Eine Ausschweifung

 

Hier in meinem lichten Atelier ist es endlich zur Aussprache zwischen uns gekommen, und nirgends anders durfte es auch sein, – denn von sämtlichen Männern, die ich gekannt, gehörst du am engsten und intimsten in alles das hinein, was mich als Künstlerin angeht: mehr vielleicht noch, wie wenn du selbst ausübender Künstler wärst. Wenigstens kommt es mir immer vor, als übte ich mit Kunstmitteln das ein wenig aus, was du mit dem ganzen Leben lebst, in deiner reichen Art, die Dinge voll und ganz zu nehmen und ihnen zu lebendiger Schönheit zu verhelfen. Für solch ein volles, ganzes Ding nahmst du auch mich, und liebtest darum mich vor allen andern, – ich weiß es wohl. In meinen Bildern und Skizzen, denen niemand so fein nachgegangen ist wie du, schien dir mein ganzes Ich enthalten zu sein, und dahinter – ach dahinter lag nur eine alte Jugendschwärmerei, die kaum von der Wirklichkeit berührt worden ist. Du hast darin ja auch recht. Und doch – und doch –? Warum trennten wir uns dann bis auf weiteres, warum gehst du jetzt umher mit zögernder, halb schon versagender Hoffnung auf unsre Zukunft, – und ich, anstatt in fröhlicher Arbeit vor meiner Staffelei zu stehn, warum sitze ich hier am Tisch gebückt, tief gebückt, und schreibe und schreibe, in allen Nerven gebannt vom Rückblick in meine Vergangenheit? Oder warum dann dein Argwohn, und mein Eingeständnis, daß ich nicht mehr kann, was ich so heiß möchte, – nicht mehr mit voller Kraft und Hingebung lieben kann, grade als ob ich ein aufgegebener, erschöpfter Mensch wäre?

Handelte es sich um Überwindung von Vorurteilen, um zu vergebenden Leichtsinn und Fehl im üblichen Sinn, – o handelte es sich doch darum! Du, so ohne Bedenklichkeit zweiten Ranges, du, der jegliches versteht und mitfühlt, würdest mir dadurch nicht verlorengehn. Aber das ist es nicht, und dennoch ist es so: mich hat eine lange Ausschweifung zu ernster und voller Liebe unfähig gemacht.

Jetzt, wo ich mir das klarzumachen versuche, kommt der Gedanke voll Erstaunen über mich: wieviel weniger unser Leben von dem abhängt, was wir bewußt erfahren und treiben, als von heimlichen, unkontrollierbaren Nerveneindrücken, die mit unsrer individuellen Entwicklung schlechterdings nichts zu schaffen haben. Seit ich überhaupt denken kann, seit ich von eigenen Wünschen und Hoffnungen bewegt werde, bin ich der Kunst entgegengegangen, habe ich mich an ihr entzückt oder um sie gelitten, und lange noch ehe ich mich ihr wirklich widmen durfte, in irgendeinem Sinne schon im Umkreis der ihr verwandten Sensationen gelebt. Und trotzdem würde jetzt, wollte ich dir mein Leben erzählen, von der Kunst kaum die Rede sein, und kaum würde sie ärmlichsten Raum finden, riesengroß aber müßte in den Vordergrund treten, was doch in meinem individuellen Bewußtsein kaum existiert und was mir selbst immer schattenhaft undeutlich geblieben ist.

An einem heißen Sommertag, weit hinten an der deutschgalizischen Grenze, wo mein Vater damals in Garnison stand, saß ich einst als ganz kleines Mädchen auf dem Arm meiner früheren Amme und sah zu, wie sie von ihrem Mann über den Nacken geschlagen wurde, während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen. Der kraftvolle gebräunte Nacken, den sie der Hitze wegen offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte meine galizische Amme mir so glückselig ins Gesicht, daß mein Kinderherz meinen mußte, dieser brutale Schlag gehöre zweifellos zu den besondern Annehmlichkeiten ihres Lebens. Und vielleicht war es in der Tat ein wenig der Fall, denn weil sie sich, mit der fast hündischen Anhänglichkeit mancher slawischen Weiber, geweigert hatte, unser Haus zu verlassen, nachdem sie mich neun Monate lang mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete sie nun immer, ihr Mann möchte einmal aufhören, zu ihr zu kommen, und weder Liebe noch Zorn für sie übrigbehalten. Jedenfalls prügelte er sie oft, wenn er kam, und niemals tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen als nach solch einem festlichen Wiedersehen.

Viele früheste Kindheitserinnerungen vorher und nachher, – ja selbst noch jahrelang nachher, – sind mir spurlos verblichen. Aber etwas von der fast wollustweichen Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner Amme in jenem Augenblick ist mir später oft noch im Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem glückseligen Klang ihres gedämpften Lachens und mit dem Eindruck der brütenden Sonnenwärme um uns. Wer will abwägen, wie unendlich zufällig, wie rein äußerlich bedingt es vielleicht ist, wenn mir bei dieser Erinnerung zum erstenmal ein wunderlicher Schauer über den Rücken gelaufen sein mag? Sind es aber nicht tausendfach Zufälle, die unser verborgenstes Leben mit heimlicher Gewalttätigkeit durch das prägen, was sie früh, ganz früh, durch unsre Nerven und durch unsre Träume hindurchzittern lassen? Oder liegt es vielleicht noch weiter zurück, und zwitschert uns, schon während wir noch in der Wiege schlummern, ein Vögelchen in unsern Schlaf hinein, was wir werden müssen und woran wir leiden sollen? Ich weiß es nicht, – vielleicht ist es auch weder eines Zufalls noch eines Wundervögelchens Stimme, die es uns zuraunt, sondern längst vergangener Jahrhunderte Gewohnheiten, längst verstorbener Frauen Sklavenseligkeiten raunen und flüstern dabei in uns selber nach: in einer Sprache, die nicht mehr die unsre ist und die wir nur in einem Traum, einem Schauer, einem Nervenzittern noch verstehn –.

Meine Eltern sah ich immer nur in wahrhaft musterhafter Ehe, – in einer jener Ehen, die gewiß selten genug vorkommen, wo das heranwachsende Kind in seiner intimen Umgebung fast nichts wahrnimmt als wohltuende Harmonie ohne Erregungen. Mit dieser Harmonie verhielt es sich aber so: mein liebes Mütterchen tat alles, was mein Vater wollte, er aber alles, was ich wollte. Seiner ursprünglichen Abstammung nach vielleicht wendischen Blutes, war er von beiden der Temperamentvollere, Glänzendere, voll von künstlerischen, wenn auch vernachlässigten Anlagen und der unsinnigsten Zärtlichkeit für das einzige Kind, das auffallend seiner eignen Familie mit ihrem dunklen Ton und ihrer fast südlichen Blässe nachschlug. Er gab mir mit Enthusiasmus den ersten Zeichenunterricht und dispensierte mich von allen bürgerlichen Kleinmädchenbeschäftigungen. Meine gute Mutter schüttelte wohl manchmal über uns beide den Kopf, doch da ich an Heftigkeit des Temperaments und der Wünsche dem Vater am meisten glich, so liebte sie mich am hingehendsten grade in dem, worin ich ihr am fremdesten war, und hieß alles gut. Ich aber ging inzwischen umher und diente glückselig jedem leisesten Wink dieser Eltern, deren Liebe in mir zusammenlief und alles nach ihrem Willen aus mir hätte formen können wie aus erwärmtem Wachs, das dem zartesten Druck nachgibt.

In meinem siebzehnten Jahre wurden wir von der galizischen Grenze nach Brieg in Schlesien versetzt und bezogen dort die schöne Obristenwohnung im Villenviertel unten am Fluß. Von Brieg aus sollte ich noch weiter fort, ich sollte nun endlich unter der Leitung eines tüchtigen Lehrers der ersehnten Kunst zugeführt werden. Von diesem Plan träumten mein Vater und ich auf das ernstlichste, doch kam es ganz anders, weil er zu kränkeln anfing, so daß keine Rede davon sein konnte, ihn zu verlassen. Ich aber, – ich verliebte mich über Hals und Kopf in meinen Vetter Benno Frensdorff.

Von Benno hatte ich seit meiner Kindheit viel im Hause sprechen hören, und immer im Tone außergewöhnlicher Achtung. Er war, früh verwaist, mit Hilfe meiner Eltern erzogen worden und fiel schon als Knabe durch den unheimlichen Fleiß auf, womit er, immer um bezahlte Nachhilfestunden bemüht, das Gymnasium absolvierte. Dann studierte er Medizin und befand sich jetzt als Hilfsarzt in der Kreisirrenanstalt von Brieg, wo ich ihn zum erstenmal kennenlernte.

Die vorzüglichen Eigenschaften, die man an ihm rühmte, hatten mir nur einen ganz vagen Eindruck gemacht. Aber eine andre seiner Eigenschaften tat es mir augenblicklich an: Benno war schön. Schöne Menschen sind immer mein ganzes Entzücken gewesen, und wenn auch mein künstlerischer Geschmack heute etwas andres darunter versteht als damals, so muß ich doch Benno auch heute noch zugeben, daß er in seiner jungen Männlichkeit, mit dem ernsten blonden Kopf und dem hohen Jünglingswuchs, wie man ihn nicht oft findet, ganz auffallend gut aussah. Wenigstens stach er genugsam von den geschniegelten Referendaren und Lieutenants ab, die auf der Eisbahn und in den Kaffeekränzchen uns jungen Mädchen den Hof machten, und es gab ihm schon etwas Apartes, daß er durchaus keine Zeit fand, mit uns Schlittschuh zu laufen und Kaffeekränzchen zu besuchen, sondern schweigsam beiseite stand und durch seine Brillengläser jeden daraufhin zu beobachten schien, ob er nicht auch in sein Narrenhaus gehöre.

An Benno bin ich in einem erotischen und ästhetischen Rausch zum Weibe erwacht; meine Neigung zu ihm war so zutraulich und leidenschaftlich zugleich, daß in mir, die ja auch nur Liebe gekannt hatte, nie der geringste Zweifel an seiner Gegenneigung entstand, obgleich Benno mich nicht stark beachtete. Er hat mir später gesagt, eine Werbung um mich sei ihm bei seinen geringen Zukunftsaussichten und bei seiner scheuen Dankbarkeit gegen meine Eltern stets ganz toll und undenkbar erschienen. So kam es denn, daß im Grunde ich um ihn warb; mit berauschter Zuversichtlichkeit ging ich ihm entgegen, näher, immer näher, und in kurzem war ich seine Braut.

Sich so zu verlieben hätte wohl auch einer andern passieren können, selbst mit anderm Temperament als meines. Daß diese Liebe erwidert wurde und zur Verlobung führte, ist ein unglücklicher Zufall; hätten wir uns nun rasch heiraten können, so wäre wohl für mich die Enttäuschung auf dem Fuße gefolgt, oder aber es würde die Mutterschaft mich vielleicht in meinem ganzen Wesen stark verwandelt haben. Von alledem trat nichts ein, wir konnten noch nicht bald heiraten, und unter den gefährlichen Liebkosungen des Brautstandes steigerte sich mein junger Liebesrausch zu einer Sehnsucht und Gemütsspannung, die das ganze übrige Leben förmlich entfärbte.

Um diese Zeit starb mein Vater, indem er mit tiefem Vertrauen meiner Mutter und mir Benno zum Hüter und Berater bestellte. Monate voll schwerer Trauer folgten; meine Mutter und ich, die beiden unselbständigen, verwöhnten Frauen, warfen alle unsre Hoffnung auf Benno allein.

Zunächst wurde die Wohnung im Villenviertel geräumt und ein Haus bezogen, das neben der Irrenanstalt stand, wo Benno sein Dienstzimmer hatte. Es war ein altmodisch gebautes Haus, in dessen Erdgeschoß außer uns einer der angestellten Ärzte wohnte, über uns aber der Rendant der Irrenanstalt mit seiner Frau und zwei Töchtern. Als wir dorthin umzogen, kam es mir vor wie eine Übersiedelung nach einem ganz fremden Ort, obwohl dieses Brieger Viertel gar nicht weit vom ältesten Mittelpunkt der Stadt, vom Rathaus und von den Gartenanlagen auf dem ehemaligen Wallgraben, entfernt ist und ich oft genug den mächtigsten Gebäudekomplex, den Brieg besitzt, zum Himmel hatte aufragen sehen: die Kreisirrenanstalt und das Zuchthaus. Aber erst jetzt sah ich sie wirklich: das erste auf zwei Seiten von schönem Park umgeben, das andre von einer haushohen Mauer umschlossen, die einen Kranz spitziger Eisenstacheln trug und an deren Fuß Haufen schneidender Glasscherben lagen. Trotz dieser Verschiedenheit aber glichen sie einander im düstern Gesamteindruck, den sie machten, beides Gefängnisse leidender Menschheit, von denen die ganze Straße einen eigentümlich schwermütigen Anstrich erhielt.

Unsre Vorderfenster sahen gradezu auf das hohe Mauerwerk mit den Eisenstacheln, durch die Seitenfenster des Wohnzimmers aber erblickte man, über den parkumstandenen Hof des Irrenhauses hinweg, die vergitterten Scheiben der Abteilung für Tobsüchtige.

Am Abend nach unserm Einzug, während die alten zierlichen Barockmöbel mit ihren Goldleisten und geschweiften Beinen noch ziemlich ratlos umherstanden und nicht recht wußten, wo in diesen langen, niedrigen Stuben unterzukommen, erfaßte mich ein Ausbruch wilder Verzweiflung. Meine arme Mutter war so erschrocken, daß sie am liebsten gleich wieder fortgezogen wäre. Sie erwog in aller Geschwindigkeit ganz im Ernst schon einen solchen Plan.

»Denn wir müssen ja nicht notwendig hier wohnen, – nicht wahr, Benno? wir können es ja schließlich auch in einer andern Straße«, meinte sie.

Benno hatte sich kurz nach ihr umgewandt, er antwortete aber nichts, sondern ging nervös im Zimmer auf und ab. Erst als meine Mutter hinausgegangen war, um für das Abendbrot zu sorgen, hielt er inne, kam auf mich zu und umfaßte mich rasch und heftig.

»Adine!« flüsterte er heiß an meinem Ohr, »– wenn ich nun hier, grade hier mit allen meinen Zukunftsaussichten Fuß fasse –? Und ich erhoffe das für uns! Wirst du mich dann auch allein hier am Irrenhause wohnen lassen?«

Ich sah ihn zaghaft an.

»– Könnte das sein? wird es – wird’s so sein?«

Er nickte nur leise.

Ich schwieg, und drückte mein Gesicht gegen seine Schulter und umschlang fester seinen Nacken. Ich war schon besiegt, als er mich nur in die Arme nahm. Natürlich blieb ich auch jetzt schon, wo er war, natürlich wollte ich, was er wollte.

Auch für die Zukunft. Aber unser gemeinsamer Zukunftstraum, der sich nun hier verwirklichen sollte, und etwas wie eine unverstandene Angst flossen seltsam ineinander über in einem schwachen Gruseln, womit ich mich leidenschaftlicher, banger an seine Brust schmiegte.

Meine Mutter trat herein, und als sie uns so zusammenstehen sah, seufzte sie erleichtert auf.

»Nun ist wohl alles wieder gut?« bemerkte sie fragend, und sah Benno an wie einen, der für alles Rat weiß.

