Traumtänzer ∙ Revisited

Zurück in die Zukunft der 1990er Jahre

Hat mich der Teufel geritten, daß ich den anschließenden Artikel aus längst vergangenen Zeiten hervorhol, um ihn nach so vielen Jahren noch einmal zu veröffentlichen? Es kann nicht schaden, sag ich blauäugig (und sowohl Bensch als auch Kraus pflichten mir spontan bei, ei, ei), einmal wieder daran zu erinnern, daß Lyrik von jetzt nicht mit Lyrik von Jetzt einsetzt, sondern, naturgemäß, weit vorher – paar tausend Jahre laß ich mal weg: Ein (mit-)entscheidender Umbruch (davon abgesehen, daß die Lyrik auch während der 70er und 80er Jahre dank herausragender Marathonpoeten wie Volker Braun, Hans Magnus Enzensberger, Elke Erb, Walter Helmut Fritz, Ernst Jandl, Wulf Kirsten, Karl Krolow, Friederike Mayröcker, Christoph Meckel, Oskar Pastior und manch andrer mehr – ich denk an den Monolithen Rolf Dieter Brinkmann, aber auch an Nicolas Born und Jürgen Theobaldy – zu keiner Zeit seit den 50er Jahren in einer so unguten Verfassung war, wie manche Verächter gern behaupten) kam Ende der 80er Jahre mit Thomas Klings geschmacksverstärker – und auch das war ja nicht die Neuerfindung des Rades. (Von dem Lektüreschock hat sich trotzdem so mancher biedere Versschmied nie erholt).

Die im Vergleich zur Lyrik von jetzt nicht weniger vitalen 90er Jahre (in denen die Gedichtbücher im Schnitt deutlich höhere Auflagen hatten als heute – fast ungläubig erinnere ich mich der rund tausend verkauften Exemplare des blauen Schmetterlings) haben eine Reihe von Lyrikern hervorgebracht (von denen in diesen Zeiten verblüffend wenig nur noch die Rede zu sein scheint im Lyrikdiskurs), deren Gedichtbücher weiterhin, trotz der mächtigen Lyrikwelle, die in den Jahren nach 2000 über uns schwappt, sehr, sehr lebendig im Hirn herumtollen.

Ich denk, beispielsweise, an Marcel Beyers Falsches Futter, Durs Grünbeins d. J. grauzone morgens, Thomas Klings morsch, Barbara Köhlers Deutsches Roulette, Bert Papenfuß‘ routine in die romantik des alltags, Raoul Schrotts Hotels, die die Lyrik in jenem Jahrzehnt ganz schön aufgemischt haben. Gleichzeitig denke ich aber auch an die vielen Autoren und sonstigen Überzeugungstäter, deren Namen nicht so geläufig sind und die zwischenzeitlich gar von der Bildfläche verschwunden sind (in der 1999 erschienenen Monographie Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren kann man sich ein Bild von ihnen als Gestalt machen), und um die geht es (exemplarisch) in Traumtänzer · Revisited, den ich, alle Bedenken seitens Peer Quers (der ausnahmsweise einmal vollkommen recht hat) in den Wind schlagend, exakt in der Fassung belasse, die ich 1995/96 schrieb und die 1997 in der Chemnitzer Literaturzeitschrift Laterne veröffentlicht wurde.

Seit Beginn der 90er Jahre

will diese Welt wohl vollends aus den Fugen geraten. Ursa­chenforschung im Hinblick auf kultu­relle Ent­wicklungen scheint mir wegen der zwangs­läufigen Verflech­tungen mit den großen und kleinen nationalen und internationalen politi­schen Unruhen und Umwälzungen sowie der zu wenig distan­zierten Be­wußtseinslage zur Zeit noch ganz unmöglich zu sein. Meine Mutma­ßungen wären somit der Gefahr unterworfen, statt eines diffe­renzier­ten geistigen Spektrums lediglich meine enge egomorphe Sichtweise zu prä­sentieren.

Folglich kann es in meinem Text auch nicht darum gehen, warum in den 90er Jah­ren im deutschspra­chigen Raum mehr kreative Klein­verlage und Handpressen gegründet worden sind als je zuvor, son­dern daß dem so ist – ganz im Sinne von Joseph Beuys, der dem ›Daß‹ in vielerlei Hinsicht grund­sätzlich den unbe­dingten Primat vor dem ›Warum‹ gegeben hat.

