Jean Gionos Lächeln zu erwidern, fiel mir schwer. Er schaute, als er das Fenster öffnete, hinab in die Tiefe des Mittagsschattens, seine Augen fanden mich, und als er in die Schwärze seines Zimmers schräg über dem Eingang des kleinen Hotels zurücktrat, fühlte ich seine Augen unter meinem Schädel. Sie schaufelten die Gegenwart weg, siebten den Sand meiner Gedanken. Eine Kraft zog mich hinüber auf die andere Straßenseite. Ich las die zierlichen Schriftzüge in Orange auf der Elfenbein-Fassade: Hôtel du Dragon, und indem ich die blau gestrichene Tür öffnete, stolperte ich über die Schwelle in den Flur der Rezeption und war für einige Augenblicke blind, bis ich den schimmernden Bildschirm auf dem dunkelbraunen Sekretär erkannte, der den Zugang zur schmalen Treppe halb versperrte. Die oval gewundenen Stufen waren in einen dunklen Schacht hineingefaltet. Ich schlug auf die Glocke.
Der Portier schlug das Terminbuch auf: „Monsieur Janus Rippe … chambre numéro 1.“
Ich war allein unterwegs, wollte nur zwei Tage in Paris bleiben, um im Marmorboden der Église Saint Sulpice die Messinglinie zu sehen, die von Süden nach Norden bis in die Spitze des Obelisken führt. Der Gnomon Astronomicus ad certam Paschalis Aequinoctii Explorationem, ein Bild der Zeit, war eine fixe Idee, die mich seit meiner Kindheit verfolgte. Mich interessierte die messbare und die unmessbare, die äußere und innere Zeit, die Zeit der Physik und die Zeit der Seele, die der Körper maß. Der Gnomon stand als konkretes Bild meiner Selbstkontrolle, meines Ichs. Diese individuelle Physik betrieb ich beim Lesen der Romane, wenn ich die pro Stunde gelesenen Seiten zählte oder wenn am Schluss des Buchs die beim Lesen erschaffene Zeit auf einmal abstürzte und eine neue Zeit begann, die die alte Zeit war, die vorher galt, jetzt aber schon vergessen war, verblasst und unbewusst fremd geworden. Dann begann eine neue Zeit oder der Ausstieg aus der Zeit, indem ich einschlief. Aber die Zeit war auch jetzt nicht tot, nur gelähmt, die Messung stand still, das Erleben der Takte und Intervalle schwieg, denn wenn der Stillstand in die Unendlichkeit fällt, scheint sich die Zeit aufzuheben, als legte sie sich schlafen, um Kraft zu gewinnen für die Zeit nach der Unzeit. Dafür rasten nun, während ich schlief, die Bilder, die erst in der Erinnerung an die Träume ihre Zeit gewannen, eine Zeit neben der Zeit, oder auch eine Zeit in der Zeit, hineingeschachtelt in die Lichtlosigkeit. Ich dachte an die Serpentinentreppe im Hôtel du Dragon.
Ich verließ, nachdem ich meinen Koffer ausgepackt hatte, das Zimmer, stieg auf der dunklen Treppe hinunter ins Helle, legte meinen Schlüssel auf den Sekretär, durchquerte den Flur und trat durch die geöffnete blaue Pforte auf die Rue du Dragon.
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.