Benno ließ mich los und antwortete voll Heiterkeit:

»Von Rechts wegen und meinen Wünschen nach müßte Adine in goldenem Königspalast wohnen. Aber sie hätte mich ja nicht lieb, bliebe sie nicht hier.«

Die nächsten Tage ging ich umher und beobachtete unausgesetzt ein jedes Ding in meiner neuen Umgebung. Meine tiefste Aufmerksamkeit erregte das Zuchthaus uns gegenüber. Bisweilen konnte man zu einer bestimmten Morgenzeit einige Zuchthäusler sehen, die gefesselt schräg über unsere Straße zu irgendwelcher Arbeit in einen der Gefängnishöfe hinübergeführt wurden. Seitdem ich das bemerkt hatte, stand ich stundenlang mit müßig niederhängenden Armen am Fenster und wartete auf diesen Anblick.

Benno traf mich dabei an und schüttelte unzufrieden den Kopf.

»Du bist ein kleiner Faulpelz geworden, Adine«, sagte er, »ich kann nicht begreifen, was dir dran liegt, die Burschen anzusehen.«

»Ach, sieh nur hin«, versetzte ich gequält, »sieh nur, wie sie vorübergehn, ohne jemals den Blick zu heben. Ich habe versucht, sie zu grüßen. Wir würden sie doch so herzlich gern grüßen, nicht wahr? Aber sie sehen es gar nicht, sie wollen es vielleicht gar nicht sehen, – – vielleicht hassen sie uns im stillen? – – und leben doch so dicht bei uns, – so dicht, – bis sie sterben.«

»Du mußt eine vernünftige Beschäftigung haben«, antwortete Benno darauf, »du wirst doch keine krankhafte und sentimentale Pflanze werden, Adine? Das kommt nur vom Müßiggang.«

Er hatte mehr recht, als er wußte: Jahre nachher ist ein Sträflingskopf mein erster künstlerischer Erfolg gewesen. Die Möglichkeit, mich künstlerisch in strenger Arbeit zu entwickeln und mich auf diesem mir einzig natürlichen Wege von allen neuen Eindrücken zu entlasten, würde mich bald wieder froh gemacht haben.

Aber die Beschäftigung, die Benno für mich im Sinne hatte, führte mich in die Küche und an die Nähmaschine. Meiner Mutter leuchtete das vollkommen ein, es war ja auch die nächstliegende Vorbereitung für mein zukünftiges Leben.

Am Kochherd und bei der Nähmaschine befreundete ich mich mit der ältesten Tochter des Irrenhausrendanten, der über uns wohnte, mit Gabriele, einem lang aufgeschossenen, rothaarigen, sommersprossigen Backfisch. Sie hatte unendlich viel im Hausstand und für die kleine Schwester zu tun; obgleich sie aber zwei Jahre jünger war als ich, erledigte sie alles immer außerordentlich rasch und gut. Deswegen bewunderte ich Gabriele, während sie mich, trotz einer gewissen Liebe, etwas verachtete.

Eines Abends, als wir bei einer Näherei in meiner Stube saßen, sprach sie es ganz offenherzig aus.

»Es ist albern, daß du dich so mühst, da du ja viel lieber malen und zeichnen möchtest«, sagte sie, »ich will dir nur sagen, daß mir diese Arbeiten ganz ebenso verhaßt sind wie dir.«

»Dir?! Aber Gabriele, dann machst du es ja grade wie ich!« bemerkte ich voll Sympathie mit dem unerwarteten Leidensgefährten.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich tu’s für ein Versprechen: daß ich dann später zum Oberlehrerinnenexamen lernen darf – in Berlin«, versetzte sie, und konnte ein Lächeln der Genugtuung nicht zurückhalten. »Manchmal lerne ich jetzt schon heimlich des Nachts dafür vor – oder in Freistunden. Siehst du, das hat einen Sinn! Aber du – du willst ja nur heiraten.«

»Bin ja verlobt, Gabriele«, sagte ich leise und selig.

»Man soll nicht verlobt sein«, meinte Gabriele geringschätzig und betrachtete ihre langen rötlichen Hände, »– ein Mann, huh! ich könnte davonlaufen. Warum du nur alles tust, was er will?«

»Ich möchte gern ganz so werden, wie er will«, entgegnete ich unruhig und fühlte plötzlich deutlich, daß ich gar nicht so war, wie er wollte, und daß Gabriele mir gewaltig imponierte. Sie tat ja nur zum Schein Frondienste, in Wirklichkeit hatte sie ihr eignes Ziel dabei.

Gabriele bemerkte halblaut und dringend:

»Mal du doch auch heimlich! Zeichne heimlich. Hat er’s verboten?«

»Nein, nein!« rief ich heftig, »er hat mir sogar vorgeschlagen, Stunden zu nehmen. Aber ich –«

»Nun?« unterbrach Gabriele mich gespannt.

»– Ich glaube, ich liebe die ganze Kunst nicht mehr, – nur ihn«, sagte ich, fast zitternd während ich es aussprach, aber im geheimsten Herzen war es doch nur Furcht, die mich von meiner geliebten Kunst hinwegscheuchte, Furcht wie vor der großen Verführung, der nichts widersteht: Ich fühlte, daß sie mich losreißen würde von allem, was Benno wollte und was ich also selbst wollte, und mich ihm ganz fremd machen würde –.

Ich konnte Gabriele nicht einmal um ihre sichere Kampfesfreude gegen ihre ganze Umgebung beneiden, denn ich war ja so leidenschaftlich bereit zu unterliegen, und sollte ich selbst darüber in tausend Stücke gehn. Das Ideal einer kleinen Brieger Hausfrau, das ihr nur lästig und lächerlich erschien und das sie deshalb nur so nebenher, mit halber Kraft, verwirklichte, trug für mich geheimnisvolle Märtyrer- und Asketenzüge; ich ging einen Weg der gewaltsamen Selbstkasteiung aus lauter hilfloser Liebessehnsucht.

Die Folgen blieben nicht aus. Ich wurde blaß und mager, und von immer krankhafterer Unsicherheit und Reizbarkeit. Benno, der ohnehin die Grenzen des Normalen allzu eng steckte und bei all seinen eingeheimsten Kenntnissen doch noch wenig Lebenserfahrung besaß, schien besorgt, meine Mutter fing an ratlos zu trauern.

Der ärztliche Ausdruck, der zuweilen in Bennos ohnehin so ernstem Gesicht vorherrschte, machte mich noch scheuer; ich war ja jetzt seiner Liebe keineswegs mehr so naiv sicher wie einst: je untauglicher ich mir selbst für alles vorkam, was er mit mir vorhatte, desto unfehlbarer und autoritativer kam er mir vor, und seine Liebe als etwas nur durch Selbstüberwindung sicher zu Erringendes.

Durch diese gewaltsame Unterordnung unter ihn vermischte sich in meiner Leidenschaft das Süßeste mit dem Schmerzlichsten, fast mit dem Grauen. Das ist ja gewiß nicht der Fall, wo ein Weib schon an sich viel untergeordneter ist als der Mann. Sonst aber kann es zu einer furchtbaren Würze der Liebe werden, zu einer so ungeheuren Aufpeitschung der Nerven, daß das seelische Gleichgewicht notwendig verlorengehen muß.

Oft wenn ich abends schon zur Ruhe gegangen war, hörte ich an den gedämpften Stimmen, die bis zu mir herübertönten, wie Benno und meine Mutter noch lange im Zwiegespräch beieinanderblieben. Ich ahnte nicht, was sie miteinander berieten. Ich erfuhr es erst, als geschah, was endlich geschehen mußte: als Benno unsre Verlobung auflöste.

Seltsamerweise habe ich von diesem entscheidenden Vorgang keine bis in die Einzelheiten präzise Erinnerung behalten. Kaum weiß ich noch, was er mir sagte, – nur meine eigne Stimme höre ich noch, und wie ich aufschrie in Schmerz und Entsetzen, wie ich niederstürzte vor ihm und die Hände zu ihm aufhob –.

Von jener Stunde aber ging zwingend eine Macht aus, die in meiner Phantasie Bennos Bild übertrieb und fälschte, die ihn hart und grausam, streng und stark bis zur Überlebensgröße erscheinen ließ. Konnte es anders sein? Wäre er sonst dazu imstande gewesen, mich trotz aller meiner demütigen Bemühungen unwürdig zu befinden und hinwegzustoßen?

Meine Mutter weinte viel, gab ihm jedoch in allen Stücken recht und reiste mit mir ins Ausland, wo ich mich erst erholen, dann aber ganz meinen alten Wünschen gemäß entwickeln sollte. Als ich von Benno fortkam, meinte ich, daß er mich zu lauter jämmerlichen Scherben zertreten habe. Lange Zeit litt ich halb besinnungslos. Dann aber siegte das Glück, meiner Kunst leben zu dürfen, und erwies sich als stärker als die alte Jugendleidenschaft. Einem Traum gleich, den man beim vollen Erwachen nicht mehr festzuhalten vermag, sank sie ins Schattenhafte hinab.

Meine Mutter zog später wieder zu Benno nach Brieg, und nur im Sommer sah ich sie auf Wochen oder auch auf Monate bei mir. Ich selbst verbrachte etwa sechs Jahre in tüchtiger Arbeit, bei manchen Entbehrungen und Anstrengungen, dann richtete ich mir hier in Paris mein kleines Atelier ein, – und das war eine schöne Zeit: eigentlich die erste ganz sorgenfreie, ganz erfolgreiche Zeit. Zum erstenmal atmete ich auf und nahm das Leben endlich auch wieder von seiner heiteren Genußseite.

Da, – vor einem Jahr ungefähr, es war gegen Weihnachten, – entschloß ich mich plötzlich zu einer kurzen Heimfahrt.

Meine Mutter hatte schon in ihren Briefen dringend darum gebeten, aber den Ausschlag gab ein Brief von Benno selbst. Ich empfing ihn während eines kleinen Einweihungsschmauses in meinem Atelier und konnte ihn nur rasch, in Gegenwart von andern, durchlesen. Dennoch machte der Anblick der altvertrauten Handschrift mit ihren festgefügten runden Buchstaben einen ganz seltsam aufregenden Eindruck auf mich.

Benno schrieb unter dem Vorwand, den Wunsch meiner Mutter auch seinerseits noch zu unterstützen. In Wirklichkeit trieb ihn jedoch etwas andres zu diesem Brief: Auf Grund von allerlei umlaufenden Gerüchten schien er beunruhigt über meine »allzufreie« Lebensgestaltung, wie er sie nannte, und hielt sich für verpflichtet, mich vor Verleumdungen zu warnen, – oder auch vor mir selbst.

Ganz klar war es nicht, was von beidem er meinte. Seine Worte enthielten viele philiströse Bedenklichkeiten, über die ich lächeln mußte, auch viel Unkenntnis des Provinzlers und Fachmenschen hinsichtlich des Lebens in Weltstädten und unter Künstlern. Ja, das wußte ich ja nun längst: Benno verkörperte nicht gerade den Begriff eines unfehlbaren Idealhelden, sondern mochte das Prachtexemplar eines eingefleischten Pedanten und Moralisten sein. Ungefähr das Gegenteil von all dem, was jetzt meine leicht gefesselte Phantasie entzücken und verführen konnte. Aber daß er sich erdreistete, so zu schreiben, daß er sich für verpflichtet hielt, so zu kontrollieren, was ich tun durfte und nicht tun durfte, – er, der mich ja nicht einmal geliebt, – nein, geliebt hatte er mich nicht, sondern fortgestoßen –.

Ich konnte über eine unerklärliche Erregung nicht Herr werden, während ich unter meinen Gästen umherging, und lachte und scherzte.

In diesem Augenblick fiel mein Blick auf eine aufgeschlagene Mappe, worin ich einige wertvolle Kunstblätter aufbewahrte und die eben von einer jungen Malerin besehen wurde. Obenauflag die bekannte Radierung Klingers »Die Zeit den Ruhm vernichtend«. Wie manchesmal schon hatte ich den gepanzerten Jüngling angeschaut, der, eherne Allmacht im Antlitz, dem vor ihm niedergeworfenen Weibe erbarmungslos mit dem Fuß in die Lende tritt – –.

Plötzlich weckte er irgendeine Ideenassoziation in mir, plötzlich rührte er an irgend etwas, – und eine lang, lang vergessene, eine tote Sensation meines eignen Lebens regte sich dunkel –.

Ich kann mit Worten nicht deutlich schildern, wie es war. Ich glaube nicht, daß ich dabei an eine bestimmte Situation gedacht habe, zum Beispiel an Bennos brutale Lösung unsrer Beziehungen, oder daran, daß ich mich damals von ihm »zertreten« fühlte, oder überhaupt an seine Person, – aber doch hing es mit ihm zusammen, als mir ein Schauer über den Rücken ging, – ein Schauer von so lähmend intensiver Erschütterung, daß ich unwillkürlich vor dem Bilde die Augen schloß.

Ich nahm nur noch mechanisch an der Unterhaltung teil, innerlich blieb ich tief benommen, denn mir war, als starrte ich durch meine ganze Umgebung hindurch auf etwas, das sich nur lange verborgen gehalten hatte, aber doch immer dagewesen sein mußte, gleich schattenhaftem Hintergrund, – oder als sänke mein ganzes glückliches gegenwärtiges Leben langsam zu meinen Füßen nieder, wie ein dünner blumengestickter Schleier, und dahinter stände hoch aufgerichtet das Wirkliche, Wesenhafte,– – ja was? etwas wie die Silhouette eines gepanzerten Mannes? oder Benno selbst, der mich in den Armen hielt und mich den ersten Liebesrausch lehrte und das erste Grauen vor der Abhängigkeit der Liebe? – – oder lag es nicht vielleicht weit, weit zurück in jener fernsten Kindheit, wo ich noch auf dem Arm meiner galizischen Amme saß, und die Sommersonne heiß um uns brütete, und wo von der erhobenen harten Hand des Mannes ein feuerroter Striemen auf dem demutsvoll geneigten Frauennacken blieb –? – –

Einige Tage später befand ich mich auf der Reise nach Brieg. Während der langen Eisenbahnfahrt erzählte ich es mir selber wohl hundertmal, wie wunderlich eng und klein mir alles in der Heimat vorkommen werde, aber zugleich freute ich mich all dieses Engen und Kleinen, als des heimatlich Vertrauten, was ich nun wiedersehen sollte; es durfte sich nicht weiterentwickelt haben, sondern mußte, um zu wirken, genauso geblieben sein, wie es war, grade wie eine alte Kinderfibel, die ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr ein Erinnerungsbuch wäre.

Es reute mich nicht mehr, Paris verlassen zu haben, trotzdem ich grade jetzt dort den Winter hatte genießen wollen, – und doch lag in der Stimmung, worin ich diese Reise unternahm, mir unbewußt, ein tieferer Leichtsinn, der von dunkeln Sensationen träumte, als in allen Genüssen, zu denen ich mich dort hätte verleiten lassen können.

In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an. Den Tag meines Eintreffens hatte ich absichtlich nicht gemeldet, ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging langsam über den Wallgraben unsrer Steinstraße zu.

Es schneite. Ein mächtiger Wind, von Norden daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die schlesische Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich eingesargt im tiefen weißen Winterschnee. Bei diesem Wetter waren die winkligen Gassen trotz der Weihnachtszeit noch stiller, noch menschenleerer als sonst, und in den Häusern brannten die Lampen hinter fest zugezogenen Vorhängen.

Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten Laternenschein nicht gerade viel erkennen, aber das sah ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade die alte charakteristische Stadtphysiognomie sich im Lauf der Jahre verjüngt zu haben schien. Schon vermißte ich an den schmalen alten Häusern hier und da das köstlichste Giebelwerk, und überall hatte die schlechte Glätte billiger Modernisierung begonnen, die verfallende Schönheit zu ersetzen. Auch Brieg ging also vorwärts! es war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf dessen winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fortschritt des Lebens mit seinen praktischen Anforderungen, der häufig das Banale nützlicher findet als das Seltene, hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem Wege geräumt.

