Meiner teuren Mutter
Mein Vater hat mir schon so oft die Geschichte aus dem Leben meines Urgroßvaters erzählt, ich glaube nun, ich habe sie selbst erlebt … Nicht einmal der Insektenabwehrer durfte hinter dem großen Straußenwedel dem Gespräche lauschen, das mein Urgroßvater, der Scheik, allabendlich führte mit seinem Freund, dem jüdischen Sultan Mschattre-Zimt. Vom schlichten Dach des jüdischen Sultans führte eine Wolke herüber zum gastlichen Dach meines Urgroßvaters des Scheiks, des obersten Priesters aller Moscheen. Oft vergaß der Scheik sein Abendgebet zu sprechen vor Ungeduld nach seinem Freund. Der schritt nicht verspätet, nicht verfrüht über die göttliche Brücke. Sie spielten: Enti. Durch kleine Kanäle liefen die Kugeln und fielen in die Rinnen des goldenen Spiels; oder gewannen bei geschicktem Wurfe, indem sie vorher Halt machten in dem ersten, zweiten oder dritten Kreis des Bretts. Das Haften der Kugel im dritten Kreis gehörte zum Ausnahmeglück; wenn es also geschah, wußte es der ganze Palast. Die Überraschung meines Urgroßvaters machte sich in einem Lachen Luft (namentlich wenn er der Gewinnende war), welches die Wände der Säle unter ihnen erschüttern ließ. Um Mondaufstieg brachten zwei Sudanneger den beiden königlichen Freunden Getränke und übliches Rauchwerk. Der Scheik rauchte den Opium unverdünnt und Mschattre-Zimt rügte immer schärfer den Schaden des Giftes auf seines Freundes Leib.
Mschattre-Zimt besaß in seiner Sammlung außer den Blöcken der Gesetztafel des Sinaï, auch unter andern eines der Bücher Mose, ein medizinisches, naturwissenschaftliches Werk in althebräischer Schrift. Diesem verdankte er seine medizinischen Kenntnisse, mit denen er sich aber nur im äußersten Falle hervortat. Denn der jüdische Sultan war kein Menschenfreund. Und selbst über seinen Freund den Scheik äußerte er sich in gleichgültigster Weise, was aber nur aus übergroßer Vorsicht geschah.
Mein Urgroßvater hatte dreiundzwanzig Söhne, unter ihnen einen Zwilling. Der jüngste der dreiundzwanzig Söhne war mein Großvater und hieß: Schû. Der setzte sich heimlich vor den Eingang des Daches; er war Geschichtsschreiber und erhielt der Nachwelt in Bildern und Sternen, was die zwei Bärtigen miteinander sprachen. Ob Allah oder Jehovah der einzige Gott der Erde sei – wurde zum streitenden Amen ihres Abends. Wie die Kugeln des goldenen Spiels überstürzten sich schließlich ihre Worte und Gebärden. Der Scheik vergaß sich in seiner Würde so weit, daß er die Krüge der Getränke wie ein unerzogener Knabe über die Zinnen seines Daches warf, bis die Tränen vor Erschöpfung aus seinen Augen rannen. Aber Mschattre-Zimt stand aufgerichtet auf meines Großvaters Dach, seine großen, braunen Augen lächelten schüchtern. Mit einem Schweigen, über das mein Urgroßvater das Ende der Dunkelheit mit Kümmernissen sann, verließ der jüdische Sultan vor Mitternacht das Dach. Und wenn Schû am Morgen, von seinem Vater bewogen, den jüdischen Sultan schon bei der ersten Waschung überraschte, kam es nicht selten vor, daß dieser sich verschwor, niemals wieder seinen Vater zu besuchen; heimlich aber dachte er: In ganz Bagdad findet Jehovah keinen jüdischen Knecht, auf den er mit größerem Wohlgefallen blicken würde wie auf den mohammedischen Priester aller Moscheen. Denn Mschattre-Zimt bewunderte heimlich den ungezähmten Eifer seines Freundes. – An einem Feiertage der Juden zerriß mein Urgroßvater, der Scheik, der oberste Priester aller Moscheen, seine Kleider; schüttete Asche auf sein glänzendes Haar … Mschattre-Zimt war am Morgen gestorben. Der Scheik folgte zu Fuß, inmitten seiner dreiundzwanzig Söhne dem schlichten Sarge seines Freundes, der zur Ruh bestattet wurde nach seines Gesetzes Gerechtigkeit wie der ärmste der Gemeinde. Der Scheik sprach dreiundzwanzig Gebete und eins, dreiundzwanzig am Grabe des jüdischen Sultans nach seiner Söhne Zahl und eins in hebräischer Sprache zu Ehren seines Freundes. Dann wurde er schweigsam und blickte trübe wie der Himmel zur Regenzeit. Und Schû, der jüngste seiner dreiundzwanzig Söhne, saß an seines Vaters Seite, vor seiner Lippe, wie vor einem verschlossenen Tor. – –
