Am Cover ist eine blühende Geranie im Fenster eines alten Hauses in Haslach, Wiplingers Herkunftsort, zu sehen. Ein Foto des Autors. Was sieht man durch dieses kleine, dunkle Fenster, was sieht man von einem Aussichtsturm? Nicht viel, wenn die Landschaft bereits im Abendnebel liegt, wenn die Sehkraft eingeschränkt ist. Aber der Aufstieg und der Abstieg, die Bewältigung der vielen Stufen des Turmes sind ein lohnendes Erlebnis. Mit dieser weisen Metapher beginnt der Gedichtband.
entweder erreichen mich worte / oder sie erreichen mich nicht / entweder berühren mich gefühle / oder sie berühren mich nicht, schreibt Wiplinger in einem Gedicht über moderne Poesie. Je länger man in seinem neuen Gedichtband liest, umso stärker wird man berührt. Es ist die pure Realität, ungeschönt und unsentimental, um die es geht. Und es bleibt nur die Einsicht, dass alles so ist wie es ist, Bruchstück. …die aussage entspricht / der Wahrheit der wirklichkeit….und was in wirklichkeit ist / darum geht es im gedicht (DIE WAHRHEIT IST DER FALL).
Wiplinger ist ein permanent Schreibender, so scheint es. Er schreibt von Wörterkaskaden am frühen Morgen, vom Erwachen der Wörter, von Wörterregen bei Tag und bei Nacht, zu jeder Jahreszeit. Du mußt / die wörter / hinterfragen // unerbittlich / unverzeihlich / unermeßlich // die wörter übersetzen / in ihre bedeutung / in ihre wirklichkeit // das ist die voraussetzung / um ein gutes gedicht / zu schreiben. Manchmal besteht ein Gedicht zum Großteil aus Substantiva, untereinander gereiht auf rhythmische Weise. Eine Beschwörungsformel. Denn unter jedem einzelnen Wort tut sich eine Fülle an Bedeutungen auf. Nichts wird zerredet, die Wörter fallen wie der Hammer, der die Sense schärft.
Die existenzielle Frage wird gestellt: was hat das alles mit mir zu tun, die Kriege, die Massaker, verrückte Politiker usw., und es gibt keine Antwort darauf. Aber die Frage bleibt bestehen und wird immer wieder gestellt. Es sind harte Abrechnungen eines Menschen, der seinem Alter und ernsten gesundheitlichen Problemen jederzeit ins Auge blickt und sich über seine ‚Aussichten‘ keine Illusionen machen will. Trotz aller Konsequenz, der ‚Wahrheit der Wirklichkeit‘ verpflichtet zu sein, bleibt vieles im Leben im Ungewissen. Die sich aufdrängenden Erinnerungen werden ebenso schonungslos beurteilt wie das Tagesgeschehen. Verluste, der Tod von Eltern und Geschwistern, verlieren nicht ihre Bitterkeit. Alles kommt zur Sprache in seiner aufreibenden Alltäglichkeit, die Sprache trägt das Leben wie die Stufen des Aussichtsturms, hinauf und hinunter. Sprache – das intensive Suchen nach Antworten im Bewusstsein, dass Antworten auf die wichtigsten Fragen nicht zu erwarten sind.
52 Buchpublikationen gibt es von Wiplinger, eine unvorstellbare Anzahl an Wörtern, Empfindungen und Gedanken, ein in Sprache gegossenes Leben, immer von schonungsloser Authentizität. Unter jedem Gedicht ist das Datum seiner Entstehung verzeichnet. Eine dichte Dokumentation.
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AUSSICHTEN, Gedichte 2020-2021 von Peter Paul Wiplinger edition pen LÖCKER
Weiterführend → Lesen Sie auch die Essays Über den Zustand der Liebe in lyrischen Texten und Poetik des Humanen über Peter Paul Wiplinger.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.