Wellengewisper. Wer gestrandet ist, hört auf, sich den Realitäten des Alltags zu stellen. Max baut eine Sandburg. Beginnt mit feinem weissen Sand, der gut durch die Finger rieselt, um Strassen und Wege zu markieren. Aus dem schweren nassen Sand werden Festungen, mit Gräben drum herum, von Tunneln unterhöhlt. Es geht ihm darum, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln. Ein Gebäude muss nicht aus Mauersteinen oder Holz bestehen, es geht auch abstrakter… dafür muss Max die frischen Ideen an die Wäscheleine seines Geistes hängen.
Echolot. Nataly und Max sind hierher gekommen, um den Nil zu erleben. Sein Rauschen, Sprudeln und Rieseln. Seinen hurtigen oder verlangsamten Lauf. Sein Tosen oder Murmeln. Sein Farbenspiel. Sein Flüstern, sein Schweigen. Es sind Herzlaute, die sie erreichen, wenn der Nil zu ihnen spricht. Im fremden Fluss den Eigenen erkennen, den vertraut–unvertrauten, den hell–dunklen, den geschwätzig–unergründlichen. Der Fluss ihrer Kindheit scheint auf, wenn sie die Augen schliessen; der Rhein ist da, wenn sie die Augen öffnen, aufmerken, aufhorchen, und den verlorenen Fluss, die vergangene Zeit, so wiedergewinnen.
Das Abenteuer, den Nil zu befahren, seinem Lauf zu folgen, ist der Augenblick des gegenwärtigen Bildes. Das Nachklingen gesehener Bilder und das Erwarten, Erfühlen des kommenden Geschehens, der kommenden Bilder. In ihrem Blick steckt Unverständnis und wütende Erkenntnis, eine Ahnung von jener Trauer, vor der sie fliehen, und die ganze Hilflosigkeit eines Menschen, der am Ende seiner Weisheit angelangt ist. Realität ist etwas anderes als vorgegebene Bilder, sie denken daran mit einer Mischung aus Abgebrühtheit und Melancholie, Härte und Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach einer archetypischen Welt.
Ein Schluckauf erinnert Nataly an den Übergang des Lebens vom Wasser auf das Land. Kaulquappen können sowohl mit den Kiemen im Wasser als auch mit der Lunge an Land atmen. Damit diese Atmungssysteme nicht durcheinander geraten, tritt ein neuraler Mustergenerator in Kraft, der die Luftröhre blockiert. Jedes Tier wird am Nil für Nataly zur Epiphanie ihrer Vorstellungswelt; es gibt Kreaturen, die ihrem Unbewussten näher als andere stehen, wie die Kaule. Weil diese Amphibie aus dem Wasser kommt, rührt sie an eine prähistorische Herkunft, von der das fötale Dasein in ihre Lebenszeit reicht. Ihr zunehmendes Leichter–Werden verdankt Nataly einer nachhaltigeren Selbstvergewisserung.
Steter Neubeginn trifft auf ständige Veränderung. Es ist ein erregendes Gefühl, barfuss über den Sand zu gehen, den Tanggeruch in der Nase, Gischtgeschmack auf der Zunge, die Liebkosungen des Windes zu spüren und die peitschenden Wellenschläge zu hören. Die Harmonisierung der Welt scheint für den Moment geglückt. Am Strand ist es egal, woher man kommt. Es ist mit Badehosen und Bikinis so wie mit Schuluniformen, sie sind der gemeinsame Nenner, der die Menschen aller sozialen Klassen verbindet. Die Hosen balancieren sie auf den Hüftknochen, so dass jede Bewegung einem uneingelösten Versprechen ähnelt. Ihre Blicke signalisieren: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Hitze ist zu zweit leichter zu ertragen. Fleisch hat sein eigenes Erinnerungsvermögen, es ist weitaus weniger vergesslich als das geistige Gedächtnis. Hier bewegen sich die Menschen so, dass es egal ist, wie ihr Körper geformt ist.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
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Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.