Entwicklungen rufen – offenbar natur­gesetzlich – stets Gegenent­wicklungen hervor, und so finden wir in einer Zeit der zumindest äu­ßerlich perfektionistisch wir­kenden Hoch­glanzma­gazine auch (wie­der!) immer mehr ›Buchma­cher‹, die bewußt den ›altmodischen‹ Weg ge­hen: Gemeint sind die Verleger, Publizi­sten und Autoren, die selbst Hand anlegen, um ihre literarische Kunst an die Frau zu brin­gen, und die das Urmenschliche kulturellen Schaffens auf kreatürli­che Weise wieder ins Bewußtsein der Leser zu rücken versuchen. In der einen Edition entstehen dabei auch materiell wert­volle Künstler­bücher, in der anderen geht es darum, auf betont einfa­che Art und Weise originelle Texte zum Leser zu transportieren.

An­getrieben wer­den diese einzelgängerischen Über­zeugungstäter da­bei allerdings we­niger von einem idealistisch ange­hauchten Sen­dungsbe­wußtsein, sondern – ganz einfach – von der Lust am Machen, bei dem der kom­merzielle Aspekt zunächst einmal kei­nerlei Bedeu­tung hat und schließlich nur dazu dient, ein wenig das Überleben zu ermögli­chen. Diese Literatur- und Kunstmacher leben nicht von, son­dern mit ihren Boxen, Büchern und Broschüren, aber – wir können nun einmal nicht alles haben im Leben …

Ich lebe ja hier ganz westlich im Westen, da, wo Fuchs und Hase sich (noch) gute Nacht sa­gen und die Welt mit Brettern zugenagelt ist: im Sibirien Deutschlands, als quasi Zugerei­ster inmitten des kleinen Zwergvolks der Eifler in einem noch kleineren Dorf, wo es tatsäch­lich noch Misthaufen am Straßenrand gibt – einen davon habe ich in mei­nem Gedicht 1 berliner in sistig/eifel zu überregio­nalem Ruhm ver­holfen – und einige andere skurrile Ana­chronismen mehr: Kurz, es ist einmalig hier!

Aber davon wollte ich ja gar nicht schwärmen; nein, die vermeintlich negativen Aspekte meiner Le­bensrandlage beabsich­tigte ich an den Anfang meines Textes stellen: die Abwegigkeit eines be­schau­lichen, gesunden und ganzheitli­chen Landlebens im Zeitalter von Neurose, Smog und Verkehrskol­laps, die fehlenden literari­schen Dialoge, die kulturelle Abgelegenheit usw. Sicherlich ist diese Tatsa­che ein we­sentli­cher Grund dafür, daß ich im Laufe der Jahre so viele Kontakte in alle Welt geknüpft habe und die Mail Art aus diesem ver­wunsche­nen Eifeldörfchen in der Tat das gemacht hat, was ich 1986 – als ich noch lange nichts von Mail Art wußte – in angeheitertem Zu­stand zu Ri­chard Burns, dem englischen Dichter aus Cambridge, von dem ich unter anderem Tree (1989) und Black Light (1996) ins Deutsche übertragen habe, sagte: Sistig is the cultural na­vel of the world … (Ja, rümpfen Sie nur die Nase, aber wer einmal hier in die­ser kulturkargen Landschaft gewesen ist, wird mich verstehen: Man hat nur die Wahl zwischen Heu­len oder Hybris … Nein, mit den Wölfen heule ich nicht – – – obwohl die auch schon wieder, wenn auch vereinzelt, in waldigen Schluchten gesichtet werden. Echt wahr, kein Jägerlatein.)

Bonn und Haarbach, Mainz und Wien, Dresden, Halle an der Saale, Köln und Ber­lin sind Poststempel auf Kunstpostsendungen, deren Inhalte ich in diesem Aufsatz vorstellen möchte. Die Auswahl ist nicht zufällig. Denn was die Kleinverlage Corvinus Presse (Ber­lin) ∙ Das-Fröhliche-Wohnzimmer-Edition (Wien) ∙ Pips-Dada-Corporation (Bonn) ∙ Spinne/Buchlabor (Dresden) ∙ Teraz Mowie / Hybriden Verlag (Berlin) ∙ UNI/vers(;) (Halle an der Saale) ∙ uräus-Handpresse (Halle an der Saale) ∙ Ventile / Verlaxsfusjon amanita- & aygen-Verlag (Mainz) · Verlags­institut für Ganz & Garnix (Düsseldorf) ∙ ZWELFENbein / gesang der bucke­laale (Schwerin) bei allen Un­terschieden ver­eint, ist das Exzentrische, das Irre, das Rappel­köp­fige, das Spleenige, das Tolle, das Übergeschnappte, das Wahnsin­nige, das Vernunftlose und Ver­rückte. Hier sind ausschließlich Künstler als Herausgeber und Publizisten am Werk, die noch Nasen haben zum Riechen, Augen zum Gucken, Hände zum Anfassen …

