Schreiben! Schreiben dürfen! Das bedeutet: Träumen vor einem weißen Blatt Papier, unbewusstes Gekritzel, das Spiel der Feder, die rund um einen Tintenklecks kreist, die das unvollkommene Wort benagt, zerkratzt, mit kleinen Pfeilen spickt, es mit Fühlern und Tatzen verziert, bis es kein leserliches Wort mehr ist, sondern sich in ein fantastisches Insekt verwandelt hat und als verzauberter Schmetterling fortfliegt (S. 15)
Gibt es vergleichbare Gefühlsentladungen, mit denen eine gewisse Rénée Nére in ihrem 1910 auf Französisch erschienenen Roman ihre Leidenschaft beim Verfassen von Büchern zum Ausdruck bringt? Schreiben, das ist für die damals noch nicht berühmte Schriftstellerin Colette, „ein göttliches Fieber, das Wangen und Stirn durchglüht“. Schreiben, so ist hinzuzufügen, ist eine Parforce-Jagd aus den unbewussten Feldern der Phantasie hinauf in die lichten Höhen eines Alltags, in dem ein leidenschaftlich erzählendes Ich sich einem vagabundierenden Leben von den Fesseln der Ehe gelöst hat. Die 1873 in der Bourgogne geborene Sidonie Gabrielle Colette, deren literarisches Talent ihr erster Ehemann Henry Gauthier-Villas skrupellos ausnutzte, in dem er ihre erfolgreichen Romane unter seinem Namen publizieren ließ, setzte als Zwanzigjährige ihre Karriere in Paris fort. Sie ließ sich auch von ihrem zweiten Ehemann Gautier-Villas scheiden und führte von nun an das unabhängige, mühselige Leben einer Varieté-Künstlerin und einer Schriftstellerin, zumindest solange, wie ihre Bücher den Lebensunterhalt noch nicht absicherten. Sie wurde nun die Vagabundin, die Varieté-Künstlerin, die im Umkreis ihrer Berufskolleginnen und – kollegen ihre Freundschaften pflegte, ihre Verehrer auf Distanz hielt, nicht nur in Pariser Kabaretts auftrat, sondern auch auf Tourneen durch die französische Provinz ging, sehr zum Leidwesen eines gewissen Henry Dufferein-Chautel. Sie nennt ihn Max, macht sich lustig über dessen oft unbeholfene Annäherung, neckt ihn bei jeder Gelegenheit. Doch Max, Rentier, Erbe eines beträchtlichen Vermögens, lässt nicht locker. Eine leidenschaftliche, wohl eher platonische Liebesbeziehung entfaltet sich, skeptisch beäugt von ihren Arbeitskolleginnen und – kollegen, kritisch kommentiert von Brague, ihrem Berufskollegen, mit dem sie auf einer längeren Tournee durch Frankreichs Varietés unterwegs ist. Doch die leidenschaftlichen Liebesschwüre von Max bezirzen solange die Umworbene bis … nein, das Happyend bleibt aus. Adieu, mon cher, schreibt sie ihm, und entzieht sich dem sorgenlosen Leben an der Seite ihres Verehrers.
Der 1927 in der deutschsprachigen Erstveröffentlichung im Paul Zsolnay in Wien unter dem Titel „Rénée Néré. Das Schicksal einer Frau“ publizierte Roman erwies sich bald als wesentlicher Impuls für die feministische Bewegung in Deutschland, ein Verdienst, das sich in Frankreich bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs abzeichnete. Die lebendigen Dialoge, die freimütigen Monologe, die skrupellose Kritik an den männlichen Besitzansprüchen, der ständige Perspektivenwechsel zwischen Innen- und Außenwelten der Ich-Erzählerin, der leidenschaftliche Umgang mit Sprache – all diese literarischen Merkmale und sozialkritischen Ansprüche kommen auch in den beiden deutschsprachigen Editionen zum Tragen. Ganz besonders in der vorliegenden Neuauflage in der renommierten Edition ebersbach & simon mit der Übersetzerin Judith Petrus und der wunderbar-ausdrucksstarken Abbildung der Autorin auf dem Paperback. Nicht zuletzt auch aus diesem Grund sind die beiden anderen Neuauflagen von Colette „Mein literarischer Garten“ und „Die Katze“ in der Edition wärmstens zu empfehlen.
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La Vagabonde, von Colette. Aus dem Französischen von Grit Zoller, neu bearbeitet von Judith Petru. Berlin (ebersbach & simon) 2021. 272 S., 22,00 Euro. ISBN 978-3-86915-225-7.