Wer ein Fan des Schweizer Erfolgsautors ist, wer seine spektakulären historischen Romane wie „Das Gold der Kelten“, „Der Henker von Paris“ oder „Der Bankier Gottes“ gelesen hat, wer seinen jüngsten Mahnruf zur drohenden Epidemie „Genesis. Pandemie aus dem Eis“ gehört hat, der wird sich schon in den Eingangspassagen seiner „Botschaft an Elodie“ verwundert die Augen reiben. Ein Hotel mitten in einer Wüste, ein verwunderter Ich-Erzähler auf der Suche nach einer gewissen Elodie, die niemand in diesem Hotel California kennt, ein Empfangstresen, hinter dem eine gewisse Penelope-Desiree auftaucht, die ihn in die Geheimnisse des Hotels einweiht, ein uralter Mann, der mit einem Gewehr auf der Treppe sitzt, um ein imaginäres Biest zu töten und nicht zuletzt Don Henry, ein Zimmerkellner, der Wein in Flaschen serviert, weil alle Gläser zerbrochen sind, so wie die Hoffnungen der Hotelgäste, die schon längst verschwunden sind. Und dennoch lässt sich Claude nicht abschrecken auf der Suche nach seiner Enkeltochter Elodie. Seine Entdeckungsreise durch das abgewrackte Hotel besteht aus Wutanfällen, überraschenden Begegnungen im Indoor-Pool und unerwarteten Einblicken in einen Speisesaal, in dem niemand diniert, und einer überraschenden Begegnung mit Penelope, die ihm mitteilt, dass ein Herr Dachs und eine Frau Dr. Fuchs sich nach Claude erkundigt hätten. Doch der sitzt im nächsten Augenblick in einem schwarzen Mercedes-Benz, singt „play with me in Mendocino“ und wird plötzlich von einem Erdbeben durchgeschüttelt. Es ist einfach verrückt, was Claude im ständigen Wechsel der Szenerien erlebt und auf diese Weise seine Leser*innen immer wieder verwirrt. Und diese Verwirrung ist umso größer, als er plötzlich der abwesenden Elodie eine sozialpsychologische Analyse der amerikanischen Gesellschaft entwirft: „Wir leben zurzeit in einer infantilen Gesellschaft, die stets gekränkt, überfordert, wehleidig und im Grunde genommen lebensuntauglich ist. In meiner Muttersprache bedeutet ‚gaté‘ sowohl verwöhnt als auch beschädigt.“
Unterdessen aber geht der geisterhafte Spaziergang durch das Hotel California weiter. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine Neonatalogin auf und klärt Claude über die Praxis der Aufzucht von Embryonen außerhalb der Gebärmutter auf; ein kleiner Mann tritt aus der Wand und teilt Claude unvermittelt mit, dass er die Versicherungspolice Nr. 1745.6732.7323 habe. Seine Agentur verfüge über alle Chips und habe nun nicht nur Zugriff auf seine Krankheitsgeschichte, sondern sie wisse auch, wie viel er und seine Familie der Versicherungsagentur kosten würden. Und dann folgt der nächste Szenenwechsel. Claude liegt irgendwo südlich von San Francisco inmitten eines Gebüschs, hört dem Gesang einer Gelbschnabelelster zu, die ihm „We had joy we had fun, we had seasons in the sun …” in seine Ohren trällert. Claude fragt sie unvermittelt nach Elodie, und erhält wieder eine verblüffende Antwort. Sie sei drei Kilo schwer und müsse noch etwas wachsen. Und schon folgt der nächste Gedankensprung. Claude befindet sich mitten in der Welt der Börse, denn Elodie, o Wunder, ist eine versierte Maklerin, die ihm so ganz nebenbei die Funktionsweise der Finanzwelt erläutert, sich plötzlich verabschiedet, weil ein Sturm aufkommt und die Elster noch ihr Nest bauen müsse.
Auch in den abschließenden Kapiteln 17 und 18 geht es zu wie auf dem Jahrmarkt der verlorenen Orientierungen. Mal wandert Claude auf Empfehlung eines Ziegenbocks durch Malgrovenwälder in Tansania, mal findet er sich in der Wartehalle des Long Beach Airport im Süden von Los Angelos wieder, mal im Cockpit eines Düsenjets, mal kreisen seine Überlegungen um die Ursachen der Pandemie, dann spürt er den raschen Zerfall seines Körpers, wacht aber wieder am Ausgangspunkt seiner surrealen Schwindeleien im Death Valley auf, nimmt noch den Tod seiner Phantasiegestalten wahr, hört noch den Werbespruch: Welcome to the Hotel California und … schade, dass Elodie nicht noch einmal als visionäre Gestalt auftaucht. Der Leser hätte sich diesen Spuk zu gern gewünscht, und Claude hätte für ihn sicherlich noch eine Botschaft an Elodie gehabt!
In dieses imaginäre Hotel California darf sich jeder einchecken, doch verlassen kann er es niemals – mit dieser Warnung wird der Leser in ein Labyrinth geschickt, das aus Täuschungen, Überraschungen, Zerrbildern und Wahnvorstellungen besteht. Er wird damit einer illusionären Bilderwelt ausgesetzt, mit der er an und für sich Tag für Tag konfrontiert ist, allerdings mit einem krassen Unterschied: Die Trugbilder aus der phantasiegeladenen Warenwelt erreichen ihn in einer überschaubaren Reihenfolge, ohne ihn in einen Zustand der psychischen Verwirrung zu versetzen. Die „chaotischen“ Zustände im Hotel California erweisen sich somit als komprimiertes Abbild einer aus dem Ruder gelaufenen Welt, in der ein gewisser Claude seiner Enkelin Elodie etwas mitteilen will, die ohnehin die Ironie ihres Daseins begriffen hat, weil sie, eingeweiht in alle Finanzbetrügereien, weiß, dass es keine andere Hölle als ihre Welt gibt. Ein amüsantes Lehrstück also über den illusionären Umgang mit unseren Hoffnungen und Enttäuschungen, ein schwindelerregender Spaziergang durch eine verspiegelte Welt amerikanischer Provenienz, amüsant und voller Überraschungen!
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Hotel California. One more thing: Meine Botschaft an Elodie von Claude Cueni. München -Zürich (Nagel & Kimche) 2021.
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