigkeit

Völlig zu Recht wurde dieses Hörspiel daher 1969 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. In der Dankesrede anlässlich der Preisverleihung sprach Jandl vom Produktionsvorgang selbst. Der Meister erklärte, dass der Schreib­prozess »Leichtigkeit« enthalten muss. Dieser Anteil von ›Leichtigkeit‹ war beim gemeinsamen Schreiben mit Friederike Mayröcker gegeben; er sei notwendig, damit das Produkt des Schreibvorgangs – das Hörspiel – in der Lage ist, sich von selbst zu ›verbreiten‹, von selbst zum Publikum zu finden. Die Gemeinschaftsarbeit sei ein »Kontrollsystem«, schrieb Jandl, dies bezeichnete er neben der Stereophonie als ei­gentlichen »Ansatzpunkt zu diesem Hörspiel«.

Distanz

Als das Fernsehen sich breitmachte, fand es die Schriftsteller bereits in skeptischer Distanz. Multimediales Spiel mit Video, Performances und Installationen dachten Maler und Musiker sich aus, deren Zaungäste manchmal auch Dichter waren.

Der Videoclip, ein durch Bildschnitt und Rhythmus bestimmtes Medium, überholte sie alle. Trotzdem verweigert sich die Wortkunst seiner Inspiration. Es scheint, dass sich die Literaten vom flüchtigen ästhetischen Reiz nicht den langen Atem rauben lassen wollen. Uns ist diese kurze Form einen Versuch wert. Schon weil sie sich an einem anderen Ende der Welt vollkommen unverdächtig bewährt hat: im japani­schen Haiku. Haiku sind einfache Sätze. Beobachtungen, in denen fast nichts passiert. Nur dass gerade ein Frosch ins Wasser springt. Das Haiku bedeutet nichts und wirkt trotzdem.

Nach einer Minute ist alles vorbei

Zwischen der Leere des Zen–Spruchs und dem hysterischen Rhythmus des Video­clips ist eine Form zu entdecken, die sich hören lassen kann. Nur so kann Literatur, will sie auf die veränderten medialen Verhältnisse und die dadurch erzeugten Wirk­lichkeiten reagieren, einen innovativen Input erhalten und letztlich eine weitere Existenzberechtigung. Mit der Digitalisierung beginnt das Zeitalter des Literaturclips. Nach einer Minute ist alles vorbei. Umschalten. Dann kommt die nächste Story.

Top 100 · 99 Bagatellen

Eine Generation nach Jandl / Mayröcker produzierte ich mit Tom Täger vom Ton­studio an der Ruhr, dem SFB und dem ORF ein Hörspiel als Spiel. Top 100 ist die ironische Antwort auf unsere Hitparadenkultur. Wo auf überkommene Formen ver­zichtet wird, muss eine neue Logistik gefunden werden. Kurzhörspiele, die in maxi­mal einer Minute erzählt werden und den Fragmentarismus unserer Zeit spiegeln.

Es sind Literaturclips entstanden, die Sounds, Musikminiaturen, und Wortfelder beinhalten. Poetische Momente treffen auf industriellen Lärm, Licks auf Lyrik, Grooves auf Gebrummel. Gefragt sind die Idee pur ohne chemische Zusätze, der flüchtige Moment und kein bombastischer Furz. Künstler aus verschiedenen Sparten treffen aufeinander, arbeiten zusammen, aber auch gegeneinander. Daraus entstehen Werkgruppen, die ineinander verflochten sind: Hörspiel als Bagatelle, triviale Ma­schinen, Streetsounds, Hörspiel als Rough’n’Roll und das Hörspiel als Spiel.

99 Bagatellen warten auf ihre Umsetzung, um dann durch den Hörer neu umgesetzt zu werden. Mit dem Zufallsgenerator im CD–Player entsteht das digitale Hörspiel – immerfort als Würfelwurf.

Coverphoto: Georg von der Gathen

PS Stellen Sie vor dem Einschalten des CD–Players die Funktion ›Random‹ oder ›Shuffle‹ ein. Der Zufallsgenerator komponiert dann das eigentliche Hör–Spiel. Das chrono­logische Abhören von Top 100 ist aus künstlerischen Gründen nicht gestattet.

 

 

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Weiterführend  „Nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens“. Eine Erinnerung von Peter Paul Wiplinger. Friederike Mayröcker ist nun doch keine 200 Jahre alt geworden, ein Rezensionsessay von Holger Benkel. Über allem liegt die Melancholie des Erinnerns, Andre Schinkel erinnert an den Band ich sitze nur GRAUSAM da. Axel Kutsch über die Verhaltensweisen und Wahrnehmungen, aus denen die dichterische Kraft erwächst, das poetische Kleinod „Von den Umarmungen“. Friederike Mayröcker verknüpfte ihr Schreiben mit einer Dimension, die über die Wirklichkeit, die sie vorfindet, hinausgeht: „Im atmenden Alphabet“, eine Hommage von Theo Breuer.