Zum Glück hat sich das ja (wieder?) gewandelt in diesen letzten Jah­ren, die irgendwann ein­mal die 90er Jahre gewesen sein werden, in den immer lebendiger und zahlreicher werdenden alternativen Klein­verlagen, Minipressen und Literaturzeitschriften: daß der Trend hin zum Andersartigen, Leben­digen, Originellen, Originalen wieder von viel mehr Menschen geschätzt und gefördert wird als in den immer nur fast ausschließlich hochglanzpapierenen 80er Jah­ren …

Die hier vorzustellenden Editionen suchen zunächst einmal den sinn­lichen Kontakt zum Rezipienten: Das Verstehen, wenn überhaupt nö­tig nach einem vielleicht überwältigenden haptischen oder visuel­len ERLEB­NIS, stellt sich sicherlich und zwangsläufig am Ende der gei­stig-seeli­schen Rezeptions- und Perzeptionsvorgänge wie von selbst ein – nach­dem man sich immer und immer wieder mit dem Text (egal welcher Art) auseinandergesetzt hat … Denn eins will ich in der Kunst zu­nächst einmal überhaupt nicht: auf Teufel-komm-raus und mög­lichst SOFORT ein Kunstwerk verstehn: Was ver­stehn wir denn schon von unserem Mitmen­schen, von dieser Welt – – – vom Univer­sum ganz zu schweigen – sinnlos, also, daß so viele Le­ser und Be­trachter immer gleich jammern: Das (Bild, Ge­dicht usw.) verstehe ich nicht … Nein, nein, der Mensch besteht nicht aus Kopf allein …

1 · UnZeitGeist & UnKomMerz

Was fasziniert zahlreiche Künstler und Schriftsteller aus aller Welt so sehr an PIPS, der Objekt- & Literatur­zeitschrift für Un­ZeitGeist & UnKom­Merz, daß sie oft endlos viele Stunden im Jahr dafür arbeiten, um bloß in den ja nun seit der Mainzer Mini-Pressen-Messe 1995 preis­gekrönten Karton zu ge­langen …? (Dietmar Vollmer, Kölner Postkarten- und Stempelkünstler mit Witz, meinte in einem Fern­sehinterview, wenn der Pips-Karton von der Post gebracht werde, sei er aufgeregt wie als Kind an Weihnachten … Wird durch Pips also das Kind im Manne entlarvt?)

Jeder Beiträger – von denen es pro Ausgabe etwa 40 bis 50 aus aller Welt gibt – gestaltet sein Werk voll­ständig selbst – ein Blatt, ein Ob­jekt, ein Wasweißich – und zwar in diesem Jahr 98mal, so daß es von Herausgeberin Claudia Pütz in je­den der dreimal im diesem Jahr 98mal aufgelegten themenge­bunde­nen Kar­tons gelegt werden kann: Daraus ent­steht automatisch ein buntes Gemeinschaftskunst­werk, das natürlich voller literarisch-künstleri­scher Überraschungen steckt. Visuelle + experimentelle Poesie sind – wie bei Wohnzimmer, buckelaale, Teraz Mowie, Buchlabor & uni/vers(;) besonders stark vertreten.

In Zeiten der Massenproduk­tion von sehr oft völlig lieblos hergestell­ten Büchern und Zeitschriften mit banalem Inhalt sind diese in Kleinstauflagen erscheinenden Arte­fakte für mich zu Perlen ge­wor­den, die ich alltäg­lich in die Hand nehme, um wieder etwas Neues darin zu entdecken …

2 · O du fröhliche …

Wohnzimmer erscheint in der Wiener Edition Das Fröhliche Wohnzimmer und nennt sich im Unter­titel Zeitschrift für unbrauchbare Texte und Bilder. Mehr brauche ich zu dieser mit viel Copyart, Com­puterart und weiteren unartigen Experimentental­formen angefüllten ca. 45seitigen Zeitschrift (deren gelegentliche Sonderausgaben einem Autor gewidmet sind) wohl nicht zu sagen.

Immerhin wurde Fran­zobel, der auch zum (erweiterten) Wohn­zimmerkreis gehört, 1995 ebenfalls ausgezeichnet: mit dem In­geborg-Bachmann-Preis! Das hat mich – wie der V.O.-Stomps-Preis für Pips – sehr ge­freut (obwohl ich allen kulturellen Preisen eigentlich eher skeptisch gegenüber­stehe: Was hat man nicht schon alles gehört, wie die Preise da ver­schoben werden … Aber wenn’s dann we­nig­stens die Kleinen trifft: Bravo!)