Als ich bei unsern großen, einförmigen Anstaltsgebäuden anlangte, sah ich ganz nah am Eingang unsers Hauses einen Mann stehn, im weiten Mantel und eine Fellmütze auf dem Kopfe.

Er stand ganz regungslos da und blickte mir entgegen, während ich mich am Parkgitter des Irrenhauses entlang ihm mehr und mehr näherte. Der Laternenschein fiel ihm in den Rücken, so daß seine Züge im Dunkeln blieben, aber ich wußte doch sofort, daß es Benno war. Mich ergriff eine kindische Freude, so groß, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte, zugleich mit dem Verlangen stehnzubleiben.

Aber das erlaubte der Sturm nicht; er blies mich von hinten an, als wehe er mich ihm einfach entgegen. Ich konnte merken, wie an meinem Reisehut der zurückgenommene Schleier zerrte und flog, gleich einem ungeduldig aufflatternden gefesselten Vogel.

Und jetzt kam Benno mir langsam entgegen.

»Dina!« rief er mit unterdrückter Stimme, noch eh ich bei ihm war.

»Da bist du ja!« sagte ich froh, ließ achtlos meine kleine Reisetasche auf den Schneeboden gleiten und streckte ihm beide Hände entgegen, »– hast du mich denn erkannt?«

»Adine! so unerwartet und unangemeldet, – von niemand empfangen!« äußerte er wie in tiefem Staunen, und dann: »Erkannt – ja, erkannt, noch eh ich wußte, daß du es sein könntest. An deinem Gang. Nur grade am Gang. Dies sorglos wiegende Schlendern, – nur du gehst so, – es sieht aus, als ob es auf der Welt nur lauter geebnete Wege gäbe, oder als schritte ein unsichtbares Wesen vor dir her, das sie dir ebnet. – – Und du kommst im Schnee – – zu Fuß?«

»Ja freilich, zu Fuß, von Stein zu Stein, über das bekannte alte Pflaster. Es war ja noch früh. Schön war’s. Der Schnee, der fiel so dicht; – das alte Brieg! wie es aussah im Schneesturm!«

Dabei blies uns der Wind immerzu die breiten Flocken ins Gesicht, während wir dastanden und sprachen, wie wenn ich bereits zu Hause wäre, wie wenn ich dazu nicht erst einzutreten brauchte.

Benno hob meine Reisetasche vom Boden auf und bemerkte:

»Deine Mutter, Tante Lisette, wird ganz außer sich vor Freude sein. Sie konnte es kaum noch erwarten.«

»Ich gehe leise zu ihr hinein, – gib mir den Schlüssel«, sagte ich und trat neben ihm ans Haus, »– oder kommst du mit?«

Er schüttelte den Kopf und wies nach der Irrenanstalt hinüber.

»Ich muß noch dorthin, – stets um diese Stunde noch einmal inspizieren –. Also auf morgen. Schlaf gut daheim.«

Ich gab ihm beim Eintreten noch einmal die Hand.

»Auf morgen!« wiederholte ich heiter, »da seh ich dich also eigentlich wieder. Denn heut haben wir uns ja noch keineswegs wiedergesehen. Zwei Stimmen im Dunkeln! Zwei Stimmen, die dem Wiedersehen vorausgelaufen sind. – – Und die nun aufhören müssen zu schwatzen.«

»Gute Nacht, Adine. Nimm die Hand fort, du klemmst dich«, sagte er beim Schließen der Tür. Das klang so nüchtern und ängstlich, daß ich unwillkürlich noch einmal zwei Finger in die Türspalte steckte. Ich rief hinaus:

Ich muß dir noch sagen: Es ist schön, daß wir uns getroffen haben – im Schneegestöber am Hause. Es ist ja nur ein Zufall, aber grade darum ist’s schön.«

Die Tür fiel ins Schloß. Einen Augenblick lang schien Benno draußen noch still zu stehn, wie wenn er lauschte, – dann knisterte der Schnee unter den langsam sich entfernenden Schritten.

Auch ich, drinnen im schwach erhellten Hausflur, stand noch und horchte, – ich horchte noch auf die beiden verklungenen Stimmen im Dunkeln, als ob sie mir ein langes Märchen erzählten, und eigentlich ein neues Märchen, – meine frohe, fast übermütige Stimme, die weit heller als die seine, und dann seine gedämpfte, zögernde Stimme, aus der so vieles – so seltsam vieles unter den alltäglichen Worten hervorsprach, und die Worte förmlich leer und sinnlos machte durch diesen Unterklang –.

Am nächsten Tage wurde ich durch einen langgezogenen schrillen Glockenton geweckt, der aus einem der Arbeitshöfe des Zuchthauses herüberschallte.

Meine Mutter, im großen Ehebett an der gegenüberliegenden Längswand, schlief noch, oder tat so, um mich nicht zu stören. Durch das Fenster schimmerte hellgrau das Morgenlicht über die ausgeblichenen Cretonnevorhänge mit ihren lustigen grünen Blumen und Vögeln, und jedes einzelne der alten Möbelstücke sah mich vertraut und grüßend an.

Ich dehnte mich voll Behagen in meinen Kissen. In dieser süßen Indolenz der Stimmung war es herrlich, sich hier ein wenig pflegen und verziehen zu lassen. Bald genug kam ich ja wieder in mein eignes Leben draußen zurück, in mein eignes Schaffen und Genießen.

Mein Blick fiel auf das liebe faltige Gesicht im weißen Nachthäubchen, das über der verblaßten grünseidenen Steppdecke herausschaute. Ohne diese gute Mutter mit ihren bereitwilligen Liebesopfern hätt ich mir nie meine freie, glückliche Künstlerexistenz erringen können. Damit mir das gelingen möchte, saß sie nun hier so geduldig und einsam ohne Tochter, und mühte sich heimlich damit ab, sich für Malerei zu interessieren, was doch so ganz hoffnungslos war. Der Offizierskreis in Brieg, ihr einstiger alter Gesellschaftskreis, äußerte sich ziemlich tadelnd über diese fernlebende Tochter, und ich wußte wohl, daß meine Mutter mich dann verteidigte wie eine Löwin ihr Junges und daß die Leute sich des Todes verwunderten, bis zu welchen modernen Anschauungen sie sich dabei zuweilen verstieg. Aber in Wirklichkeit war sie weder eine Löwin noch ein moderner Bahnbrecher, sondern ganz einfach eine einsame alte Frau, deren Lebensauffassung himmelweit von der ihres Kindes entfernt war –.

Ich glitt geräuschlos aus dem Bett, kam auf nackten Sohlen zur Halbschlummernden und umhalste sie stürmisch.

»Mama, meine liebe Mama! wie bin ich froh, bei dir zu sein, und wie dank ich dir für alle diese schönen – schönen Jahre! Jetzt auf einmal fällt es mir aufs Herz, wieviel du mir geschenkt hast, – immerfort geschenkt, und nichts dafür bekommen, du liebste aller Mütter du!«

Meine Mutter streichelte mich beschwichtigend über den bloßen Arm, und öffnete ihre blassen blauen Augen mit einem Ausdruck voll zärtlichen Glücks.

»Ich wurde schon ganz müde vom Liegenbleiben, du Langschläferin«, sagte sie, sich ermunternd, »ich glaube wirklich, mir sind die Glieder eingeschlafen. Jetzt laß mich rasch in die Kleider kommen, Kind.«

»Wo steckt denn eigentlich Benno am Morgen?« fragte ich, und fuhr in die Strümpfe.

»Ich habe ihn nebenan im Wohnzimmer gehört, ehe du wach wurdest. Er wollte dich wohl schon begrüßen. Jetzt aber könntest du zu ihm gehn, während er seinen zweiten Tee bei sich im Zimmer nimmt, – das ist bald. Es wäre freundlich von dir, – du mußt gut gegen ihn sein, hörst du? Er ist ein so vortrefflicher Mensch, Adine. Du mußt dich nicht dran stoßen, wenn er dir einmal ein wenig schroff vorkommt.«

»Dran stoßen? ach nein, Mama, im Gegenteil. Das gehört ja so unabänderlich zu ihm. Ohne das würde es gar kein Wiedersehen sein.«

»Du bist es nicht gewohnt. Bist verwöhnt, mein Kind.«

»Eben darum, Mama«, bemerkte ich, und kam vor den Spiegel, um mein Haar aufzuflechten. Unwillkürlich riß ich an den dunkeln Strähnen, die sich eigenwillig unter dem Kamm lockten, denn ich hatte, was ich eigentlich nie habe: Eile.

Die Mutter saß halb angekleidet, mit im Schoß gefalteten Händen, daneben und betrachtete mich mit besorgter Zärtlichkeit im Gesicht.

»– War es schön, – der Einweihungsschmaus in deinem Atelier?« fragte sie zerstreut.

»Ja, schön – und lustig! Später erzähl ich dir –«

»Aber lieber nur mir allein, Adine, denn Benno –«

»Nun, was ist mit Benno?«

»Ja, stell dir vor, er macht sich so leicht Gedanken deinetwegen, – weil du so frei für dich lebst, und weil du so viel mit dem Tomasi bist, der Atelier an Atelier mit dir wohnt, – und überhaupt –«

»So. Tut Benno das?« bemerkte ich, und fühlte, wie eine Blutwelle mir ins Gesicht schoß.

»Ja. Aber warum errötest du denn darüber? Du bist ja ganz rot geworden, – wirklich, Adine. Was ist es mit dem Tomasi?« fragte die Mutter ängstlich.

»Aber nichts! Du kennst ihn ja. Wir sind eben Kollegen.«

»Nein, sage mir nur eins: du glaubst doch nicht, daß du dich in jemand verliebt haben könntest in dieser Zeit?«

»Das kann ich wirklich nicht so genau wissen, Mama.«

»Aber Jesus, Kind! So etwas weiß man doch! – – Nun, übrigens, dann ist es auch nichts«, sagte die Mutter beruhigt, und griff nach ihrem Kleide.

Ich ließ den Kamm sinken und betrachtete im Spiegel nachdenklich mein eignes Bild. Mir fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß ich Benno auf seinen eigentümlichen Brief ziemlich wahrheitsgemäß hätte antworten können: »Wenn die Gerüchte unrecht haben, und du mit deinen geheimen Zweifeln auch, so ist das nur dein eignes Verdienst. Du hast mich vielleicht auf lange Zeit für mancherlei untauglich gemacht durch den allzustark gewürzten Wein, den ich bei dir getrunken habe. Dagegen fällt jeder andre Rausch ab.«

Laut sagte ich:

»Ich bin übrigens ganz unschuldig dran, daß ich mich nicht einmal gehörig verliebe. Es ist sonderbar genug.«

»Das kommt, weil du malst, mein Kind«, bemerkte die Mutter so resigniert, daß ich anfing zu lachen.

»Nun ja, wenn du nicht maltest, so würdest du wohl verheiratet sein, – und ich würde einen kleinen Enkel haben!« fügte sie etwas verdrießlich hinzu.

Ich nahm sie beim Kopf und küßte sie.

»Ach, beim Malen ist man eigentlich immer etwas verliebt. – – Man malt immer irgend etwas Verliebtes aus sich heraus, scheint mir. – – Aber all das ist so fein und flüchtig und wunderlich, und heiraten läßt es sich nicht. Wie schaff ich dir also einen kleinen Enkel?«

Meine Mutter hatte brummend ihren Kopf freigemacht, sie seufzte nur und sah schweigend nach dem Kaffeetisch. In ihrem heimlichen Innern war sie so froh, daß wir wieder zusammen dasaßen und unsern Morgenkaffee tranken, daß ihr kein Unsinn, den ich sprach, etwas anhaben konnte. Manchmal mochte sie allerdings ein wenig verwirrt werden über das viele, was ich ihr schon vorgeredet hatte und was von ihrer Mutterseele ganz friedlich neben ihren eignen Ansichten und Auffassungen beherbergt und verarbeitet wurde. Mutterboden mag wohl ein fruchtbarer Boden sein, worauf die verschiedensten Dinge durcheinander wachsen und gedeihen können, aber Mühe mocht es ihr wohl bisweilen machen, sich in diesem zärtlichen Krautgarten zurechtzufinden, über dem, alles segnend, eine so große Sonne der Liebe schien –.

Nachdem ich mein Frühstück beendet hatte, ging ich sofort zu Benno hinüber. Seine Zimmer waren von denen meiner Mutter durch den weiten, ganz primitiv mit roten Ziegelsteinen ausgelegten Hausflur getrennt und wurden früher von einem andern der Hilfsärzte bewohnt. Seit längerer Zeit bekleidete Benno eine sehr angesehene Stellung an der Irrenanstalt, als eine Art von Bevollmächtigtem des Direktors, der alt und kränklich war und ihn zu seinem Nachfolger vorgeschlagen hatte. Die Briefe meiner Mutter erzählten mir stets Wunderdinge von Bennos Tüchtigkeit und fieberhaftem Berufsfleiß.

Ich pochte leise an die Tür seines Studierzimmers, doch niemand antwortete darauf. Ich öffnete sie und blickte hinein. Niemand war anwesend.

Vor dem Kaminofen, worin ein helles Feuer brannte, stand zwischen zwei Sesseln ein Metalltischchen, worauf alles zum Teetrinken vorbereitet war. Ein blankes Kesselchen dampfte über einer Spiritusmaschine. Jedenfalls war Benno schon hier gewesen und wieder abgerufen worden.

Ich setzte mich in einen der Sessel und schaute mich um. Sehr viel behaglicher sah es hier aus als in dem häßlichen, kahlen Dienstzimmer, das Benno ehemals im Irrenhause innegehabt und das ich immer nur mit Grausen besucht hatte, denn jedes Geräusch dort und jeder Anblick entsetzten mich. Und dennoch tat es mir jetzt fast leid, daß ich ihn hier wiedersehen sollte, und nicht in dem Rahmen, der dort zu ihm gehörte. Ich behandelte ihn in dieser pietätvollen Regung unwillkürlich ganz als Bild –.

Da ging die gegenüberliegende Tür auf, und Benno trat aus seinem Wartezimmer herein.

»Grüß dich Gott!« sagte er mit seiner verhaltenen Stimme und kam, fast etwas ungeschickt, mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Als ich meine Hand hineinlegte, hielt er sie einige Sekunden lang fest und hinderte mich dadurch, mich aus meiner halbruhenden Lage aufzurichten.

»Bleib sitzen! grade so, wie du gesessen hast, aber den Kopf hebe, und gegen das Licht; ich muß dich doch deutlich wiedersehen«, sagte er wie entschuldigend.

Ich fand keine Entgegnung und gehorchte nur, den Kopf zurücklehnend und den Blick zu ihm hebend, während ich fühlte, daß ich unter dem seinen errötete.

»Wie gesund und hell und glücklich du ausschaust, – – und wie schön!« sagte er treuherzig. Aber zugleich wurde er befangen und trat etwas zurück.

Ich überflog seine ganze Gestalt und sein Gesicht. Das Gesicht erschien mir zu sehr gealtert in diesen sechs Jahren. Die unausgesetzte, nervenaufreibende Tätigkeit hatte verfrühte Falten in seine Stirn gezogen und das weiche aschblonde Haar an den Schläfen ein wenig gelichtet. Ob er wohl noch die interessanten, furchterweckenden Irrenarztaugen hat? dachte ich und suchte seinen Blick. Aber auf den Gläsern der Brille blitzte und glitzerte das Morgenlicht, und mir kam der Gedanke, wieviel öfter ich überhaupt dieses alles verdeckende Brillenfunkeln gesehen hätte, als den dahinter vermuteten Augenausdruck.

