«Ariane, jeune fille russe», 1920 in der Editions de la sirène in Paris publiziert, für den Prix Concourt nominiert, ist unter sehr verschiedenen Aspekten ein ungewöhnlicher Roman. Der geographische Hintergrund der Romanhandlung bildet das berühmte Empire Hotel London in Sankt Petersburg und prachtvolle Villen im Zentrum der Hauptstadt des Zarenreichs. Noch war der russische Adel von den Bolschewiki nicht verjagt worden, noch bildeten die Kaufmannsgilden den Kern der wohlhabenden Bürgerschicht, noch hatte die Februarrevolution des Jahres 1917 mit dem Sturz des Zaren Nikolai II. nicht stattgefunden, noch feierte sich die hauptstädtische Gesellschaft scheinbar ungestört von Weltkriegsgeschehen und drohenden sozialen Unruhen. Und in dieser friedlichen Atmosphäre setzt auch die Romanhandlung ein.
Eine Gymnasiastin namens Ariane Nikolajewna verlässt im Morgengrauen durch einen Seiteneingang das Nobel-Hotel. Mit einer kaltschnäuzigen Bemerkung kanzelt sie einen jungen Liebhaber ab, der sich bei ihr entschuldigen will wegen seines aufdringlichen Verhaltens. Und schon ist die Figur der emanzipierten Heldin für den Handlungsplot des Romans entworfen. Klug ist, attraktiv, und verblüffend unabhängig von ihrem sozialen Umfeld. Das beweist sie wenig später bei der Abschlußprüfung im Znamenski-Gymnasium, als sie einen Vortrag über den Prälaten von Nowgorod hält. In ihrem Auftreten ist sie so kompetent, dass alle Anwesenden sie bewundern. Ariane aber reagiert darauf mit Gelassenheit und Gesten einer Selbstverständlichkeit, die das Lehrpersonal verblüfft.
Auch in ihrer gesellschaftlichen Entourage wird sie bewundert. Mutig ist sie, denn sie behandelt ihre häufig wechselnden Liebhaber aus dem großbürgerlichen Milieu mit Noblesse und ungeachtet ihres jugendlichen Alters mit einer verblüffenden Nonchalance. Schlau ist sie, weil sie Männer mit einer geschickten Mischung aus Hochmut und Spott überrascht, manchmal auch aus berechnender Bewunderung „scharf“ macht, sie dann aber cool abserviert. Skandalumwittert ist sie auf jeden Fall. Häufige Rendezvous mit wechselnden Liebhabern, Einladungen zu Diners mit stadtbekannten Persönlichkeiten – ihr aufwendiger Lebensstil erregt Aufsehen. Kein Wunder, dass Ariane bald in den Focus der hauptstädtischen Gesellschaft gerät. Da nimmt es nicht Wunder, dass sie auch in Moskau Aufsehen erregt. Dort taucht bei einem ihrer häufigen Aufenthalte im Rahmen ihres Studiums an der Universität ein gewisser Konstantin Michail auf. Er setzt sich vor Beginn der Aufführung der Oper „Boris Godunow“ im Bolschoj Teatr völlig überraschend neben sie, plaudert charmant mit ihr, lädt sie nach der Vorstellung zu einem night-dinner ein, und eine lange, spannungsgeladene Beziehungsgeschichte beginnt. Auf beiden Seiten häufen sich die Fragen. Der Erzähler schildert zunächst die Verwunderung, die Konstantin Michail immer wieder beim Plaudern mit Ariane empfand, ihr jugendliches Alter, ihre Abgeklärtheit, ihre Lebensklugheit. Er gerät ins Nachdenken: „Wer war dieses herrische, willensstarke, geistreiche, gescheite junge Mädchen? Sie war lebenserfahren wie eine Frau. Manchmal hatte sie etwas Ernsthaftes in Blick. Ihre Stirn wirkte energisch und dabei durchaus nachdenklich.“ (S. 97)
Ins Nachdenken gerät deshalb auch der Erzähler, der meist aus der Perspektive von Konstantin Michail wertet. So kann er das couragierte Auftreten von Ariane gegenüber ihrem Liebhaber nicht in Übereinstimmung mit den Verhaltensweisen einer jungen Frau aus der mittleren Oberschicht der russischen Gesellschaft bringen. Er will mit ihr schlafen, doch die „Hexe“ wehrt sich, stellt Bedingungen für ihr nächtliches Rendezvous, spielt mit ihm, ohne sich seinen leidenschaftlichen Berührungen bewusst zu entziehen. Die Diners häufen sich so wie die Bettszenen, ohne dass sich Ariane ihrem Liebhaber hingibt. Er hingegen ist fasziniert von ihren klugen Kommentaren und Vorlesungen, die sie in Konstantins Hotelzimmer hält. Ariane ist in der Zwischenzeit als Studentin an der Moskauer Universität immatrikuliert. Sie treffen sich regelmäßig, dinieren in hochfeinen Restaurants. Ab und zu ist Konstantin auf Dienstreise, erzählt nach seiner Rückkehr von einem Aufenthalt in Jalta, lädt Ariane zu einer Urlaubsreise nach Sewastopol ein. Und je länger die Erzählpassagen über einen Nacktbadestrand am Schwarzen Meer werden, desto mehr fragen Leser*innen sich nach dem Ausgang dieser ungewöhnlichen Liebesbeziehung zwischen Konstantin Michail und Ariane. Gleichsam abgeschirmt von den realen gesellschaftlichen Abläufen in der Endphase des zaristischen Russlands, turteln die beiden miteinander, ohne dass sicher ist, wie die Liebesepisode enden wird. Diese sich steigernde Spannung findet bei der Abreise von Konstantin Michail aus Moskau ein unerwartetes Happyend.
Claude Anet, zum Zeitpunkt der Abfassung seines raffiniert verfassten Manuskripts um 1917/18 als Reporter der französischen Zeitschrift Journal in Sankt Petersburg tätig, gelingt es, abstrahiert von der aufgewühlten Atmosphäre in der Hauptstadt einen Roman zu verfassen, der ungewöhnliches Aufsehen erregte. Seine Titelfigur ist das Modell einer emanzipierten Frau, die gleichsam die Vorreiterin für die sich nach dem Ersten Weltkrieg in Europa entfaltende europäische Emanzipationsbewegung bürgerlicher und wenig später auch proletarischer Frauen spielt. Freilich ohne direkte politische Zielsetzungen, doch unverkennbar in ihrer sozialen Präsenz und ihrem Bewusstsein der Gleichberechtigung gegenüber dem Mann.
Der 1868 in Morges (Schweiz) geborene Autor Claude Anet, Absolvent der Sorbonne und der École du Louvre, Autor mehrerer Romane und Reiseerzählungen, gelingt es, in der Figur der Ariane einen Prototyp der emanzipierten russischen jungen Frau zu entwerfen, der sich bald nach der Oktoberrevolution zumindest für einige Jahre durchsetzen wird. Dass Claude Anet auf Vorbilder wie die berühmte Colette mit „La Vagabonde“ in der französischen Literatur zurückgreifen kann, verleiht diesem frech und elegant geschriebenen Roman durchaus die Rolle eines gedanklichen Vorreiters, dessen Eskapaden dem Leser gefallen werden. Dank auch der flüssigen, spannend zu lesenden Übersetzung von Kristian Wachinger.
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ARIANE. Liebe am Nachmittag. Roman von Claude Anet. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Kristian Wachinger. Zürich (Dörlemann) 2021. 272 S., 23.- Euro. ISBN 978-3-03820-078-9.