Die Edition Das Fröhliche Wohnzimmer pu­bliziert nun allen Wi­drigkeiten zum Trotz – immer schwieriger wird es in den 90er Jah­ren, auch nur kleine Sum­men aus öffentlichen Kassen zu bekom­men – ebenfalls seit bald 12 Jahren seine völlig abseits des Mainstreams an­zusiedelnden quirligen Bücher, deren Ungewöhnlich­keit kaum be­schreib­bar, daher einfach ausprobiert werden muß.

Man­ches aus dem fröhlichen Programm rezipiere ich wie Musik, an­deres wie Bilder, auch wenn es sich ›eigentlich‹ um Literatur han­delt, eine Literaturart allerdings, bei der am laufenden Band eine na­türliche Verquickung ikonographi­scher, linguistischer und interme­dialer Ebe­nen stattfin­det, die mich immer wieder in einen total unge­wöhnlichen Erregungs­zustand (einem spezifischen Gemisch aus Ge­fühlswallun­gen und Ge­dankensprüngen) versetzt, die tatsächlich eine hübsch-häßliche Wohn­zimmerstimmung ver­breitet – sicherlich nicht bloß bei mir …

3 · Buckelaale · Zwelfenbein

Hauptsache original und originell – und je einfacher die Mittel, um so besser – lautet das Motto von Alex Nitsche (einem Men­schen, dessen lyrische Stimme immer prägnanter und – zum Glück – auch immer ge­fragter wird: Bei Social-Beat- und Off-Lyrik-Aktionen – was im­mer hinter den Begrif­fen stecken mag, derer sich die Veranstal­ter oft unre­flektiert bedienen – liest man vermehrt seinen Namen, der zur Zeit Ga­rant ist für starke Lyrik) und der mittlerweile im Bayern­lande ver­sucht, die nächste Ausgabe des mail-art-orientierten Maga­zins gesang der buckelaale auf die Beine zu stellen, und es dauert & dauert, und dann hört man neuer­dings aus allen Himmelsrichtungen, daß aus der Edi­tion Heulsuse und der gleichnamigen Zeitschrift, die Nitsche mit Simone Dankert in Schwerin he­rausgebracht hat, nun die Nachfol­geedition ZWELFENbein entstanden ist, an der auch Tom Toys und Vapet beteiligt sind. (Allerdings – nix Genaues weiß ich nicht …)

Was Alex Nitsche daneben noch alles an kleinen Heul­suse-Publika­tionen – z. T. im Hosentaschen­format – druckt und kleckst und bindet und tut und macht: einfach + schön. Besonders gefallen hat mir, was Nitsche zusammen mit Tom Toys ge­macht hat, nämlich: ELV, von dem ich kürzlich eine neue Auflage gesehen habe: geschnittene Ge­dichte und Grafiken, handgedruckt und handgebunden: fein! Noch neu ist ein Bändchen mit Gedichten von Hadayatullah Hübsch, das Nit­sche auf der dies­jährigen Mainzer Mini-Pressen-Messe präsentierte. Bleiben wir also geduldig und warten weiter auf die neue Ausgabe von der gesang der buckelaale – journal für visuelles chaos u. seltsamen text, des­sen Format – DIN A 4 halbiert – bereits ins Auge springt und das förmlich nach Farbe riecht!

4 · Hybriden

Der (oder die) Hybride ist ein Mischling, der aus einer (auch be­wuß­ten) Kreuzung her­vorgegangen ist. Somit ist der Verlagsname von vornherein gleichzeitig Programm: Hartmut Andryczuk kreuzt, und zwar vornehmlich visuelle Poesie und verbale Kunst, all das, was sich unter dem Begriff des Kosmo­graphischen subsumieren läßt, Kunstformen also, der sich nur wenige Menschen (ob rezeptiv oder produktiv) widmen.

