Wenn ich ihn morgen in der Stadt sehe

 

Wenn ich ihn morgen in der Stadt sehe, rufe ich ihm zu: Guten Tag, Herr Geheimrat, Sie sind dran! Und dann fallen ein paar Lichtstrahlen vom Himmel durch die Luft und malen dem Tod ein paar Knochen zum Fraß auf den großen Platz vor der Universität. Aber das ist nur so eine Idee. Ich kann das, was in mir glaubt, einfach nicht totschlagen. Ich bin mein größter Widerspruch und sehe mir gelassen dabei zu, wie ich mich mit mir vertrage. Ach.

Es gibt viele Tode, aber wenige Auferstehungen.

Zweiter Schritt. Ich verließ die Kirche Saint Sulpice. Ich hatte zum ersten Mal geliebt. Ich hatte meine Unschuld verloren, jedenfalls den Teil meiner Unschuld, den ich loswerden wollte. Komm, du süße Todesstunde! Ich hatte diesen Tod erwartet mit Ungeduld und jahrelang. Sie sagte: „Komm mit!“ Sie zog mich tiefer in die Kirche hinein. Da war es dunkel und kühl. Ich lief barfuß über den Steinboden in den Schatten des Kreuzes. Da spürte ich ihre Wärme in mich hineinfließen, sie stieg in mir auf …

Am Portal sah ich mich noch einmal um: Ich begriff die Schönheit der Theologie in der Architektur, ich spürte den Gnomon und die Intarsien der Zeit. Ich könnte über die Bilder das Glauben noch erlernen, dachte ich, ich sah sie als Stürme gegen alle Vorbilder. Jedes Bild reichte dem anderen die Hand, da hing eine Seilschaft an der Wand. Ich sagte kein Wort, als wir uns liebten. Sie sagte mir kein Wort zum Abschied. Ich schaute zum Altar. Da war sie nicht mehr. Draußen erwartete mich die Wüste. Aber der Staub der Straße sang. Morgen komme ich wieder hierher, um die gleiche Stunde.

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.