Das Wasser im Kesselchen zwischen uns brodelte heftig, und um das Schweigen zu brechen, bemerkte ich heiter:

»Ich bin zu deinem Frühstück hergekommen, wie du siehst. Wirst du mir auch zu trinken geben?«

Er deutete auf eine zweite Tasse, die bereitstand, und äußerte zögernd:

»Ich hoffte, du würdest kommen. – – Willst du nicht, – – wenn es dir nicht lästig ist, – – willst du mir nicht die Freude machen, uns den Tee zu bereiten?«

Ich erhob mich und griff nach dem Teetopf. Aber während ich mit dem Geschirr hantierte, trat wieder das Schweigen ein, und ich fühlte mit Verlegenheit, wie Benno, der stumm dasaß und rauchte, den Blick nicht von meinen Händen ließ.

Es war etwas so ganz andres, sich im vollen, nüchternen Tageslicht wiederzusehen, als am Abend vorher in der Schneenacht. Man scheut sich unwillkürlich vor all den leise mitflüsternden Erinnerungen, die schwer sind von alten Träumen und die sich in der hellen Wirklichkeit des Tages nicht zurechtfinden können, sondern allem unversehens phantastische Lichter aufsetzen, – blasse, mystische Lichtlein –.

»Es geht nicht an, daß wir hier stumm dasitzen«, dachte ich unruhig und sagte schließlich hoffnungslos, nur um irgendein lautes Wort zu finden, scherzend:

»Du willst wohl aufpassen, ob ich bei meinem Farbenkleckserberuf noch zur geringsten weiblichen, häuslichen Arbeit tauglich geblieben bin.«

»Ach nein«, versetzte er so ernsthaft erstaunt, daß man seiner Stimme anhörte, von wie weit er eben herkam, »– du bist ja, – du hast ja andres zu tun gehabt. Jedenfalls Interessanteres. Besonders Paris ist ja die große Stadt aller Genüsse.«

»Das ist sie gewiß, aber die große Stadt der Arbeit ist sie auch, des rastlosen Weiterarbeitens«, versetzte ich und schob ihm sein Glas Tee zu.

Er rührte mit dem Löffel darin herum, dann fragte er unvermittelt:

»– Der Tomasi, – wie ist denn der?«

Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken über die unbeholfene Art, wie der Pedant und Moralist aus ihm herausrückte.

»Von meinen Kollegen ist er mir der liebste Genosse«, gab ich zu, »ich danke ihm viel Anregung und Freundschaft. Als ich mir den linken Arm verstaucht hatte und der Ausstellung wegen so eilen mußte, um doch noch fertig zu werden, da hat mir der Tomasi die besten hellen Morgenstunden geopfert und mir den Arm untergeschoben und mir die Palette gehalten. Das kann nämlich nur ein sehr lieber Freund tun.«

»Den Arm so ausdauernd unterschieben, – das glaub ich«, meinte Benno, und rauchte so stark und unausgesetzt, daß eine Wolke um ihn stand.

Ich lachte, ganz lebhaft geworden.

»Nein, aber die Palette halten«, verbesserte ich, »denn der linke Arm mit der Palette arbeitet mit, mußt du wissen, er muß lebendig zu einem selbst gehören.«

Benno stieß gewaltsam die Asche, die sich kaum noch an seiner Zigarre angesetzt hatte, am Glasteller ab.

»Lebendig zu einem selbst. So kann natürlich nur ein Künstler zu dir gehören«, bemerkte er und stand unmotiviert auf, ohne mich anzusehen.

Dabei sah ich plötzlich das Finstre, Gequälte in seinem Gesicht. Mitten aus der Plauderei heraus, wobei ich für den Augenblick gar nicht mehr an ihn gedacht hatte, sah ich ihn plötzlich so, wie ihm wirklich zu Mute war: in mühsam verhaltener Erregung, – in zorniger Eifersucht –. Daher also sein Brief! Das war nicht pedantische Moralisterei gewesen, – nein, – Liebe –.

Es kam ganz unerwartet über mich, ein Blutstrom, der rasch und heiß zum Herzen quillt, und ein Erschrecken. Ja, eigentlich ein nachträgliches Erschrecken: Denn wenn ich das geahnt hätte in der ersten Zeit unsrer Trennung, – geahnt, daß auch er leide und daß er mich liebe, – ich wäre ja besinnungslos zurückgestürzt zu ihm.

Jetzt freilich konnte ich das nicht mehr wollen. Aber auch er sollte es nicht wollen. Nein, auch er soll es nicht, dachte ich, und mein Herz schlug zum Zerspringen. Denn ihm, seinem Willen, diesem harten, engen, bewußten Willen, bin ich schon einmal erlegen.

Die Erinnerung daran durchrieselte mich heiß und beinah lähmend.

Benno blickte mich staunend und ungläubig an. In meinem Mienenspiel mochte sich etwas von dem verraten, was in mir vorging. Eine Möglichkeit mochte in ihm aufdämmern, mich wieder zu fassen. Wenigstens schien es mir so, – und da schien es mir gradezu, als käme er mit einer Riesenkeule bewaffnet auf mich zu, um mich niederzustrecken.

»– Benno –!« sagte ich schwach, erschrocken, wie jemand, der sich wehren soll und nicht kann.

Der schwache Ausruf durchzitterte ihn förmlich. Mein Gebaren mußte ihn in eine Zeit zurückversetzen, wo mir dieses furchtsame Gesicht und diese furchtsame Stimme ihm gegenüber natürlich waren. Unwillkürlich, wortlos, fast ohne zu atmen, beugte er sich über mich –.

Da streckte ich angstvoll meine Hand gegen ihn aus, sie mit einer unsichern Bewegung zwischen seine und meine Augen schiebend, als müßte sie ihm meinen Blick verdecken und mich seinem Blick entziehen, wie einer unkontrollierbaren Macht, die noch einmal mich mir selber rauben könnte.

»– Nein – nein! – nicht! zu spät!« murmelte ich.

Er richtete sich auf und legte die Hand über die Augen.

Ohne ein Wort der Erwiderung verließ er das Zimmer.

Ich starrte ihm nach. Ich weiß nicht, wie lange ich da noch sitzen blieb, in seinem Zimmer, in seinem Sessel.

Ich war ja heimgekommen, um Reminiszenzen zu feiern. Um in ein paar alte Erinnerungen niederzutauchen. Ich wollte mich sogar an all dem freuen, was an ihnen meinem jetzigen Geschmack widerstand, – denn all das gehörte ja zu ihnen, und auf mein wirkliches Leben hatte es keinen Einfluß.

Dies da aber war keine Erinnerungsgewalt gewesen. Nein, dies da war eine Lebensgewalt, eine Wirklichkeitsgewalt, die mich selber bedrohte. Konnte ich nicht fort? konnte ich denn nicht fliehen? kannte ich denn nicht die Folgen, den Zusammenbruch von allem, ja von allem, was meinem Wesen und meinem Leben Wert gab?

Ja, das alles wußte ich. Ich wußte auch, daß sich mein Leben niemals wahrhaft mit Benno verknüpfen ließ, – und daß es keine Liebe zu ihm war, die mich hielt.

Keine Liebe, – etwas Dunkleres, Triebhafteres, Unheimlicheres – –.

Wie ein Blitz, – Warnung und Symbol zugleich, – glitt an meiner Seele das Bild der Klingerschen Radierung vorüber –.

Nein, – ich konnte nicht fort.

Am Nachmittag besann ich mich darauf, daß ich seit meiner Ankunft Gabriele noch nicht begrüßt hatte, und stieg die Treppe zur Rendantenwohnung hinauf.

Fast gleichzeitig betrat Gabriele von der Straße her den Hausflur unten, am Arm ein Marktnetz, aus dem sich allerlei Gemüsesorten hervordrängten. Sie lief rasch ein paar Stufen aufwärts, ehe sie mich aber oben stehn sehen konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit durch Benno abgezogen, der grade über den Flur schritt, um aus seinen Wohnräumen zu meiner Mutter hinüberzugehn.

Gabriele beugte sich über die Treppenbrüstung.

»Guten Abend, Herr Doktor!« rief sie ihn an, »ich bin ganz böse auf Sie. Gestern und vorgestern nacht brannte ja wieder so spät Licht in Ihrer Studierstube. Ich kann den Schein sehr gut von oben bemerken! Sie arbeiten aber wirklich zu spät.«

»Ich muß wohl, Fräulein Gabriele«, antwortete Benno, »übrigens geben Sie mir gewiß an Fleiß nichts nach. Aber ich verspreche Ihnen, heut abend früher auszulöschen und mich brav schlafen zu legen.«

Das ist ja ein drolliges Versprechen! dachte ich, innerlich belustigt, als Gabriele aufschaute, mich bemerkte und mir nun eilig die Treppe nachsprang.

»Gott, wie lieb von dir, zu kommen!« rief sie atemlos und umarmte mich mit der alten Mädchenherzlichkeit, »ich wäre schon selbst bei dir gewesen, mochte euch nur nicht gleich stören.«

»Wie hübsch du geworden bist!« sagte ich und betrachtete sie voller Freude. Gabriele glich gar nicht mehr dem langen, rothaarigen Backfisch von ehedem; ihr rötliches, sehr feines und krauses Haar umsprühte förmlich leuchtend ein Gesicht von den zartesten weißroten Farben, und von den Sommersprossen schienen nur ein paar ganz pikant wirkende Tupfe über der Nasenwurzel übrig zu sein. Größer als ich, auch von derbem Knochenbau, bot sie ein Bild blühender Kraft.

Sie hatte die Tür aufgeschlossen und führte mich in das wohlbekannte Eßzimmer mit der karierten Wachstuchdecke auf dem langen Tisch und dem Nähtisch am Fenster. An diesem Fenster, das von der starken Zimmerwärme leicht beschlagen war, lehnte ihre jüngere Schwester Mathilde, Mutchen genannt, zwischen den weißen Mullvorhängen und malte mit dem Zeigefinger mystische Buchstaben auf die Scheibe.

»Mit dem bißchen Ordnen der Tischwäsche hättest du auch fertig werden können, scheint mir«, bemerkte Gabriele verdrießlich und warf einen Blick über die Stöße von Servietten, die neben einem halbgeleerten Wäschekorb auf den Stühlen umherlagen, »es gibt ohnehin vor Weihnachten noch viel zu tun.«

Mutchen fuhr bei unserm Eintritt ein wenig zusammen und drehte sich so geschwind herum, daß der kurze Mozartzopf in ihrem Nacken mitflog. Sie war eine ganz allerliebste kleine Person von etwa achtzehn Jahren, und der heiterste Übermut blitzte aus ihren hübschen Augen. Als ich sie herzlich begrüßte und sie fragte, ob sie sich meiner auch noch erinnere, da sah sie mich mit großen, listigen Augen an und atmete tief auf.

»O ja!« sagte sie, »aber damals waren Sie anders –. O, so wie Sie, – ja, so möchte ich aussehen!«

»Aber warum denn, Mutchen? was ist denn mit mir?« fragte ich verwundert über diesen Ton.

Sie flog auf mich zu, küßte mich und flüsterte lachend:

»Ich meine nur, weil Sie so aussehen, daß jedermann – jeder Mann – Sie gern haben muß.«

»Wirst du aufhören, mit solchen Dingen zu tändeln!« rief Gabriele aufgebracht, die eben ihre Sachen abgelegt und nur die letzten Worte recht gehört hatte, »du bist das unnützeste Geschöpf auf der Welt. Es ist nicht das geringste Vernünftige mit ihr aufzustellen«, fügte sie unwillig, zu mir gewandt, hinzu, während Mutchen trällernd entfloh.

»Ich kann mir denken, daß sie dir auch jetzt noch zu tun gibt«, sagte ich, »überhaupt hab ich dich innig nach dem Tode eurer Mutter bedauert. Denn nun bist du natürlich hier gebundener als je. Und du hattest doch ganz andre Pläne.«

»Ich habe sie noch – für einen gewissen Fall, wenn der eintritt«, antwortete Gabriele und setzte sich zu mir, »aber es ist mir einstweilen recht, hier zu sein und den Hausstand weiterzuführen. Das kann ich dir nicht erklären. Doch sei gewiß, gegen meinen Willen tät ich’s nicht.«

Ich schaute sie nicht ganz ohne die alte unwillkürliche Verwunderung an, wie sie das so fest und ruhig aussprach.

»Das glaub ich von dir«, erwiderte ich, »mir wär’s unmöglich, etwas so gegen meine intimste Umgebung durchzusetzen.«

»Dir –?!« Gabriele lachte; »du hast ja grade dein Ziel gegen deine ganze Umgebung durchgesetzt.«

»Durchgesetzt? – nein, nichts. Alles nur geschenkt bekommen«, bemerkte ich leise.

Sie zuckte die Achseln.

»Du bekommst es eben geschenkt, – wir andern müssen es erobern. – – Aber nur eine törichte Heirat hätte dich aus dem Geleise werfen können.«

»Das könnte auch dir noch passieren, Gabriele.«

Sie wurde sehr rot und entgegnete heftig:

»Du meinst doch nicht etwa, daß die Brieger Herren dafür in Betracht kämen? Die sind heute noch genauso schlimm, wie sie damals waren.«

»Wie denn: schlimm?« fragte ich.

»Noch ebenso anmaßend und dünkelhaft und zurückgeblieben in ihren Anschauungen, angefangen vom kleinsten Beamten bis hinauf in die Offizierskreise. Nur die Form ist je nach ihrem Stande verschieden, das Wesen ist dasselbe. Glaubst du, auch nur einer von ihnen ahnte etwas davon, daß wir doch nicht mehr denken wie unsre Mütter und Großmütter? Daß wir nicht mehr lauter Käthchen sind, die wimmern: ›Mein hoher Herr!‹ sondern daß wir unser eigner Herr geworden sind? – kurz, daß wir mit den alten knechtischen Vorstellungen aufräumen –.«

»Ach, tun wir das wirklich?« fragte ich ganz erstaunt, »nein, denke nur! wer tut denn das eigentlich?«

»Das weißt du nicht? Adine, du scherzest wohl! Du, die so weit herumgekommen ist, du, die sich so frei entwickelt hat, – ja, was hast du denn die ganze Zeit getan?!«

»Ich? ich habe ja gemalt!« sagte ich ganz betreten.

»Nun ja, gemalt! Aber während man malt, denkt man doch an etwas! Hast du denn dabei nie über Liebe und Ehe nachgedacht, und wie die sich zu unsern persönlichen Rechten verhält? Das ist sehr unrecht von dir. Und dir lag das doch nah genug: denn eigentlich ist doch deine Verlobung daran gescheitert. Nur daran: Denn wenn irgend ein Mann dazu imstande gewesen ist, sich in diesem Punkt vernünftig erziehen zu lassen, so jedenfalls Doktor Frensdorff.«

Ich schüttelte verwundert den Kopf.

»Darin irrst du dich, Gabriele. Seine zauberhafteste Wirkung war seine Tyrannei. Und so ist es wohl meistens.«

Gabriele warf einen forschenden Blick auf mich.

»Du redest wie deine eigne Urgroßmutter!« bemerkte sie kurz.