Es war ein Jahr nach Mschattre-Zimts Tod, als es ganz geheimnisvoll an die Wand des Palastes klopfte. Mein Urgroßvater saß an der Tafel, um ihn seine dreiundzwanzig Söhne, und speiste. Die schwarzen Diener, die gegangen waren, den Gast einzulassen, sahen niemand, der Einlaß begehrte; es klopfte unaufhörlich – aber sie brachten denselben Bescheid. Da erhob sich Babel, er war der älteste Sohn der Dreiundzwanzig, aber er brachte den späten Gast nicht, der die Ruhe seines Vaters störte. Und es gingen alle die dreiundzwanzig Söhne, einer nach dem andern, durchsuchten den Palast, zerstörten das dichte Laub der Sträucher und lauerten vor der Mauer des Gartens wie Spürhunde. Aber der Scheik, mein Urgroßvater, legte sein Feierkleid an und er ließ seine Füße mit dem Öle des Tigris beträufeln. Seine Söhne folgten ihm in die unterirdischen Gewölbe der Stadt; aber die Königsmumien schliefen. Und in den Moscheen opferten ahnungslos die Priester und weihten Allah ihre Nacht. Und sie beugten sich vor dem Scheik und küßten seine geheiligten Füße. Durch die Straßen von Bagdad wehte ein klagender Wind, der kam von der Richtung des jüdischen Friedhofs her; aber die Söhne weigerten sich, auf ihres Vaters Wunsch ihm zu folgen. Er zwang sie. Denn der Pförtner des Friedhofs war ein Schläfer und die dreiundzwanzig Söhne meines Urgroßvaters mußten eine Leiter bilden von der äußeren bis herab zur Erde der inneren Friedhofmauer und über die lebendigen Stufen seiner Söhne: Babel, Mohammed, Ingwer, Bey, Nessel, Hassan, Bôr, Abdul, Hafid, Schâl, Neu, Ismaël Jildiz, Amre, Säuel, Nachod, Asra, Gyl und Gabel, Abel, Bab, Haman, Schû, gelangte der Scheik in den stillen Garten. Mschattre-Zimt war aus seinem Grabe gestiegen, um seine feinblitzende Stirne den Turban Mose – und die Hand hatte er erhoben wie er sie erhob gläubig zu seinem Gotte, wenn er den Freund vor Mitternacht erzürnt zu verlassen pflegte. Seine braunen schüchternen Augen waren aus den Höhlen getreten, verwitterte Kuppeln, rissige Synagogen. Ein Schauer ergriff den Leib des Scheiks. Versöhnend legte er den Freund zurück in seine Gruft.
In dem Tore von Bagdad ruhen eingeschnitten die Bilder meines Urgroßvaters, des Scheiks, des obersten Priesters aller Moscheen, und seines Freundes, des jüdischen Sultans Mschattre-Zimt.
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Der Prinz von Theben, ein Geschichtenbuch von Else Lasker-Schüler. Paul Cassirer, Berlin 1920
Ab 1910 wendet sich Else Lasker-Schüler allmählich von der weiblichen Erzählposition ab und lässt Jussuf – der in etwa als biblischer Joseph genommen werden kann – zu Wort kommen. Im vorliegenden ziemlich archaischen Geschichtenbuch tritt Jussuf, der titelgebende Prinz von Theben, allerdings nur in der Geschichte Abigail der Dritte auf und stirbt am Ende dieser überschaubaren Episode. Folgerichtig ist in den nachstehenden letzten drei Geschichten des Buches höchstens von dem toten Prinzen die Rede. Die erste Geschichte – Der Scheik – und die letzte – Der Kreuzfahrer – sprechen unter anderen jeweils die Sühne zwischen den Religionen an und machen somit das restliche, zumeist schaurig-schreckliche Geschehen ein klein wenig erträglicher.
„Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, sagte Gottfried Benn über Else Lasker-Schüler. Sie bewegte sich wie eine Märchenfigur durch Berlin und fiel mit ihrer exzentrischen Erscheinung auf.
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Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.