Bühnendrehung. Am Nachbartisch eine mitteljunge Frau, Fliegerjacke, schwarzer Igelkopf, ganz sicher vom Theater gegenüber. Als wäre ich in eine Hardcore-Situation gerutscht … Sie lippt am Espressotässchen, als wäre es eine ganz spezielle Muschel in der Rolle, die sie gerade spielt. Garantiert so eine dekonstruktivistische Regieidee für ein Tennessee-Williams-Stück mit Slapstick am Schluss. Ob sie kapiert, wie sie da vergewaltigt wird als Körper narzisstischer Projektionen? Glaube ich kaum. Als ich ihr ins Gesicht sehe, bläst sie eine riesige Luftmatratze mit exorbitanten Gumminippeln auf. Als ich nach ein paar Minuten noch einmal hinsehe, legt sie Hand an ihr erigiertes Ego. Ich glaube, Frauen tun den ganzen Tag nichts anderes. Sie brauchen nur ein paar arme Kulissen, um sich als Oper zu inszenieren. Wir sehen ihre Träume und Wunden… da springt ein Mädchen im kurzen bunten Schmetterlingsrock übers Seil und durch Himmel und Hölle, ein Junge reitet auf einem Drachen, der Feuer speit. Im Hintergrund eine Yacht unterm rostigen Himmel an irgend so einer kleinasiatischen Touriküste.
Ich rauche die ungezählte vorletzte Zigarette, falle ins Schwarze Loch meines inneren Rauschens und rede wieder mit mir und frage mich: Was will ich von dieser Frau da in ihrem schwarzbraunen Fascholeder, wenn ich sie sowieso gleich tot schieße, und frage sie einfach:
„Warum spielst du überhaupt mit in diesem Scheißstück?“
Sie sagt: „Das Stück spielt mit mir.“
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.