»Unsre armen Urgroßmütter!« sagte ich lächelnd, »die wußten freilich rein gar nichts von solchen Neuerungen. Die einzige Form ihrer Liebe war wohl Unterordnung, – in dies Gefäß schütteten sie alle ihre Zärtlichkeit. Sollte nicht auch in uns was davon übrig sein? was machen wir dann mit solchem ererbten kostbaren alten Gefäß?«

»Wir stellen es meinetwegen in den Nippesschrank zu andern Kuriositäten, wenn es nicht schon so löcherig ist, daß wir es hinauswerfen müssen«, antwortete Gabriele und stand unruhig auf, »ich hasse alten Plunder! er paßt doch nicht zu den Anforderungen des praktischen Lebens.«

»Vielleicht nicht. Aber er kann den praktischen Gerätschaften so unendlich überlegen sein durch seine Schönheit«, bemerkte ich, stand aber gleichfalls auf, um nicht all das zu sagen, was mir auf dem Herzen lag. »Wir reden darüber heute nicht zu Ende, Gabriele, aber ganz außerordentlich fortgeschritten seid ihr ja hier in Brieg!«

Gabriele kämpfte mit etwas, was ihr nicht über die Zunge wollte. Sie äußerte nur noch zögernd:

»Du bist eben eine Künstlerin, Adine. Ich sage ja nicht, daß du mit Gefühlen spielen würdest, aber ihre Tauglichkeit fürs Leben ist dir doch nicht alles, – wenn sie dich irgendwie künstlerisch anregen. Aber – – du kannst damit leicht Menschen unglücklich machen.«

Sie errötete, ihre Stimme wurde unsicher, und sie ging schnell zu alltäglichern Gesprächsstoffen über. Während wir weiterplauderten, mied sie meinen Blick, und ich den ihren. Aber ich tat es ohne die geringste Ahnung von dem, was sich in ihrem Herzen an Befürchtungen regte: sie jedoch begriff aus meinem Schweigen alles. –

Ich verspätete mich bei Gabriele so sehr, daß bei uns meine Mutter und Benno schon mit dem Abendbrot auf mich warteten, als ich herunterkam.

»Das tut mir leid; ich wußte nicht, daß ihr so genau die Minute einhalten müßt«, bemerkte ich etwas erschrocken und nahm eilig meinen Platz am Tisch ein, »wie du siehst, bin ich noch immer unpünktlich, Benno.«

»Es ist nur an mir, mich zu entschuldigen«, versetzte er, ohne mich anzusehen, »denn es ist sehr lästig, daß man um meinetwillen so genau sein muß. Das ist eben der Sklavendienst. Sklaverei von früh bis spät, und keine Möglichkeit, einmal frei und menschenwürdig aufzuatmen.«

Meine Mutter blickte mit Befriedigung vom einen zum andern, seelenfroh, daß ihre beiden »Kinder« sich in Liebenswürdigkeiten überboten. Sie hatte im stillen davor gezittert, daß wir uns am Ende schlecht vertragen würden.

Ich sah unverwandt Benno zu, wie er zerstreut und hastig aß, was er grade auf dem Teller hatte. Endlich konnt ich mich nicht enthalten zu bemerken:

»Wie seltsam, daß du so von deinem Beruf sprichst, Benno. Grade als ob er dich zum Sklaven und nicht zum Herrn machte. Oder als ob du ebensogut einen ganz andern Beruf haben könntest, oder auch gar keinen Beruf, oder –«

»– Und warum scheint es dir denn so ganz undenkbar, daß ich einen andern Beruf ausfüllen könnte«, unterbrach mich Benno nervös.

»Warum? Das weiß ich nicht. Ich kann es mir einfach nicht anders vorstellen, als daß du Irrenarzt in Brieg, – oder sonstwo – bist. Ich meine, das ist kein Zufall, sondern ein Beweis, wie dein Beruf mit dir verschmolzen ist.«

Er erwiderte gereizt:

»Es ist vielmehr ein Beweis, wie sehr ein Mensch bei strenger, einseitiger Berufsarbeit verstümmelt, in seiner vollen Entwicklung verkürzt wird. Deshalb nehmt ihr so ohne weitres den Berufsmenschen in uns schon für den ganzen Menschen.«

»Verstümmelt, verkürzt?« wiederholte ich staunend, »aber Benno, entwickelt ihr euch denn nicht dabei so sehr, daß schon die Frauenzimmer es euch neidisch nachtun wollen? Schließlich wählt ihr ja den Beruf.«

»Um in ihm irgend ein paar Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubilden, – ja«, fiel er ein, »um mehr als das zu tun, dazu gehört Zeit und Geld, also ist es nur für die wenigsten. Was meinst du wohl, was von unserm ganzen nicht beruflichen Innenleben zur Entwicklung kommt, wenn man in solchem Zeitmangel lebt, wie etwa ich gelebt habe? Mir kommt es vor, solange ich zurückdenken kann, schon von der Schulbank her, als hätte ich niemals Zeit gehabt, und als wären daraus die schlimmsten Fehlgriffe entstanden, die ich je begangen habe.«

Ich schwieg. Ich wußte ja von seiner überbürdeten Studienzeit, seiner rastlosen Arbeit bei geringsten Mitteln, fast ohne Muße, und ich gab ihm recht. Aber daß es Benno war, der so sprach, konnte ich nicht begreifen. Wann hätte er sich je mit Mängeln seiner Entwicklung herumgeschlagen? Wann sich je in seiner selbstbewußten Sicherheit beirren lassen?

Meine Mutter fragte dazwischen:

»Wie ist es denn morgen mittag, Benno? ißt du zu Hause?«

»Wahrscheinlich nicht. Es ist weit über Land, wo ich hin muß. Wir bringen den Kranken wohl gleich mit«, entgegnete er zerstreut, beendete etwas hastig sein Abendessen und stand auf.

»Du entschuldigst wohl, es wartet jemand auf mich«, bemerkte er zur Mutter, und dann, schon bei der Tür, wandte er sich noch einmal zu mir und sagte zögernd:

»Ich wollte dich noch fragen, ob du nicht – ich wollte dich bitten, morgen vormittag, – natürlich falls du nichts andres vorhast, – ob du mir nicht wieder etwas Gesellschaft leisten willst. So wie heute. Es ist meine liebste Stunde.«

Dabei sah er eilig und beschäftigt aus und sah niemand an, während er redete.

»Gewiß! ich will kommen«, sagte ich ein wenig leise. Dabei schlug auch ich die Augen nicht auf. Meine Glieder wurden mir bleischwer. Ich stütze die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf. »Wenn ich doch aus dem Hause ginge und den Nachtzug nach Paris nähme!« dachte ich.

Meine Mutter hatte von Benno wieder auf mich geblickt; ihre Augen leuchteten, und wer kann wissen, welche Hoffnungen in ihr aufstiegen und welche Mutterwünsche, während sie umherging und das Dienstmädchen beaufsichtigte, das den Tisch abräumte. Dieses war eine arme entlassene Insassin des Irrenhauses, wie meistens unser Gesinde.

Nach einer Weile schien in einer Droschke Besuch vorzufahren. Meine Mutter trat in den Flur hinaus und kam bald darauf mit einer kleingewachsenen jungen Dame zurück, die an einem Krückstock ging.

»Die Baronesse Daniela hatte gehofft, Benno anzutreffen«, bemerkte die Mutter, indem sie uns miteinander bekannt machte, »ich habe sie gebeten, bei uns ein wenig zu warten, weil Benno nur vorübergehend in Anspruch genommen ist.«

»Ich wollte Herrn Doktor Frensdorff nur einen Augenblick sprechen«, sagte die Baronesse mit einer höchst wohllautenden sanften Stimme zu mir, »nur um zu hören, ob ich morgen kommen darf. Denn ich kann nicht immer von Hause fortkommen. – Aber vielleicht wissen Sie überhaupt gar nicht, daß ich seine Schülerin bin?«

»Nein! Davon wußte ich allerdings nichts«, versetzte ich, sie ins Wohnzimmer geleitend, wobei ich sehen konnte, wie stark sie in den Schultern und Hüften verwachsen war, »– aber unmöglich studieren Sie Medizin?«

Die Baronesse Daniela mußte bei dieser Zumutung lachen, und ihr blasses, schmales, merkwürdig altblickendes Gesicht verjüngte und verschönte sich dabei. »Nein, nein!« wehrte sie ab, und setzte sich mühselig hin, »richtig studieren kann ich ja überhaupt nicht. Aber Herr Doktor Frensdorff treibt viel Schönes mit mir, Literatur, Geschichte, sogar etwas Philosophie.«

»Was Tausend! Benno tut das?« unterbrach ich sie überrascht, »aber wann kommt er denn dazu?«

»Ja, er tut es aus Güte für mich. Ich bin nämlich seine Patientin gewesen. Eh ich zu ihm kam, war ich ganz entsetzlich unglücklich. Er aber hat mich gelehrt, glücklich zu werden.«

»Indem er Ihnen solche Studien erschloß?«

Sie schüttelte den blonden Kopf.

»Nein. Indem er mich darüber aufklärte, daß das, woran ich kranke, unheilbar ist und daß ich mich damit abfinden muß. Unheilbar verwachsen bin ich, – nein, werden Sie nicht verlegen für mich!« fügte sie sehr lieb im Ton hinzu, und legte ihr kleines blaugeädertes Händchen auf meine Hand. »Sie sehen ja, ich kann so ganz ruhig davon sprechen.«

Und als ich ihre Hand umfaßt hielt und sie die stumme Anteilnahme, das große lebhafte Interesse in meinen Augen lesen mochte, da fuhr sie vertrauensvoll fort:

»Mich haben die Menschen so sehr damit gepeinigt, daß sie mir aus lauter Mitleid vorredeten, ich würde mich bis zum Erwachsenenalter gerade wachsen und werden wie andre auch. Aber je älter ich wurde, – ich bin jetzt neunzehn, – desto besser begriff ich, daß sie mich betrogen, und wagte doch nicht, es irgendwen merken zu lassen oder mich gegen irgendwen auszusprechen. Denn bemitleidet leben zu müssen, das ist doch wie Tod, nicht wahr? Über diesem innern Zwang und erstickten Kummer wurde ich zuletzt schwermütig. Und nun wurde Herr Doktor Frensdorff ins Haus gerufen. Er brauchte nicht lange, um die Sachlage zu durchschauen! Er fing damit an, mich die Wahrheit ertragen zu lehren. Ach, er hat es nicht leicht gehabt, das können Sie glauben! Ich habe bei ihm geweint und geschrien, und schließlich lernte ich bei ihm wieder lachen.«

In mir wurde alles Wärme und Zärtlichkeit, als ich so dem feinen, sympathischen Stimmchen zuhörte. Das beseelte Gesicht da vor mir, mit seinem Ausdruck von Mut, Glück und Leiden, wirkte so stark auf meine durch alle Eindrücke leicht erregten Sinne, daß ich die kleine Verwachsene am liebsten an mich gezogen und geküßt hätte.

Auch gemalt und für mich behalten hätte ich gern dies interessante kleine Gesicht. Darüber achtete ich nur noch zerstreut auf ihre Worte. Um es nicht merken zu lassen, sagte ich:

»Ich kann mir sehr gut denken, daß in dieser kleinen Provinzialstadt mit ihrem Mangel an geistigen Interessen Benno Ihnen durch sein Eingehn auf alles ein wahrer Halt und Trost ist. Aber wahrscheinlich sind Sie es ihm nicht minder.«

»Nein, ich bin ihm wohl nichts«, sagte sie sehr ernsthaft, »oder richtiger: Ich wäre ihm wohl nichts, wenn ich nicht ein Krüppel wäre, der ihn braucht und ihm leid tut. Aber das ist ja gerade das Herrliche und Merkwürdige: daß es so glücklich macht, sich ihm gegenüber klein und gering vorzukommen und nur sein Mitleid zu verdienen. Daß er sich zu mir herabbeugen muß und daß ich alles nur durch ihn habe, – das hab ich eben vor all den glücklichen, gesunden, ansehnlicheren Menschen voraus, nicht wahr? Dafür gönne ich ihnen gern ihre Schönheit und Kraft und bin zufrieden mit meinem Gebrechen und meiner Schwäche. – Aber ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle«, fügte sie lächelnd hinzu, »Sie sehen so gut aus: vielleicht lachen Sie nicht darüber.«

»Nein, ich lache nicht darüber«, sagte ich aufs tiefste ergriffen und schloß die kleine Schwärmerseele in die Arme, wie ein Schwesterchen, das ich bis auf den Grund ihrer seligen törichten Romantik verstand. Ob sie wohl eine Ahnung davon hat, daß sie ihn liebt? dachte ich mit furchtsamem Herzen.

Da fuhr sie plötzlich in meinen Armen zusammen, so sehr, daß ihr ganzer armer kleiner Körper erzitterte.

»Was ist –?« fragte ich erschrocken und stand auf.

Sie lauschte.

»– Es ist sein Schritt!« sagte sie leise.

Als ich am nächsten Vormittag zu Benno hinüberging, war er schon da, aber ein Angestellter des Irrenhauses war noch bei ihm und stand wartend neben dem Schreibtisch, an dem Benno saß und einige Papiere ordnete.

Ich zündete den Spiritus unter dem Teekesselchen an und setzte mich auf eine breite mit Leder überzogene Ottomane an der Hinterwand des Zimmers. Auf einem dicht herangeschobenen niedrigen Tisch lagen durcheinander allerlei Bücher und broschierte Schriften. Nach dem gestrigen Gespräch mit der kleinen Baronesse wunderte ich mich nicht mehr, zwischen der Fachliteratur die verschiedensten andern Geisteswerke zu finden, von denen ich früher nie geglaubt hätte, daß sie sich bis zu Benno verirren würden.

Zweifellos war diese Bereicherung und Vermehrung seiner Interessen ein vorteilhafter Wechsel; nur zu seiner ganzen Eigenart, von der Schroffheiten und Engen mir völlig unabtrennbar schienen, wollte er nicht recht stimmen.

Nachdenklich langte ich einen abgegriffenen kleingedruckten Band hervor, der zu einer älteren Schillerausgabe gehörte; offenbar durchstöberte Benno den alten Familienschrank im Wohnzimmer, um sich literarisch zu bilden, und war jetzt also bei Schiller angelangt.

Diese Bemerkung kam mir ohne allen Hohn, – ich freute mich drüber, daß er im Grunde doch noch ganz derselbe blieb, – Pedant und unmodern.

»Wallensteins Tod«. Mitten im Band knisterte ein breites trockenes Efeublatt und ließ das Buch sich dort von selbst öffnen. Ein langer feiner Bleistiftstrich den berühmten Monolog an Max entlang:

Die Blume ist hinweg aus meinem Leben,
Und kalt und farblos seh‘ ich’s vor mir liegen.
Denn er stand neben mir, wie meine Jugend,
Er machte mir das Wirkliche zum Traum,
Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge
Den goldnen Duft der Morgenröte webend –
Im Feuer seines liebenden Gefühls
Erhoben sich, mir selber zum Erstaunen,
Des Lebens flach alltägliche Gestalten.
– Was ich mir ferner auch erstreben mag,
Das Schöne ist doch weg, das kommt nicht wieder.

– – Ich las es ganz arglos; mir fiel nicht ein, daß jemand hier »sie« für »er« gelesen haben könnte. Aber auch zu mir sprach es wie ein Liebesgedicht –.

Benno war aufgestanden, er hatte den Mann abgefertigt und wandte sich mir zu.

»Ach laß das«, bemerkte er mit einem Anflug von Verlegenheit, als er mich mit dem Buch in der Hand sitzen sah, »hier gibt es nichts, was dich interessieren könnte. Wir redeten ja schon gestern davon, daß man in allem unwissend und ein Stümper bleibt, was nicht zum Beruf gehört. Ich kann nur wieder sagen: leider! Denn auch in meinem Beruf wäre der Tüchtigste, wer zugleich Welt und Leben mit umfassen könnte.«

Ich legte das Buch aus der Hand, besorgte den Tee und entgegnete zögernd:

»Früher dachtest du doch ganz anders darüber, Benno. Du urteiltest alles als Mediziner ab und ließest keinen Einwand gelten. Wodurch ist denn das nur so gekommen?«

Er war an das Fenster getreten und blickte auf die verschneite Straße hinaus, die von den gegenüberliegenden Gefängnissen verdunkelt wurde.