Folgerichtig erscheinen im Hybriden Verlag aus­schließlich Buch­kunstwerke in Klein- und Kleinst­auflagen von 1, 2, 4, 13, 21, 55 oder 99 Exemplaren, um nur ein paar der editorisch be­trachtet sehr unge­wöhnlichen Zahlen zu nennen. Eines der hybriden Produkte heißt beispielsweise Chimären. Hierzu hat An­dryczuk 15 Künstlerinnen und Künstler eingeladen, je 2 x 21 themenbezogene Original­arbeiten einzusenden. Aus den eingesandten Beiträgen ent­steht das Gesamt­kunstwerk Buch, von dem jeder Beiträger selbstver­ständlich ein Ex­emplar als Honorarausgleich erhält. Ein solches Buch hat natürlich seinen Preis. 395, 550 oder gar 1400 DM sind Summen, die meine Leser hier vielleicht über­raschen, dem bibliophi­len Sammler aber kei­neswegs zu hoch sind, wenn es um die Vervoll­ständigung einer Kol­lektion geht. Die meisten Titel im Hybriden Ver­lag sind denn auch vergriffen.

Regelmäßig erscheint im Hybriden Verlag das kosmographisch orien­tierte Magazin Teraz Mowie, dessen zunächst unmöglich erschei­nende Titeldechiffrierung späte­stens dann ganz einfach wird, wenn man erfährt, daß Teraz mowie pol­nisch ist: Sprich jetzt! heißt es, nicht mehr und nicht weniger … Seit 1989 gibt Andryczuk diese Künstler- und Poeten­zeitschrift heraus, deren Ziel in erster Linie die krea­tive Kommunikation des internatio­nalen Netzwerks der visuellen Poesie anstrebt und fördert, wie es im Impressum einer jeden Aus­gabe heißt.

Das alles hat mit dem üblichen Buch oder der gängigen Zeitschrift ja nur noch wenig gemein: Jede Ausgabe von Teraz Mowie beinhaltet z.B. eine Originalbeilage, ver­steckt in ei­nem eingeklebten Briefum­schlag – die Nummer 22 vom Dezember 1996 gar deren zwei.

Ob Drahtbindung, Schuhkarton, schwarzer Briefumschlag oder polni­sche Sanitätstüte – die Ar­beits­mit­tel und -techniken im Hybriden Verlag des Hartmut Andryczuk sind durch und durch ungewöhn­lich und zwingen den eingestanzten Blickwinkel in andere, vielleicht viel zu selten eingeschlagene Rich­tungen. Und immer wieder sorgt der Hybride für neue Überraschun­gen: Hybridenland heißt die neue Edi­tion, die ab Ende 1997 Teraz Mowie ablösen wird: Hybriden­land ist als Buchkassette, die aus­schließlich aus Originalarbeiten verschie­denster Art bestehen wird. Die Startauflage besteht aus 25 Exempla­ren, deren Preis um die 400 DM liegen wird. Seit einigen Monaten verschickt Andryczuk Künst­lerpostkarten, auf die er auch zumeist ›Ant­worten‹ erhält. Außerdem verschickt er fadengebun­dene Schul­hefte, die von Leuten wie Pierre Garnier, Jörg Kowalski, Ulla Rohr u.v.a. ›gefüllt‹ zurück­geschickt werden. Neue Künstlerbü­cher sind in Vorbereitung. Wir sind ge­spannt …

5 · Ventilieren

Die Mainzer Literaturzeitschrift Ventile ist ebenfalls als weih­nachtliche Auspack­stimmung verbrei­tende Kunterbuntwun­dertüte angelegt, dabei aber weniger international, sondern haupt­sächlich an der deutschsprachigen Literaturszene interessiert: Erst sieben Ausga­ben sind von dieser Literaturzeit­schrift erschienen, aber Marcus We­ber & Dr. Treznok haben ihr von Beginn an einen unver­wechsel­baren (kolorierten) Stempel aufgedrückt.

Im Briefkopf nennen sie sich er­LEBniszeitschrift und zitieren V.O. Stomps: Ich will drucken, was die großen Verlage nicht riskieren können oder wollen. Ich suche keine Bestseller, sondern junge Ta­lente, das Abseitige, das Experi­ment und auch das inhaltlich Ge­wagte.

Wie eine Wundertüte gefüllt, bietet Ven­tile Textheft und jede Menge Beilagen: vor allem die unver­wechselba­ren (wunderschönen) Hand­drucke, die dem Standort Mainz alle Ehre machen. Auch der sehr le­bendige Inhalt von Ventile läßt auf einen in­stinktsicheren Literaturge­schmack schließen, der eindeutig editori­sche Fußspuren hinterläßt – durchgängig. Da geht es zwar kun­terbunt und da­dawild und furchtbar eigenwillig zu, aber das Ganze ist durch­dacht und hat – Stil! Kompli­ment, meine Her­ren & Ladies! Schließlich liegt in jeder Ventile-Tüte noch der Ventilator, die von Brandstifter Stefan Brand herausgege­bene Zeitschrift für Musik- und Buchrezen­sionen, für Dada und Expe­riment (die Sie aber auch unabhängig von Ventileerwerben können).

