Der als Copyright der Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft erschienene Band stellt eine Auswahl der Erzählungen des russischen Schriftstellers Daniil Charms dar. Sie beruht auf der bislang vollständigsten deutschsprachigen Ausgabe Daniil Charms Alle Fälle. Das unvollständige Gesamtwerk in zeitlicher Folge, Zürich 1995. Herausgegeben und übersetzt von Peter Urban, war diese Ausgabe sehr schnell vergriffen. Die nun vorliegende Auswahl beschränkt sich, wie Urban in seiner editorischen Notiz anmerkt, „auf die erzählende Prosa, und hier auf die besten Stücke, vermehrt um etwa ein Dutzend neu entdeckter Texte. Sie verzichtet auf die theoretisch-philosophischen Arbeiten, die an anderen Orten zugänglich gemacht sind.“ (S. 331) Der an dieser Stelle fehlende Verweis auf die vierbändige deutschsprachige Ausgabe der Werke von Daniil Charms, herausgegeben im Galiani-Verlag (Hrsg. Vladimir Glozer, Alexander Nitzberg, 2009-2010), ist offensichtlich auf die stark konkurrierenden Bemühungen um eine „endgültige“ deutschsprachige Publikation der Texte von Charms zu werten, zumal sich zwischen den Herausgebern und Übersetzern beider Editionen häufig gravierende strittige Meinungen über die „Authentizität“ gültiger Übersetzungen herausbildeten. Für die vorliegende Ausgabe der „Fälle“, so Urban in der Personalunion als Herausgeber und Übersetzer, „wurden sämtliche Texte erneut verifiziert anhand der Ausgabe „Polnoe sobranie sočinenij, … Sankt-Peterburg 1997 und 2001, …, herausgegeben von Valerij Sažin.“ Sažin habe, so Urban, zwischen abgeschlossenen Texten und Fragmenten getrennt. Er ordnet die Texte, wie er selbst bekundet, unabhängig davon, „ob Fragment oder nicht, in chronologischer Reihenfolge.“ Dieser Editionsordnung folgt der Herausgeber, indem er im einleitenden Inhaltsverzeichnis nach Jahren getrennt (1927 bis 1941) alle Titel der Texte mit unterschiedlichen Genres auflistet und in den abschließenden Anmerkungen auf 32 Druckseiten minutiöse Erläuterungen zu Textstellen, Personen, Ortsnamen, etymologisch aufgeladenen Begriffen, stilistischen Varianten, Verballhornungen u.a. vornimmt.
Weitaus komplexer als die gattungsspezifische Zuordnung der Charms-Texte erweist sich eine literaturkritische und übersetzungsrelevante Bewertung der vorliegenden „Fälle“, die George Saunders, Kolumnist der The New York Times Book Review, auf dem vorliegenden hard-cover-Band so beschreibt: „Brillante, umwerfend komische, gewalttätige kleine Erzählungen.“ Es sind drei adjektivische Zuordnungen, die Urban in seiner editorischen Notiz mit den Begriffen ‚hintergründig‘ und ‚grotesk-komisch‘ belegt. Er folgt damit den Bewertungskriterien der akademischen Literaturgeschichtsschreibung, die Daniil Charms als Klassiker des russischen absurden Humors bezeichnet. Dass sie in dieser Nomenklatura nur einer überlieferten, in der Zwischenzeit obsolet gewordenen Zuschreibung folgt, kritisiert der Herausgeber Urban mit dem Verweis auf die Charms-Biografin Gudrun Lehmann. Sie habe Charms – als Daniil Ivanovič Juvačev 1905 in St. Petersburg geboren -als wahren Realisten, als Chronisten „der zunehmenden Verrohung einer Gesellschaft … [als] Chronist einer brutal voranschreitenden Sowjetisierung des Alltags“ bezeichnet. Diese beiden, in unterschiedlichen Textformen präsentierten Aspekte sind es, die der Leser beobachtet und zugleich schmerzlich-lustvoll empfindet, wenn er zwischen gebremstem Gelächter über alogische Abläufe und jähem Erschrecken auf Textpassagen stößt, die Verweise auf körperlich brutale wie auch psychisch unerträgliche Situationen enthalten. Die Lektüre der sowohl mit als auch ohne Überschriften versehenen Texte erweist sich immer dann als befreiend, wenn der prüfende Blick auf die textlichen Erläuterungen im Abschnitt ‚Anmerkungen‘ fällt, wie. „Die Geschichte Ruckrr Apprr“ aus dem Jahr 1929 (vgl. S. 18-27). Sie ist ein beredtes Beispiel für eine Mischung aus Skurrilem, Brutalem, Slapstick-Elementen, abgründigem Humor und Satirischem. Die Anmerkung zu diesem Text (vgl. S. 337) bringt nur schemenhafte Erläuterungen zu den Dialogen zwischen Andrej, Pjotr und einem durchgedrehten Professor. Auf jeden Fall bleibt die Deutung von Ruckrr-Apprr als eine Anspielung auf die 1932 aufgelöste Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller, die unter der Kontrolle der kommunistischen Partei stand.