»Dadurch, daß ich dich verlor!« sagte er halblaut.

Ich wagte nichts zu erwidern. Ich verharrte regungslos. Aber ich dachte bei mir: »Das war ja durchaus dein eigner Wille, dieser Verlust.«

Ohne sich vom Fenster abzuwenden und ohne nach mir hinzusehen, fuhr er mit halber Stimme fort:

»Ja, dadurch allein. Sonst wäre ich wohl lebenslang so geblieben wie damals: für meine eigne Person gewiß nicht anmaßend, sondern voll Bescheidenheit, aber voll Überschätzung und Dünkel hinsichtlich meiner unfehlbaren Weisheit, als Fachmensch. Aber da erkannte ich allmählich, wodurch ich dich verloren hatte: durch den Mangel an Einsicht in das, was dir not tat, durch Mißverstehen alles dessen, was kraftvoll und gesund in dir war, und nur deshalb krankhaft erschien, weil man deine Entwicklung unterband, weil man dich nicht in den Stand setzte, es künstlerisch aus dir herauszugeben –«

»– Das war gut so«, unterbrach ich ihn mit Anstrengung, »– die Zukunft hat es bewiesen. Sie hat bewiesen, wo meine Tüchtigkeit liegt. – – Nicht da, wo wir sie suchten –.«

»Scheinbar: ja«, versetzte er fast heftig in unterdrücktem, gequältem Ton, »scheinbar hatt‘ ich ja recht, aber warum? Nur, einzig und allein nur, weil wir von vornherein einen entsetzlichen Fehler gemacht haben. Ich meine in deinem Verhalten zu mir. Anstatt dich durch die Grenzen und Schranken meiner Unerfahrenheit einzuengen, hätt ich mich durch dein reicheres Wesen hinausleiten lassen sollen aus ihnen, – grade wie es mir ja durch dich während unsrer Trennung geschehen ist.«

»Nein, o Benno, nein!« fiel ich ein, »dann wärst du ja gar nicht du selbst gewesen.«

»Ich spreche dich ja bei diesem begangenen Fehler durchaus nicht von Mitschuld frei!« sagte er eindringlich, »nein, wie sehr, wie sehr warst du selbst schuld daran! Schuld durch deine Folgsamkeit und Fügsamkeit, schuld durch deine leidenschaftliche Selbstunterwerfung und den kritiklosen Glauben an meine törichte Unfehlbarkeit. Hättest du mich nur nicht über dich gestellt, sondern neben dich, – ach, lieber noch unter dich, als so hoch hinauf.«

»Dann hätt ich dich nicht geliebt«, sagte ich leise.

»Ach Kind«, versetzte er mit gedämpfter Stimme und wendete sich vom Fenster fort, »– warum liebte ich dich denn? mir selbst unbewußt doch um deswillen, worin du tatsächlich über mir standest, etwas Selteneres, Feineres, Glanzvolleres warst als ich. Ich kam aus der Dürftigkeit, aus der Dunkelheit zu dir wie ins Licht. – – Sieh, warum soll das auch nicht sein? Es sind ja grade solche Frauen, die uns vor der Seelenöde retten, die unsre Berufsmonotonie ergänzen –. Im Beruf, da mögen wir ja die Überlegenen sein, mögen bestimmen, befehlen, unterweisen, was uns unterstellt ist, – aber der Frau gegenüber, die wir lieben: Glaube mir, da fällt dieser schlechte Ehrgeiz fort. Da werden wir wieder gut und einfach und Kinder, und wollen uns gern beschenken, uns gern die schönsten Träume erzählen lassen, – mit unserm Kopf in eurem Schoß.«

Ich hatte mich in dem Sessel niedergelassen, die Arme aufgestützt und das Gesicht in den Handflächen vergraben. Er sollte mir nicht in das Gesicht sehen, das nichts zu verschweigen verstand. Er sollte nicht sehen, wie seine Worte auf mich wirkten – gleich einem feinen, langen, schmerzenden Stich durch alle Nerven.

Eine staunende und enttäuschte Traurigkeit legte sich über mich, als er so von seiner Liebe sprach, – eine Traurigkeit, als gelte diese Liebe gar nicht mir, sondern als liebte er sozusagen an mir vorbei ins Leere hinein.

Als ich noch immer schwieg, kam Benno näher, setzte sich mir gegenüber an das Kaminfeuer und sagte nach einer Pause:

»Siehst du, von diesen innern Umwälzungen ist auch meine äußere Existenz beeinflußt worden. Du mußt nicht denken, daß ich ewig hierbleiben will. Ich will nicht den Direktorposten hier, und habe Aussichten in einer größern Stadt – –. Nun, davon ein andres Mal. Ich wollte dir nur sagen, weshalb ich hier so unsinnig viel gearbeitet habe, – du dachtest wohl, weil ich ganz darin aufgegangen wäre hier im Winkel. Aber das ist nicht so. Mit einem Ziel vor Augen, einem einzigen Ziel, hab ich wie verrückt gearbeitet – und auch gespart und gegeizt, – der reine Hamster –.« Er bückte den Kopf gegen das Feuer und lächelte ein wenig: Es sah beinah kindlich froh aus.

Ich hatte die Hände sinken lassen und schaute auf ihn, und eine unaussprechliche Weichheit kam über mich. Ich sah den blonden Kopf mit dem gelichteten Haar an den Schläfen, dem nervösen Zug um den Mund und mit dem etwas angestrengten, gespannten Ausdruck, der fast nie mehr von seinem Gesichte wich. Und ich sah vor mir die Öde, durch die er gewandert war, die Summe von Arbeit und Einsamkeit, die hinter ihm lag. Wie ein neuer, zuvor nie in seiner Wirklichkeit von mir geschauter Mensch kam er mir vor; der »gepanzerte« Mann meiner Backfischromantik legte seine Rüstung ab, und dahinter stand ein kindguter, liebebedürftiger Mensch, der keinen, – nein keinen, mit hartem Fuß niederzutreten vermöchte.

»Um den Hals fallen sollte man ihm, und ihm alles Liebe antun!« dachte ich weich und erschüttert. Aber in meinem Herzen blieb dennoch dieselbe große Traurigkeit und Enttäuschung, wie wenn er mir etwas Bitteres zuleid getan hätte.

Er stand in seiner Unruhe wieder auf und sagte befangen:

»Was es mich damals gekostet hat, – nur deine Mutter weiß es, was es mich gekostet hat, dich fortzulassen. Du durftest es ja nicht wissen. Und um deinetwillen mußte es sein. Ich schuldete deinen Eltern so viel, – ich hätte ja auch nie um dich zu werben gewagt, – ich konnte dich nicht kranken und verkümmern lassen. Jetzt, – jetzt würde es anders sein, Adine.«

»– Benno –!« sagte ich leise, verwirrt, wie gestern, und auch in abwehrender Furcht wie gestern, vor den Worten, die nun kommen mußten. Aber es war doch nicht dieselbe Furcht, und nichts erzitterte in mir dabei in lähmendem Unterliegen, und nichts durchschauerte mich, wie gestern. Ich dachte in diesem Augenblick überhaupt nicht an mich, sondern allein an ihn, und alles, was ich fürchtete, war, ihn leiden zu sehen, ihm weh tun zu müssen.

Nie, noch nie bin ich ihm menschlich, in menschlicher Anteilnahme, mitempfindend so nahe gewesen, – nie aber auch war ich gleichzeitig so fern von ihm, so weit, weit fort, – als Weib.

»Ja, vielleicht hast du recht!« sagte ich atemlos, überstürzt, und richtete mich auf, »– vielleicht hätten wir von allem Anfang an anders miteinander verschmelzen können, ohne Kampf, ohne Hemmnis, auch ohne Unterordnung oder Überordnung des einen oder des andern! Einfach in der Freude und im Rausch unsrer frischen Jugend. Ja vielleicht! Vielleicht gibt es eine solche Liebe, und ist sie möglich und ist sie schön«, – ich stockte, und ein Schmerz, den ich selbst nicht begriff, machte mir die Brust eng; ich fügte mühsam hinzu: »– aber das ist verscherzt, das ist für mich zu spät –«

»Nein, – nicht! bitte, sage nichts!« bat er hastig und durch meinen plötzlichen Ausbruch erschreckt, »– du sollst gar nicht so übereilt – du sollst dir Zeit lassen, – prüfen –; nur mir von der Seele sprechen mußt ich es gegen dich –«

Er brach ab, weil im anstoßenden Wartezimmer eine Tür knarrte; ein leichtes Geräusch, wie von einem Stock, der den Boden berührte, wurde hörbar.

Benno blickte unruhig auf die kleine Standuhr auf dem Kaminsims.

»Unmöglich kommt sie so früh«, murmelte er verwirrt, »ich habe ihr doch gestern abend die Stunde genannt.«

Doch schon pochte es leise, und er öffnete die Tür ins Wartezimmer. Vor ihm, ganz hell vor Freude, Erwartung und Ungeduld, stand die kleine Baronesse.

Sie begrüßte mich wie eine alte Bekannte, ohne irgend etwas von der Benommenheit zu merken, worin sie Benno und mich vorfand; sie war dazu selbst zu benommen.

»Wir sind gestern schon ganz schnell die besten Freunde geworden«, erklärte ich Benno, der ihr den Krückstock aus der Hand nahm und ihr den bequemsten Sessel heranrückte.

»Das wundert mich gar nicht«, erwiderte er mit der ruhigen und beruhigenden Stimme, die er als Arzt zur Verfügung zu haben schien wie eine bereitliegende Maske, »du würdest auch in ganz Brieg schwerlich einen zweiten Menschen finden, mit dem du so gut zusammenpaßt, wie die Baronesse Daniela.«

»Nicht in allem!« sagte die kleine Verwachsene lächelnd, »man dürfte uns zum Beispiel schon nicht zusammen auf der Straße sehen; wie schön würd ich da nachhumpeln müssen.«

Benno warf ihr durch seine Brille einen forschenden Blick zu.

»Grade deshalb!« bemerkte er, »denn wären Sie so schlank gewachsen wie eine Tanne im Walde, so würden Sie in andrer Hinsicht schwerlich so hoch in die Höhe gewachsen, sondern recht oberflächlich ausgefallen sein und unsrer Dina in allen Stücken nachhumpeln müssen.«

Sie strahlte ihn statt jeder Antwort mit ihren dankbaren, glücklichen Augen an, und ich sah es ihr an, wie völlig geborgen sie sich vorkam, – auf eine Stunde vor allem Ungemach geborgen, und mit ihm zu zweit allein.

»Ich gehe nun hinüber«, äußerte ich und gab ihr die Hand, »ich denke aber, daß wir bald wieder miteinander plaudern.«

»Bald, ja!« versetzte sie zerstreut und blickte unversehens Benno an, statt mich, »– wenn man mich nur bald wieder herläßt. Jetzt gibt es so viele Abhaltungen vor Weihnachten. Deswegen mußte ich heute schon so früh kommen, – später kam ich nicht frei.«

Ich verließ das Zimmer fast mit einer wunderlichen Regung von Neid. Ja, ich beneidete beinah die kleine Verwachsene um die harmlose Romantik, womit sie da drinnen bei Benno ihren Anteil an Menschenglück sich vorwegnahm. Sie konnte ihn hoch über sich stellen, sich selbst demütig unter ihn, ohne daß diese halb erträumte Situation sich jemals zu ändern brauchte, ohne daß die Wirklichkeit des Lebens sie jemals in ihren Illusionen und Phantasien stören würde, – denn Leben und Wirklichkeit blieben ihr doch wohl immer fern.

Sie setzte jetzt den Becher an die Lippen und nippte von derselben Sklavenseligkeit, woran ich mich einst Benno gegenüber so bis zur bewußtlosen Selbstvernichtung berauscht hatte, – und die es für mich ihm gegenüber nun nicht mehr gab. Und arglos hielt er ihr diesen betäubenden, gefährlichen Trank an die Lippen. Von mir aber, die damit bis in die letzten Nervenfasern vergiftet gewesen war, heischte er ebenso arglos, daß ich, mit ernüchtertem Herzen und ernüchterten Augen, ihn lieben sollte –.

Bei uns im Wohnzimmer traf ich Gabriele. Meine Mutter schien eben erst von Weihnachtsbesorgungen in der Stadt heimgekehrt zu sein; sie stand noch im Hut da und trug die einzelnen Ausgaben in ihr Notizbüchelchen ein.

Gabriele drehte sich rasch nach mir um und rief:

»Ich bin nur da, um dich zu fragen, ob du nicht heute abend ein wenig zu uns heraufkommen willst? Es sind lauter alter Bekannte bei uns, die neugierig sind, dich wiederzusehen, wie du dir wohl denken kannst.«

»Ja, danke. Vielleicht. Nimm es lieber nicht als gewiß«, entgegnete ich, von der Vorstellung erschreckt, den Abend gesellig verbringen zu sollen, und setzte mich an den Tisch, auf dem mehrere aufgeschnürte Pakete mit blitzenden Anhängseln zum Christbaum lagen.

»Auf mich mußt du keine Rücksicht nehmen«, bemerkte die Mutter und legte ihr Notizbuch neben mich hin, »so früh, wie ich’s gewohnt bin, kannst du dich ohnehin nicht zur Ruhe begeben. Aber ich wache nicht davon auf, wenn du später ins Schlafzimmer kommst.«

Ich langte nach dem kleinen abgenutzten Bleistift am Notizbuch und begann zerstreut, auf dem harten grauweißen Paketumschlag zu zeichnen.

»Doktor Frensdorff kommt wohl sicher nicht mit herauf?« fragte Gabriele zögernd.

»Schwerlich«, versetzte die Mutter, »er fährt mittags weit über Land und kehrt erst spät zurück.«

»Also nicht!« bemerkte Gabriele in so merkwürdig resigniertem Ton, daß ich unwillkürlich aufblickte.

Ich vermochte in dem gesenkten Gesicht, das von feinem Kraushaar wie von einer leuchtenden Wolke umschattet wurde, nichts zu lesen. Aber jetzt nachträglich fiel mir Gabrielens fortwährendes Erröten bei unserm gestrigen Gespräch und manches ihrer Worte auf.

Fast kam mir ein Lächeln. Wenn sie wirklich in Benno verliebt war, so mußte man es humoristisch nennen, um wie verschiedener, ja einander ausschließender Eigenschaften willen wir drei uns für ihn interessiert hatten. Was ist nun ein Mensch wesentlich andres, als was wir uns aus ihm zurechtmachen?

Aber von uns dreien traute ich Gabriele das beste Urteil über ihn zu. Vermutlich hatte sie ganz recht damit, daß sie eine passende Frau für Benno wäre, von der er sich dann sicher auch genau so erziehen ließe, wie es sich nach Gabrielens Meinung für die Frau von heute schickte.

Da bemerkte Gabriele:

»Doktor Frensdorff ist überanstrengt und überbeschäftigt, daher geht er nirgends hin. Jemand sollte ihm das ausreden. Das solltest du tun, Adine.«

»Er hört doch nicht drauf«, meinte die Mutter und ging hinaus, um ihren Hut abzulegen.

»Auf dich würd er wohl hören«, sagte Gabriele halblaut.

Ich ließ überrascht den Bleistift fallen und sah sie an.

»Wär es dir denn im Ernst angenehm, wenn ich mich drum kümmerte oder ihn beeinflussen wollte?«

»Ja. Wenn es zu seinem Wohl dient«, versetzte Gabriele finster.

Etwas von meiner alten Bewunderung für sie regte sich in mir. Und eine warme Bereitwilligkeit, ihr zu helfen. Sie sollte wissen, daß ich ihr nicht in den Weg treten würde.