Unge­wöhnlich weiterhin, daß Weber und Treznok nicht nur gemein­sam diese Literaturzeitschrift Ventile publi­zieren, nein, beide haben auch noch ihren eigenen klei­nen Verlag: Bei Weber ist es der amanita-verlag, der die Reihe Falt­blattgeschichten mit handgesetzten und auf einer Gu­tenbergschen Handpresse ge­druckten Umschlägen heraus­bringt, während Dr. Treznok sich in sei­nem AygenVerlag haupt­sächlich selber verlegt: Wer sich in Zeiten von (sinnlosen) Recht­schreibreformen nicht mit die­sem Lyriqqer be­schäftigt, muß sich nicht wundern, wenn er/sie ei­nes Tages nicht mehr mitreden kann!!!

6 · Lichtgestalt

Als Nachruf sei hier mittendrin zwischen all den quicklebendigen Herausgebern an den Klassiker der Zeitschriften für (internatio­nale) visuelle Poesie – Uni/vers(;) – erinnert, der in Halle an der Saale von Guillermo Deisler von 1988 bis 1995 herausgegeben wurde. Guil­lermo Deisler (v.a. auch als Gra­fiker bekannt gewordener Gestal­ter zahlreicher Künstlerbü­cher) verstarb im Herbst des Jahres 1995, we­nige Wochen nachdem Biby Wintjes, der König der Kleinverleger (Claudia Pütz) das Zeitliche gesegnet hatte.

Die Menschen, die Guil­lermo Deisler gekannt haben, werden diese Lichtgestalt als Kommu­nikations­künstler schlechthin im Gedächtnis behalten. Vom Prinzip her ähnlich wie Pips erschien Uni/vers(;) ohne Themenbin­dung im din-a-5-For­mat, jeweils in 100er Auflage, wobei auch hier die einzel­nen Blätter mög­lichst per Hand gestaltet wurden. Ein Leckerbissen für den Sammler von originaler visual & experimen­tal poetry.

Wie bei Pips oder buckelaale findet man Collagen, Frottagen, Holz­schnitte, Linolschnitte, Radierun­gen, Zeichnungen, Fotos usw. In UNI/vers(;) treffen sich Kosmographische Poesie und Mail Art wie selbstverständ­lich, und nicht zuletzt dank dieser wirklich herausra­genden Publika­tion (von der 35 Ausgaben erschienen sind) ist diese kommu­nikative Kunstform Mail Art auch hierzulande ein wenig be­kannter geworden: Für mich ist UNI/vers(;) übrigens überhaupt der Einstieg in eine Kunstland­schaft gewesen, die mir bis 1991 gänzlich unbekannt war.

7 · Kontaktismus

→ Und nicht nur der Mail Artist …

Das hierzu­lande so be­liebte Naserümpfen über den Eigenverlag, der nicht nur von V. O. Stomps als not­wendiges Mittel der Eigeninitiative in ei­ner auch in der Kultur stark von ›Vitamin B‹ be­stimmten Welt betrachtet wird, ist gerade bei einem nicht ›marktkonformen‹ Dich­ter wie Tom Toys bzw. dessen Ganz&Garnix-Verlag vollkommen un­angebracht.

Tom Toys – fälschli­cherweise immer wieder zu den Hard-Core-Social-Beat-Autoren ge­zählt – ist ein absolut autonomer Künstler-Schrift­steller, der sein ge­dankliches Konzept beständig fortschreibt und sich bewußt weiterzu­entwic­keln sucht. Die von ihm bis hin zur Bin­dung/Heftung selbst ge­stalteten Werke – oft sind die Gedichte auch noch vom ihm umzeich­net – sind somit außen wie innen unge­wöhn­lich und zeu­gen von einem schaffenden Geist und Menschen, der in dieser Vitalität unserer Kul­tur nur guttun kann – egal, wie man zu den Inhalten und Formen sei­ner Texte und seiner eignen Art als Mensch und Künstler stehen mag.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch sein En­ga­gement für das von ihm erfundene S.E.N.F.-Blatt (Nachfolger von Schmut­zengel), das als monatliches Kommunikati­onsforum für alle die Dichter und Künstler gedacht ist, die sich un­tereinander stärken und nicht von ei­nem kapitalunter­wanderten Kul­turbetrieb abhängig sein wollen.

