Die Sektion

 

Der Tote lag allein und nackt auf einem Weißen Tisch in dem großen Saal, in dem bedrückenden Weiß, der grausamen Nüchternheit des Operationssaales, in dem noch die Schreie unendlicher Qualen zu zittern schienen.

Die Mittagssonne bedeckte ihn und ließ auf seiner Stirn die Totenflecken aufwachen; sie zauberte aus seinem nackten Bauch ein helles Grün und blähte ihn auf wie einen großen Wassersack.

Sein Leib glich einem riesigen schillernden Blumenkelch, einer geheimnisvollen Pflanze aus indischen Urwäldern, die jemand schüchtern vor den Altar des Todes gelegt hatte.

Prächtige rote und blaue Farben wuchsen an seinen Lenden entlang, und in der Hitze barst langsam wie eine rote Ackerfurche die große Wunde unter seinem Nabel, die einen furchtbaren Duft ausströmte.

Die Ärzte traten ein. Ein paar freundliche Männer in weißen Kitteln mit Schmissen und goldenen Zwickern.

Sie traten an den Toten heran und sahen ihn sich an, mit Interesse, unter wissenschaftlichen Gesprächen.

Sie nahmen aus den weißen Schränken ihr Sezierzeug heraus, weiße Kästen voll von Hämmern, Knochensägen mit starken Zähnen, Feilen, gräßliche Batterien voll von Pinzetten, kleine Bestecke voll riesiger Nadeln, die wie krumme Geierschnäbel ewig nach Fleisch zu schreien schienen.

Sie begannen ihr gräßliches Handwerk. Sie glichen furchtbaren Folterknechten, über ihre Hände strömte das Blut, und sie tauchten sie immer tiefer in den kalten Leichnam ein und holten seinen Inhalt heraus, weißen Köchen gleich, die eine Gans ausnehmen.

Um ihre Arme wanden sich die Därme, grüngelbe Schlangen, und der Kot troff über ihre Kittel, eine warme, faulige Flüssigkeit. Sie stachen die Blase auf, der kalte Harn schimmerte darin wie ein gelber Wein. Sie schütteten ihn in große Schalen; er stank scharf und beizend wie Salmiak.

Aber der Tote schlief. Er ließ sich geduldig hin- und herzerren, an seinen Haaren hin- und herraufen, er schlief.

Und während die Schläge der Hämmer auf seinem Kopfe dröhnten, wachte ein Traum, ein Rest von Liebe in ihm auf, wie eine Fackel, die hinein in seine Nacht leuchtete.

Vor dem großen Fenster tat sich ein großer weiter Himmel auf, gefüllt von kleinen weißen Wölkchen, die in dem Lichte schwammen, in der Nachmittagsstille, wie kleine, weiße Götter. Und die Schwalben reisten hoch oben im Blauen, zitternd in der warmen Julisonne.

Das schwarze Blut des Todes rann über die blaue Fäulnis seiner Stirn. Es verdunstete in der Hitze zu einer schrecklichen Wolke, und die Verwesung des Todes kroch mit ihren bunten Krallen über ihn hin. Seine Haut begann auseinander zu fließen, sein Bauch wurde weiß wie der eines Aales unter den gierigen Fingern der Ärzte, die in dem feuchten Fleisch ihre Arme bis an die Ellenbogen badeten.

Die Verwesung zog den Mund des Toten auseinander, er schien zu lächeln, er träumte von einem seligen Gestirn, von einem duftenden Sommerabend. Seine verfließenden Lippen zitterten wie unter einem flüchtigen Kusse.

»Wie ich dich liebe. Ich habe dich so geliebt. Soll ich dir sagen, wie ich dich liebe? Wie du durch die Mohnfelder gingest, selber eine duftende Mohnflamme, hattest du den ganzen Abend in dich getrunken. Und dein Kleid, das um deine Knöchel bauschte, war wie eine Welle von Feuer in der untergehenden Sonne. Aber dein Kopf neigte sich in dem Lichte, und dein Haar brannte noch und flammte von allen meinen Küssen.

So gingest du dahin und sahst dich immer nach mir um. Und die Laterne in deiner Hand schwankte wie eine glühende Rose lange noch fort in der Dämmerung.

Ich werde dich morgen wiedersehen. Hier unter dem Fenster der Kapelle, hier, wo das Licht der Kerzen herausfällt und dein Haar in einen goldenen Wald verwandelt, hier, wo sich die Narzissen an deine Knöchel schmiegen, zärtlich, wie zarte Küsse.

Ich werde dich wiedersehen alle Abende um die Stunde der Dämmerung. Wir werden uns nie verlassen. Wie ich dich liebe! Soll ich dir sagen, wie ich dich liebe?«

Und der Tote zitterte leise vor Seligkeit auf seinem weißen Totentische, während die eisernen Meißel in den Händen der Ärzte die Knochen seiner Schläfe aufbrachen.

 

 

***

Der Dieb. Ein Novellenbuch von Georg Heym. (postum hg. 1913)

Bei Georg Heyms „Der Dieb, ein Novellenbuch“ handelt es sich um einen Buch mit expressionistischen Kurznovellen: „Der fünfte Oktober“, „Der Irre“, „Die Sektion“, „Jonathan“, „Das Schiff“, „Ein Nachmittag“ und „Der Dieb“. Wir lesen Porträts von Außenseitertypen, deren aufgestauter Lebenshass entweder in physische Gewalt umschlägt oder die an der psychischen Gewalt einer kalten Umwelt zugrunde gehen. Was der Mensch nicht dahinrafft, erledigt schließlich die Natur. Doch alle, ob nun verroht oder sensibel, scheinen sie eins zu suchen: Halt, Verständnis, Liebe. Der Irre sehnt sich auf seinem Rachefeldzug, in Momenten, in denen ihm seine Schreckenstaten bewusst werden, nach dem verhassten Arzt. Jonathan muss die Sehnsucht nach Wärme und Zuneigung mit seinen zwei Beinen bezahlen. Am abstraktesten wird die Sehnsucht nach Beachtung in der Liebe des Diebes zu da Vincis „Mona Lisa“, die ihre ablehnende Haltung und Arroganz gegen ihn mit der Vernichtung büßen muss. Dem Leser bleibt die Erkenntnis: „Wir alle sind Jäger und Gejagte, Täter und Opfer. Das Glück lässt sich ohne Leid nicht erfahren.“ Uns bleibt die Ungewissheit, ob man Heyms einziges Prosawerk großartig oder abscheulich finden soll.

 

Weiterführend

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.