»Meine Sache ist das aber gar nicht«, sagte ich rasch und in leichtem Ton, während ich fortfuhr zu zeichnen, »du weißt ja: Ich gerate lieber selbst unter jemandes Einfluß. Ich will aber beides nicht. Es ist also besser, wenn dir das zugehört, und niemand anders teil dran nimmt.«

Gabriele stand auf.

»Ich muß hinaufgehn, um nach unserm Mittag zu sehen, auf Mutchen ist kein Verlaß«, bemerkte sie ruhig, dann aber, als ich ihr die Hand gab, sah sie mir fest und fast etwas hochmütig in die Augen und fügte ernst hinzu:

»Was uns wahrhaft gehört, Adine, das nimmt niemand uns fort. Was uns wahrhaft gehört, das fällt uns zu, früher oder später. Daher sind alle kleinlichen Sorgen um Dein und Mein niedrig. Alles, was wir zu tun haben, ist, selber vorwärts zu gehn; wer zu uns gehört, geht mit, wer das nicht tut«, – sie hielt inne und atmete tief auf, – »der – ja der darf uns auch nicht aufhalten.«

Ich beugte mich, etwas verdutzt, über mein Paketpapier. Leidenschaftslosigkeit und Überzeugungskraft sind gewiß hohe Tugenden. Und ich –? Ach, ich!

Ich blickte erst wieder verwundert auf, als die Mutter wieder eintrat und mir über die Schulter sah.

»Aber das ist ja die kleine Baronesse!« rief die Mutter überrascht, »nur gar so schön, wie du ihren Kopf gezeichnet hast, ist sie doch nicht, Kind.«

»Nicht schön –? – Übrigens ist es eigentlich auch nicht grade die Baronesse Daniela. Es ist nur das Glück, Mama.«

»Das Glück –?!«

»Ja. So ungefähr schaut es aus. Aus solchen Augen schaut es das Leben an.«

»Arme Daniela«, meinte die Mutter, »sie hat es schwer genug im Leben. Weißt du, daß sie auch grade eine Majorstochter sein muß, wo so viel laute Geselligkeit im Hause herrscht –. Man möchte ihr schon ein wenig Glück zu Weihnachten wünschen, als Christgeschenk.«

»Ach Mama, kein Mensch weiß ja so recht, was der andre sich wünscht. Ich könnte mir zum Beispiel Danielas Schicksal wünschen. Oder einfach zu Weihnachten einen schön gewölbten Buckel, Mama.«

»Aber Dienchen! so sündhafte Scherze soll man nicht machen.«

Das Dienstmädchen kam herein und brachte die eingelaufene Post. Sie überreichte die paar Kartenbriefe mit einer Würde auf dem Präsentierteller, als wären es mindestens hochwichtige Depeschen.

»Ich möchte wohl wissen, warum die Anna immer so feierlich tut«, bemerkte ich, nachdem sie wieder hinausgegangen war, »wenn sie abends die Lampe bringt, trägt sie sie auch vor sich her wie eine Gottesfackel.«

»Sie ist krank gewesen. Das ist ihr von der Krankheit verblieben.«

»Was – die Feierlichkeit?«

»Die Wahnvorstellung, als ob alles, was sie tut, die feierlichste Bedeutung hätte. In ihrer Geisteskrankheit war sie nämlich ganz glückselig. Da hat sie gemeint, beim Kaiser von China zu dienen. Das kann sie sich in ihren Manieren noch nicht recht abgewöhnen. Aber Benno meint, das schade nichts.«

»Und das nennt man nun Wahnsinn!« sagte ich seufzend. »Eine Fähigkeit, so beglückende Illusionen einfach festzuhalten. Ich glaube, Mama, ich wünsche mir zu Weihnachten außer dem Buckel auch noch einen ganz niedlichen kleinen Wahnsinn.«

»Aber, Kind! Du redest ja schon den reinen Wahnsinn!« meinte die Mutter unwillig und las ihre Kartenbriefe.

Ich legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf. Der Kopf war mir so leer, und das Herz so schwer, wie nach einer Vergeudung und Erschöpfung aller Kräfte. Und dabei war der Morgen doch so idyllisch friedlich verlaufen. Ohne Not hatte ich mich vor den Morgenstunden bei Benno gebangt, als drohte mir in ihnen eine Gefahr, die heimlich anzieht wie Schwindel und Abgrund –. Da war gar kein Abgrund. Flache grüne Wiese, eine Landschaft geschaffen zum Schäferidyll – –.

Und Sehnsucht und Enttäuschung und ein Widerwille gegen alles, was nicht Abgrund und Gefahr sein wollte, wachten in mir auf. In mir erwachte ganz dieselbe Gemütsstimmung und Gemütsspannung, in der ich mich damals von Benno losriß, – weil mir der volle Becher zwischen den Lippen zerschellte.

Ungern entschloß ich mich gegen Abend, zum Rendanten in die kleine Gesellschaft zu gehn. Aber es wäre mir ebenfalls schwergefallen, diesen Abend neben meiner Mutter im Wohnzimmer zu sitzen und mit ihr heiter und eingehend zu plaudern. So kleidete ich mich denn auf ihr Zureden um und schickte mich an hinaufzugehn, um Gabriele nicht zu kränken.

Als ich aus unsern Stuben in den Hausflur trat, fand ich seltsamerweise die Tür nach der Straße weit offen. Eh ich sie zumachte, blieb ich einen Augenblick lang auf der Schwelle stehn und schaute hinaus. Draußen war es unwirtlich und häßlich. Der Frost zeigte Neigung, in Tauwetter überzugehn; die Schneeschicht lag nur noch dünn und klebrig auf der Straße, und ein feiner Winternebel verschleierte das gelbe Licht der Laternen.

Da, wie aus der Erde gewachsen, ging ein junger Mann draußen vorüber und grüßte. Die Straße war er nicht herabgekommen, ich hätte seinen Schritt durch den getauten Schnee hören müssen.

Ich schloß die Tür, von der feuchten Kälte durchschauert, als im selben Augenblick jemand von der Hofseite durch das Hinterpförtchen in den Flur huschte.

Ich wandte mich um und erkannte Mutchen.

Mutchen sah erschrocken aus; in einen Mantel gehüllt, aus dem das helle Gesellschaftskleidchen hervorleuchtete, stand sie wie verstört da und horchte nach oben, wo das Geräusch herabkommender Schritte hörbar wurde.

Dann lief sie plötzlich auf mich zu, faßte mich am Arm und flüsterte hastig und ängstlich:

»Ach, lassen Sie mich um Gottes willen zu Doktor Frensdorff hineinschlüpfen, – er ist nicht zu Hause, – bitte, bitte, ich erkläre Ihnen gleich –«

Ich stieß die Tür zu Bennos Wartezimmer auf und zog Mutchen dort hinein.

»Was ist denn geschehen? vor wem fürchtest du dich? wer bedroht dich?«

»Ich glaube, das Mädchen geht nach Bier«, flüsterte Mutchen atemlos; »– bitte, bitte, sagen Sie nur Papa oder gar Gabriele nichts, – nein? Sie haben’s ja gesehen, Sie standen ja an der Haustür, als Doktor Gerold vorüber mußte.«

»Doktor Gerold? war das der, der eben vorüberging? wer ist es denn? und wozu heimlich?«

Mutchen schmiegte sich in der dunkeln Stube an mich und flüsterte halb schüchtern, halb schelmisch:

»– Wozu?! – ja, wie soll man denn anders? Haben Sie denn nie einen liebgehabt? Ich kann ihn doch nicht plötzlich da oben hinstellen zwischen Papa und die Tanten und Verwandten. Sie würden ja auf den Tod erschrecken. Abgesehen davon, daß Gabriele mich – na!«

»Ihr seid wohl heimlich verlobt, Doktor Gerold und du?«

»Ich glaube«, sagte Mutchen zögernd.

»Du glaubst es nur?! Du weißt nicht, ob ihr verlobt seid?«

»Ja, kann man denn das so ganz genau wissen?« Mutchens Stimme klang kläglich, »wir sind noch so jung alle beide, er kann ja eigentlich noch gar nicht etwas so Festes – – ach du, kann man denn daran denken, wenn man jung ist und einen liebhat?« setzte Mutchen in raschem Stimmungswechsel resolut hinzu und merkte nicht einmal, daß ihr das vertrauliche »Du« entschlüpft war. »Laß mich jetzt schnell hinauf, ehe die Guste mit dem Bier wiederkommt. Und ich danke dir! Nicht wahr, – o nicht wahr, du verrätst es nicht? Von dir glaub ich’s, eine andre würd ich nicht einmal erst drum bitten.«

»Warum dann mich, Mutchen?«

»Ich weiß nicht. Du schaust so aus. So, als müßtest du’s verstehn.«

»Nun, Mutchen, verraten werd ich dich nicht. Aber unter einer Bedingung, hörst du? nur wenn du mir alles sagst, – wenn du mir morgen sagst, was eigentlich zwischen euch ist. Versprichst du mir das?«

»Ja, ja!« murmelte Mutchen, küßte mich hastig und schlüpfte aus dem dunklen Zimmer.

Ich stand und schüttelte den Kopf.

»Ich bin wirklich eine schöne Autorität für solchen Mutchen-Fall!« dachte ich ratlos, »was soll das nützen, wenn sie mir auch alles erzählt? kann ich etwa entscheiden und eingreifen? Gewiß tut sie unrecht mit diesen Heimlichkeiten. Gewiß, – vielleicht. Vielleicht hat sie auch ganz recht.«

Ich tappte mich in die daneben gelegene Studierstube, wo die Zündholzschachtel stets auf dem Rauchtischchen lag, und machte Licht.

Jetzt, nach diesem Zwischenfall, mochte ich nicht, wenigstens nicht gleich, zu Gabriele hinaufgehn, – am liebsten hätt ich es ganz gelassen.

Auf dem Kaminsims, zu beiden Seiten der kleinen Standuhr, standen zwei Bronzeleuchter mit dicken Wachskerzen, die durch die Länge der Zeit förmlich von Staub vergraut waren. Ich zündete eine davon an und sah in Gedanken versunken in die gelbe ruhige Flamme.

Welch ein keckes, leichtblütiges Ding dieses Mutchen mit ihren achtzehn Jahren sein mußte! Ich selbst war anders gewesen zu dieser Zeit, trotzdem sie eben versichert hatte, ich schaute grade so aus, »als verstände ich das«.

Und wer weiß! vielleicht hatte es auch nur der Zufall so gefügt. Der Zufall, der mich in eine rechte Schwärmerei voll Traumromantik führte, weil er mich von rascher Erfüllung der Liebeswünsche fernhielt.

Mutchen aber war nicht in lebensfremden Träumen groß geworden, sie war ein rechtes Kind ihrer Zeit, das das Leben allzufrüh so gesehen hatte, wie es ist, und sich nun mit heitern, listigen Augen einen Ausweg erspähte aus den sie beengenden strengen Mädchensitten. Heute liebte sie Doktor Gerold, wie sie behauptete; aber vielleicht hatte sie sich schon in der Tanzklasse heimlich mit halbwüchsigen Gymnasiasten eingelassen und sich auf die künftigen Liebesabenteuer gefreut wie auf ihr allerschönstes Jugendvergnügen.

Man konnte das bedauern. Man konnte in solchem Fall sie selbst bedauern, die ein kostbares Kapital unachtsam in kleiner Münze verstreute. Aber warum bedauerte man dann nicht wenigstens auch den rasenden Gefühlsverbrauch, die erschlaffende Gefühlsausschweifung in den jugendlich romantischen Marlittiaden von uns andern? Verliefen die etwa harmloser als ein Leichtsinn wie der Mutchens, nur weil man durch sie am Leibe keinen Schaden nimmt und weil ihre feinern und intimern Korruptionen des seelischen Lebens nach außen unmerkbarer bleiben? In Wahrheit ist es vielleicht minder gefahrvoll, sich bei oberflächlichen Genüssen zu zerstreuen, als hinabzusinken in allerlei schwüle, dunkle Tiefen alter Gefühlselemente, gegen deren Überreizung die gesunden warmen Reize des Lebens nicht aufkommen –.

Ich hatte mich auf das Fußende der Ottomane gesetzt und horchte unentschlossen nach oben, von wo das Gesumme durcheinanderredender Stimmen zu mir drang und wo jetzt gar ein lustiger Walzer auf dem Klavier gespielt wurde.

Da trat jemand von draußen in den Hausflur, man hörte, wie er sich den lockern Schnee von den Stiefeln stampfte, ein Männerschritt näherte sich, – dann wurde die Tür zur Studierstube geöffnet, und Benno stand auf der Schwelle.

Ich wandte den Kopf nach ihm und sagte entschuldigend:

»Ich meinte, du kämst erst spät heim. Verzeih, daß ich hier sitze. Mama glaubt mich oben in der Gesellschaft. Ich soll auch hin. Zauderte aber hier, und blieb. Es war so schön still hier.«

Er antwortete nicht. Im Türrahmen stand er still und schaute herüber zu mir. Seine Augen hingen an dem elfenbeinfarbenen Wollkleid, das ich angezogen hatte, und langsam stieg sein Blick daran herauf bis zu meinem Gesicht. Das seine erschien mir blaß und seltsam.

Von seinen Lippen kam ein Laut, – kein Wort, nur ein schwacher, kurzer Laut, – und eh ich es noch hindern, eh ich noch aufstehen konnte, lag er vor mir auf dem Teppich und umfaßte mich mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen, und bedeckte meine Hände, meinen Hals, meinen Schoß mit Küssen.

Er küßte mich, ohne mich loszulassen, ohne in seinem Ungestüm nachzulassen, ohne mir Atem zu lassen. Er küßte mit einer Gewaltsamkeit und Benommenheit, womit er mich fast brutalisierte, während er mich liebkoste. Er küßte so, wie jemand trinkt, der, an der Stillung seines Durstes verzweifelnd, schon verschmachtend am Boden gelegen hat. Er küßte mit der Sehnsucht, Inbrunst und Dankbarkeit jemandes, der sich mit unaussprechlicher Wonne vom Tode freiküßt.

Ich regte mich nicht und wehrte ihm nicht. Ich gab leise seinen Bewegungen nach, ohne sie zu erwidern. Ich fühlte mit staunendem Mitleid diesen Ausbruch einer lange, lange und mit entsagender Kraft zurückgedämmten Leidenschaft, die sich in diesem Augenblick blindlings sättigte. Und während ich seinen unsinnigen Küssen nachgab, regte sich in mir etwas Wunderliches, ganz Zartes und beinahe Mütterliches, – die Hingebung einer Mutter, die einem weinenden Kinde lächelnd ihre nahrungschwellende Brust öffnet.

So ruhte ich, fest von seinen Armen umschlossen, die Augen weit offen zur Decke emporgerichtet, und dabei ging es mir still und beinah ehrfürchtig durch den Sinn, – wie keusch wohl das Leben dieses Mannes hingegangen sei –.

Benno ließ mich endlich frei, mit einem ächzenden Laut, als ob er sich eine Wunde zufügte. Zugleich sprang er zitternd vom Boden auf und sagte mit einem Ausdruck leidenschaftlicher Verzückung auf seinem Gesicht:

»Ich danke dir! Du mein einziger, geliebtester aller Menschen, ich danke dir! Ich wäre erstickt und zerbrochen, wenn du mich zurückgestoßen hättest!«

Es fiel ihm nicht ein, nicht einen einzigen Augenblick lang fiel es ihm ein, daß ich vielleicht seinen Rausch nicht geteilt haben könnte. Um ins Mitempfinden des andern einzugehn, dazu gehört gewiß Liebe, aber bei einem gewissen Grad der Liebesleidenschaft schlägt sie zurück in so besinnungslosen Egoismus, daß sich daraus keine Fühlfäden mehr in die äußere Welt erstrecken, sei es auch die Gefühlswelt des geliebten Menschen, und daß ein störender Mißton einfach dadurch unmöglich gemacht wird, daß man ihn eben nicht aufnimmt und nicht vernimmt. Liebesleidenschaft ist wie die letzte und äußerste Einsamkeit.