Es tut seine Wirkung – wenn auch im kleinen! Ich habe Tom Toys mehrfach bei (u.a. auch von ihm organi­sierten) Off-Lyrik-Veran­stal­tungen erlebt und kann nur sagen: Dieser Mensch und sein Werk sind identisch, in sich stimmig und integer. Leider wird er viel zu oft miß­verstanden, weil viele Leute mißtrau­isch werden, wenn die Dinge wirklich beim Namen genannt, die Begriffe beim Schopf ge­packt und die Phänomene auf den Punkt gebracht werden – und zwar scho­nungslos und wahrheits­getreu. Die Suche nach Licht, Liebe und Sinn prägen diese von starkem seins- und echtheits­betonten Sendungsbe­wußtsein geprägten Texte, deren Besonderheit weniger in formaler Durchgereiftheit als in ihrer nach Wahrhaftigkeit suchenden Authen­tizität liegen. Tom Toys‘ Büchlein und Broschüren sind jeweils Stücke eines unge­heu­ren geistigen Steinbruchs, aus dem noch mancher Rohling heraus­gehauen werden wird. Soeben finde ich auf der Seite 69 von Rose Ausländers Ge­dichtband Ich zähl die Sterne meiner Worte folgendes Gedicht, das ich Tom Toys abschließend schenken möchte:

Ich sehne mich
Nach Licht und Liebe
Doch niemand kommt
Ich bin allein
 
Mein Schöpfer sagt
Bald wirst du fliegen
Und einen nackten
Engel sehn

 

8 · Spinnen

Zu den eher stillen Künstlerbuchmachern gehört Dirk Fröh­lich, der in seinem Dresdner Gartenhaus Buchlabor Die Spinne kreiert bzw. ediert, und das jeweils unisono mit 16 an deren Künst­lern/Schriftstellern. In 20er Auflagen erscheinen die wertvollen, erst­klas­sig (und sehr ungewöhnlich) gebundenen Künstlerbücher. Etwa 70mal hat Fröhlich dieses Kunststück mittlerweile vollbracht.

Zahl­reiche Künstler und Autoren, die auf dieser Welt mit Mail Art und/oder visueller Poesie und ex­perimenteller Kunst zu tun haben, haben hier sicherlich schon ihre Visitenkarte abgegeben. Das edito­rische Prinzip gleicht dem von Pips und UNI/vers(;), nur entste­hen durch die extrem kleine Auflage und die phantastische Bindung Bücher, die quasi unbezahlbar sind: Kaufen kann man sie denn auch nicht – jeder Bei­träger erhält sein Honorarexemplar, und die drei überzähligen Exemplare gehen in die drei großen deutschen Buch­sammlungen nach Bonn, Frankfurt und Leipzig. Erwerben kann man allerdings von den Büchern kopierte Hefte, die auch einen guten Ein­druck von dem vermitteln, was im Buchlabor passiert.

Seit einiger Zeit publiziert Fröhlich auch Einzeltitel – Lyrik und kurze Prosa – in sehr schönen leinen­gebundenen Büchern: Susanne Alt­mann, Caroline Hartge, Andreas S. Berndt und gehören zu den Auto­ren einer lite­rarischen Reihe, die in einer Auf­lage von 120 Exem­plaren publiziert wird und mit Preisen zwischen 24 und 30 DM au­ßeror­dentlich preis­wert ist.

9 · Buchkünstler

In der Beurteilung der buchkünstlerischen Qualität, die Verleger und Herausgeber Hen­drik Liersch nun schon anhand von über 50 Büchern seit der Verlagsgründung der Corvinus Presse im Jahre 1990 unter Beweis gestellt hat, ist sich die Kritik absolut einig: erst­klassige Gestaltung und Bindung zeichnen diese Bücher aus, deren Markenzeichen Originalmarmorpa­pierumschlag, Blockbuch, Kar­toneinband mit japanischer Bindung, Rückstichbroschur mit Handfa­denheftung, Originalgraphik, Handsatz und Buchdruck und/oder si­gnierte und nume­rierte Vorzugsausgaben sind, deren Preisgestaltung die außerordentlich wohlfeile Volksausgabe ermöglicht. 1991, 1992 und 1994 veröffentlichte ich bei der Corvinus Presse die Gedichtbände Mittendrin, Stillstand in der Arena sowie Der blaue Schmetterling.