Ein besonders auffälliges Beispiel für den bewussten soziopolitischen Normenbruch und zugleich für den groben moralischen Verstoß gegen die von der Partei vorgeschriebene Lebensweise ist ein „Paschquill“, der bewusst gegen die sexuelle Zuordnung verstößt. Der Beweis ist schlüssig: Der berühmte Rezitator Anton Isaakovič Š., eine historische Persönlichkeit, kommt nach Hause und sagt zu ihrer Frau: „Also mein Liebes, nun koch mir doch mal was Schönes mit Nudeln.“ (S. 240) Anschließend geht er zu ihrer Frau ins Bett. Der im Jahr 1940 handschriftlich angefertigte Paschquill, also in diesem Fall einer Parodie auf eine Schmähschrift, verdeutlicht die Haltung des literarischen Außenseiters. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits seit den frühen 1930er Jahren im Visier der Geheimpolizei und landet zu Beginn der 1940er Jahre in der Psychiatrie, wo er als Zwangspatient im Sankt Peterburger Kresty-Gefängnis 1942 den Hungertod erleidet.
Charms spielt auch mit dem Normengefüge des Begriffs ‚Erzählungen‘. In fünf unvollendete Erzählungen (vgl. S. 209f.) unterbricht ein Wir-Erzähler viermal den Erzählfluss und wendet sich ohne Angabe von Gründen der nächsten Geschichte zu. In der Passage 13 schlägt ein Philosoph auf eine Trommel und verkündet: „Das ist ein philosophischer Lärm“, behauptet „unsinniges“ Zeug, legt sich mit sich selbst an und will, falls es keinen Lärm geben sollte, diesen erzeugen. Doch dazu kommt es nicht, denn der Wir-Erzähler ist bereits in der nächsten Sequenz gelandet, in der der Philosoph unter Bäumen spaziert und schweigt, „denn die Inspiration hatte ihn verlassen.“ (S. 210)
Mit immer frischen Inspirationen aber werden Leser*innen versorgt, wenn sie mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und glucksendem Lachen sich von Fall zu Fall bewegen, ohne zu stürzen. Dieser Band ist prall gefüllt mit absurden Fällen aus dem russischen Alltag, löst Lachkaskaden aus und gibt sich alogischen Visionen hin. Diese Kurzgeschichten, Szenen und Briefe sind angefüllt mit blühendem Blödsinn, der uns immer wieder verblüfft, selbst wenn es um brutale zwischenmenschliche Beziehungen geht, selbst wenn … ach greifen Sie selbst zu diesen „Fällen“, schon die urkomische Zeichnung auf dem Titelblatt mit der Clownsfratze, einem Ohr und einer verrutschten Nase führt Sie mittenhinein in die Charms’schen Welt der ausgeschalteten Logik.
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Fälle. Und weitere Prosa, Szenen, Dialoge, von Daniil Charms. Herausgegeben und aus dem Russischen von Peter Urban. Berlin (Friedenauer Presse) 2021.
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Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.