So befangen Benno noch heute morgen geschwankt und gezweifelt hatte, so siegessicher fühlte er sich jetzt. Alle ängstliche Überlegung, alle Mutlosigkeit war von ihm genommen. Ich richtete mich langsam auf, ohne die Augen von ihm zu wenden.

Sonderbarerweise beschäftigte mich dabei eine ganz gleichgültige Kleinigkeit. Benno hatte, während er auf den Knien lag und mich küßte, seine Brille verloren. Sie lag auf dem Teppich neben der Ottomane, und die Gläser, die sonst seinen Blick verdeckten, glänzten im Kerzenlicht.

Und da schauten mir nun seine Augen brillenlos entgegen, so wie sie in Wirklichkeit waren, – blau und treuherzig, mit dem etwas unsichern, etwas starren Blick derer, die sich immer scharfer Gläser bedienen – –.

Benno machte eine gewaltige Willensanstrengung, um sich zu fassen und zu beruhigen, trat zurück und sagte:

»Verzeih mir. Ich wollte dir Zeit lassen, – ich hätte es vielleicht sollen, aber ich konnte nicht länger, Adine. Sieh, den ganzen Tag, den ganzen schrecklichen Tag trug ich eine sinnlose, würgende Angst mit mir herum. Eine Angst, weil du heute früh etwas gesagt hattest von ›zu spät‹, oder – oder ›verscherzt‹ hast du gesagt, – etwas Ähnliches; – siehst du, der Zweifel brachte mich von Sinnen.«

Und er griff hastig, wie um mich nun auch wirklich sich nicht entgehen zu lassen, nach meinen Händen und setzte sich neben mich, dicht zu mir gebeugt.

»Liebste! – sag mir ein Wort«, bat er mit einem glücklichen Lächeln, – und mein Blick mied scheu den seinen.

Diese leuchtenden treuherzigen blauen Augen, dieses ganze von Glückszuversicht verklärte Gesicht klagte mich laut an.

Ich selbst klagte mich an, und erschrak über das Geschehene. Und doch hätt ich nicht anders zu handeln vermocht, auch wenn es gegolten hätte, noch einmal zu handeln in den tollen vorübergestürmten Minuten seines Rausches. Besser, tadelloser war es zweifellos gewesen, ihm zu sagen: »Küsse mich nicht! täusche dich nicht! ich liebe dich nicht!« Aber wie konnte ich ihn im Dursten und Darben zurückstoßen und sorgsam abwägen, was das Richtigere, das Tadellosere war –?

»Vielleicht fehlt mir jeder Stolz! vielleicht jede Scham!« dachte ich, »und jetzt? und hinterher? was soll ich tun? wie ihn aufklären und kränken? Ach, ich kann ihn nicht kränken! Kann ihn nicht durch Mitleid beleidigen. Ich bin ein feiges – ein ganz feiges Geschöpf!«

Jetzt fiel Benno doch meine Stummheit und innre Ratlosigkeit auf. Etwas wie eine dunkle Unruhe ging durch seine Augen und machte sie rührend, wie erstaunte Kinderaugen.

»Adine, – ich – – sprich zu mir!« rief er fast laut, »ich halt’s nicht aus! Warum sprichst du nicht?«

»Lieber Gott!« dachte ich, »hilf mir doch! Gib mir ein, was ich tun soll. Niemals, niemals kann ich ihm die ganze Wahrheit sagen! niemals, niemals ihn vor mir demütigen, – ihn, den ich einst, ach einst –! Lieber laß mich klein und verächtlich werden in seinen Augen, daß er selber mich nicht mehr will, nicht mehr liebt. Laß mich lieber ganz zunichte werden, – Staub zu seinen Füßen –.«

»Dina –!« sagte er mit erstickter Stimme, und man konnte sehen, wie ihn ein Schreckgefühl durchrieselte. Ich mochte ja vor ihm dasitzen wie ein Bild der Selbstanklage und Verwirrung. Und da mochten seine Zweifel plötzlich heraufsteigen, – Zweifel, die er mit sich herumgetragen, – Zweifel, die ihm erst vor einer Woche den Brief an mich diktiert hatten, – Zweifel an der Unberührtheit meines Mädchenlebens.

»– Nein, nein!« entfuhr es ihm wild abwehrend, grade als widerspräche er jemand, »– nein, es kann nicht sein! Nicht das kann es sein, – Adine, auf meinen Knien will ich es dir zuschwören, daß du mir das Höchste, das Reinste bist, das, wovor ich knie, und das schon der leiseste Schatten eines Mißtrauens entstellen würde. Was liegt an der ganzen Welt! Wenn du nur bist, die du warst!«

Ich stieß einen Seufzer aus, mir war wie einem Erstickenden, der Luft bekommt. Unwillkürlich falteten sich meine Hände. Ja, dies war ein Ausweg, – der Schatten von Mißtrauen, der Zweifel, der Brief, – wenn Benno an all das glaubte, dann war es ein Ausweg. Allzu hergebracht streng dachte er doch in diesem einen Punkt, und allzusehr hatte seine Phantasie mich verklärt, um darüber mit seiner Liebe hinwegzukommen –.

Benno war aufgesprungen, er starrte mich an und atmete kurz.

Er hatte nach der Lehne des zunächststehenden Stuhles gegriffen und umfaßte sie gewaltsam mit beiden Händen, als wollte er sie zerbrechen. Der ganze Mann zitterte.

Mit heiserer, rauh klingender Stimme brachte er hervor:

»Wenn du – – hast du – – ist ein andrer – –«

Und als ich noch immer schwieg, ging er langsam auf mich zu, und leise, ganz leise, als fürchtete er sich vor seiner eignen Stimme, sagte er mit herzerschütterndem Ausdruck:

»Dina! – Dina! sage, daß es nicht wahr ist! daß du keine –«

Es durchfuhr mich in diesem Augenblick doch, wie von einem elektrischen Schlag. Ich hörte nichts mehr und sah nichts mehr, ein seltsamer Schwindel schien mir alle Gegenstände und alle Gedanken zu verrücken und zu verwandeln.

»Staub zu seinen Füßen, – jetzt bin ich ihm das wirklich!« dachte ich nur noch dumpf, und irgendeine unklare Vorstellung dämmerte dunkel in mir auf, daß sich da soeben etwas Sonderbares begäbe: irgendeine wahnsinnige Selbsterniedrigung und Selbstunterwerfung, – irgendein sich zu Boden treten lassen wollen –.

Und doch löste sich dabei etwas in meiner innersten Seele, was sich bis zum äußersten gestrafft und gespannt hatte wie ein Seelenkrampf, – und es überflutete mich mit einer zitternden Glut, und es schrie auf und frohlockte – –.

Und dennoch war diese ganze Situation kein wirkliches, kein wahrhaftes Erleben, sondern sie war von mir nur geschaffen, von Benno nur geglaubt, – sie war nur ein Schein, ein Bild, ein Traumerleben, – ein Nichts.

Ich weiß nicht, ob ich auf der niedrigen Ottomane sitzen blieb oder ob ich in die Knie sank und mein Gesicht in die Hände drückte, – jedenfalls hab ich dies meinem innern Verhalten nach getan und habe so verharrt. Damit schloß für mich diese Szene; damit schloß meine Beziehung zu Benno.

Trotzdem würde ich ja nie, im ganzen Leben nicht, imstande sein, die Liebe eines Mannes zu ertragen, der mich wirklich auf die Knie festbannen oder mich in meiner Individualität ähnlich vergewaltigen wollte, wie Benno es ehedem unwissentlich versucht hatte. Aber was hilft mir diese Erkenntnis? Hilft sie mir etwa dazu, nun auch voll und stark und wahrhaft hingebend zu lieben ohne diese furchtbaren Nervenreize? Nein! Wenn ich das seitdem je geglaubt habe, so erwies es sich sofort als ein bloßes Trugspiel, ja eben als ein unwillkürliches Spiel ohne Dauer und Tiefe. Es ist, wie wenn ich mich festgenagelt fühlte zwischen der Oberflächlichkeit Mutchens und der hysterischen Romantik der kleinen Verwachsenen, dazu bestimmt, zwischen diesen beiden Polen des Gefühls hin und her zu pendeln wie zwischen Leichtsinn und Wahnsinn –.

Denn ich kann wohl als Künstlerin entzückt und erregt werden, und zugleich mit tiefster Sympathie nach einem mir teuren Menschenwesen langen, – aber alles, was dem Weib in mir an den Nerv greift, alles, was instinktiv tiefer greift, als Freundschaft und Phantasie zusammen vermögen, – alles das ist dunkel jenem letzten Schauer verwandt, der vielleicht eine lange, unendliche Generationen lange Kette duldender und ihres Duldens seliger Frauen in mir wunderlich und widerspruchsvoll abschließt – –.

Auch meine Mutter gehörte ja in irgendeinem Sinne zu diesen Frauen.

In der Nacht, die der Szene mit Benno folgte, wachte sie plötzlich von dem unterdrückten Weinen auf, das aus meinem Bett hinüberdrang.

Sie richtete sich auf und horchte besorgt.

»Gute Nacht, mein liebes Kind?« sagte sie leise, fragend.

»Gute Nacht, liebe Mama«, erwiderte ich.

»Wann bist du denn von Rendants gekommen? Hast du noch gar nicht geschlafen?«

»Ich war gar nicht oben, Mama. Ich war bei Benno im Arbeitszimmer.«

»Aber Kind, du weintest ja! – – War Benno zu Hause?«

»Er kam nach Hause.«

Meine Mutter verstummte. Sie mochte erraten, daß es zwischen uns eine Aussprache gegeben hatte, denn nach einer längeren Pause hob sie wieder an:

»Adine, mein Kind, du verlangst zu viel vom Leben und von den Menschen. Du bringst dich noch um dein Glück. Alles in der Welt kostet Opfer, und am meisten das Glück. Mag sein, daß Benno manches anders will als du. Den heutigen Frauen scheint es schwer, dem Mann dienstbar zu sein, aber glaube mir, es ist noch das Beste, was wir haben, und ich bin es deinem lieben Vater auch immer gewesen. Auf die Länge lieben wir keinen Mann so recht, wie den, er uns befiehlt –«

»Ach Mama, das glaub ich gern.«

»Nun, – aber –?« meiner Mutter Stimme klang ängstlich gespannt.

»Aber Benno ist ganz andrer Meinung darüber, Mama.«

Meine Mutter verstummte wieder, diesmal völlig verblüfft. Sie hatte mir ja so gut zureden wollen und hatte mir nun, ohne es zu wissen, abgeredet. Lange ertrug sie das nicht, mein liebes Mütterchen. Und im Drange ihres Herzens, zu helfen und das Glück zu bauen, wie sie es meinte, verleugnete sie heldenmütig alle ihre heiligsten Überzeugungen für mich und sagte etwas unsicher:

»Ach Kind, Schattenseiten hat am Ende ja auch eine Ehe, wo der Mann herrscht. Du kannst dir doch denken, daß das nicht immer grade leicht für die Frau ist. Wenn ich so zurückdenke, ist es auch nicht immer angenehm gewesen.«

Ich mußte in all meiner Betrübnis lächeln, und ihre fromme Lüge rührte mich. Und plötzlich überfiel mich die Angst, die Mutter könnte jemals, durch einen unseligen Zufall, aus Bennos Wesen erraten, was ich diesen glauben ließ.

Darauf durfte ich es nicht ankommen lassen, dieser Möglichkeit mußte ich vorbeugen.

Und ich glitt aus dem Bett und schlich mich zu ihr hin. Ich tastete nach dem lieben Kopf im Nachthäubchen.

»Mama!« flüsterte ich, »gib mir noch einen Kuß.«

»Ja, mein Herzenskind. Weine nur nicht mehr. Ich kann’s nicht ertragen.«

»Nein, Mama. Aber höre, was ich dir sagen will. Sollte Benno einmal – du hast mir ja erzählt, weißt du, gestern morgen wie wir aufstanden, daß Benno sich Gedanken macht über mein Leben draußen. Nun, sollte dir einmal vorkommen, als ob er das wirklich tue, so achte nicht drauf. Laß ihn dabei, streite nicht mit ihm, – aber du, laß dich nicht davon anfechten.«

Die Mutter hatte sich hastig aufgerichtet. Sie griff ängstlich nach meinen Händen und zog sie an sich, wie um mich zu schützen.

»– Benno –? – – was ist geschehen? Sage mir, was geschehen ist! Hat Benno dir unrecht getan?! Weintest du deshalb? Das darf er nicht! Sag es mir, mein Kind. Wie darf er das tun! Kein Mensch soll dir ein Haar krümmen, hörst du? Und ich – ich lag hier so getrost und ruhig, und als ich schlafen ging, da dachte ich an euch beide, und ich dankte in meinem Herzen Benno, und betete zu Gott für sein Glück, für ihn und für dich. Und er – er ging hin und tat dir unrecht!«

Ich legte leise meine Hand auf die Lippen der Mutter und barg das Gesicht in dem Kissen neben ihrem Kopf. Mir wurde plötzlich so klar, – so ganz klar, daß, was ich Benno nur glauben ließ, ja doch eine Wahrheit war, wenn nicht heute, so doch morgen, und daß, gleichviel was ich als Künstlerin erreichen würde, aus meinem Liebesleben, aus meinem Leben als Weib, der Ernst verlorengegangen war.

Und mich überkam heimlich und heiß eine kindische Sehnsucht, mich zur Mutter zurückzuretten und zurück in die erste Jugend, die nicht wiederkam.

»Mama!« flüsterte ich, »Benno ist gut, du mißverstehst das: ihn mußt du lieb – sehr lieb mußt du ihn haben. Bete du nur getrost weiter für sein Glück, und hilf ihm zu einem Glück. Und für mich bete, – ach bete, Mama, – daß er unrecht behalte –!«

 

 

 

Lou Andreas-Salomé, aufgenommen im Photoatelier Elvira, München

Lou Andreas-Salomés oft gerühmte persönliche Ausstrahlung, ihre Bildung und intellektuelle Beweglichkeit, die Freundschaft mit namhaften Zeitgenossen und ihre unkonventionelle Lebensführung sicherten ihr einen Platz in der deutschen Kulturgeschichte. Ihr Leben war und ist Gegenstand von Biographien, Romanliteratur, Musiktheater (der Oper Lou Salomé von Giuseppe Sinopoli (Libretto: Karl Dietrich Gräwe) zum Beispiel, die 1981 in München uraufgeführt wurde) und anderen Texten, in denen ihre Kontakte zu Berühmtheiten der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte erörtert werden.

Verglichen damit fand ihr eigenes schriftstellerisches Werk seither wenig Beachtung – es verschwand hinter der außergewöhnlichen Geschichte ihres Lebens, dem will KUNO abhelfen. Als renommierte Autorin hatte sie an der Entwicklung der Positionen der Moderne um 1900 lebhaft mitgewirkt. In Romanen, Erzählungen, Essays, Theaterkritiken, zahlreichen Texten über Philosophie und Psychoanalyse, einem weitläufigen Briefwechsel beteiligte sie sich an den Diskussionen über grundlegende Fragen der Zeit.

Weiterführend → Das novellistische Jahr wäre ohne diesen Beitrag ärmer.