Mit Ewa Boura (in Thessaloniki geboren, in London studiert, in Ber­lin le­bend) und ihrem Gedicht­band Das erste Buch Eytyxia hält die Corvinus Presse eine weitere Überraschung für ihre Leser und Sammler bereit: In schwarzes Leinen eingehüllt, wird hier ein Künstlerbuch in einer Auflage von 50 Exemplaren präsentiert, das in reiner Handarbeit ent­standen ist: Die Gedichte sind handgesetzt und handgedruckt, fünf originale Radierungen von Katharina Kranichfeld variieren Ewa Bou­ras Thema – Erotik – in eindringlicher Manier. La­ko­nisch, emphatisch, metaphorisch, chiffriert und wortspiele­risch nä­hert sich die Dichterin in ei­nem Dutzend freirhythmisch verfaßter Ge­dichte dem lebensbe­herrschenden Thema von Sexua­lität, Liebe, Ero­tik:

Ein Wind stößt zurück
die Zukunft in den Hoden.
Ein Grau tönt ins Ge­birge hinun­ter
und siehe da
eine Taube ist geboren.

Sparsam, beinah knauserig mit Worten haushaltend, zwingt uns Ewa Boura zur Reflexion über ein Thema, das die Dichterin durch ihren Stil echt und faszinierend interessant macht.

10 · Künstlerbuch

Am 17. Dezember 1994 hätte Hans Henny Jahnn, tatsächlich einer der bedeutendsten und zugleich am wenigsten gelesenen deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, seinen 100. Geburtstag gefeiert. Grund genug für die gutbürgerlichen Feuilletons, die Vielseitigkeit und Monumentalität dieses bür­gerschreckenden Schreibmonomanen zu preisen, als gelte es einen neuen Volkskulturhelden zu ent­decken.

Ganz andere Wege geht seit ihrer Gründung vor 6 Jahren die uräus-Handpresse aus Halle an der Saale, die nach Mozart 1991, Kolumbus 1992 und Hölderlin 1993 zum Hans-Henny-Jahnn-Almanach 1994 einlud, der am 17.12.94 er­schien. Bei diesem Almanach (1995 übri­gens Novalis, 1996 dem Westdeutschen Zyklus von 1836 und 1997 Heinrich Heine gewidmet) handelt es sich um ein jeweils in 100er Auflage er­scheinendes Künstlerbuch, das von etwa 25 Künstler­schriftstellern mit originalgra­phischen, handgesetzten, collagierten Beiträgen aller Art (kreativ, kritisch, meditativ, assoziativ, sub­jek­tiv, originell) gestaltet, von uräus-Verleger Hans-Ulrich Prautzsch profes­sionell herausgegeben und von Bernd Reinhardt in Halbleinen und Karton einfach, aber tadellos gebunden wird.

500 DM kostet diese z.B. auch immer mit Kaltnadelradierungen und Lithographien berei­cherte Rari­tät, zwischen deren Buchdeckeln 1994 eine Jahnn-Hom­mage entstanden ist, die zu einer lebendigen Ausein­andersetzung mit einem Schriftsteller herausfordert, von dem zu hof­fen ist, daß seine mammu­tige Roman-Trilogie Fluß ohne Ufer (über 2200 Seiten umfas­send) nicht nur neureiche Wohnzimmer­schränke ziert, sondern auch, wenigstens teilweise, gelesen wird.

Der Hans-Henny-Jahnn-Almanach 1994 ist die 10. Publikation der uräus-Handpresse, die u.a. auch Bü­cher von und mit Hadayatullah Hübsch und Guillermo Deisler ge­macht hat: Handsatz und Hand- bzw. Buchdruck sowie Originalgra­phik sind die Markenzeichen dieses kleinen Verlags, dem zu wün­schen ist, daß er es schafft, sich gegen die schier unüberwindlich er­scheinenden Marktgesetze derart durch­zusetzen, daß wenigstens ›Überleben‹ garantiert ist.

 

Mit diesen kreativ tätigen Menschen, die ich hier kurz (und exemplarisch für eine schier unüberschaubar gewordene alternative Kunst- und Literaturwelt, in der es nur so wimmelt von skurri­len Überzeugungstätern aller Art) vorgestellt habe, habe ich seit Beginn der 90er mehr oder weniger kommuni­kativ & kon­struktiv zusammen gearbeitet. Egal, ob die ge­meinsam Wegstrecke kurz oder von längerer Dauer ge­wesen ist: Sie haben meinen Lebenswandel entscheidend mit be­einflußt und in die Richtung gedrängt, die mich – glückli­cherweise – heute bestimmt! Von Hartmut Andryczuk stammt der Begriff Communication Art, der die hier vorge­stellten Magazine – so verschieden sie im einzelnen auch wieder sind – stark miteinander im Poetry & Art Network verbin­det. Indem wir einander auf dem Post­weg begegnen, verwan­deln wir unsere Briefkästen in Kunst­galerien & Bibliotheken.

(1995/96)

 

 

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.