Bald bin ich alt

 

Das Gute am Altsein: Dass man Narrenfreiheit hat und nicht mehr lernen muss zu leben. Das Schlechte ist alles andere … Erlösungsgelaber. Gott hat Alzheimer. Er ist nicht bei mir. Er ist vermutlich scheintot. Den überlebe ich, das weiß ich. Der Schnitter aber ist bei mir, sein Stecken und Stab trösten mich. Und sein Strahl ist hoch und weit.

Das Bild auf meinem Sarg ist noch nicht fertig. Wie ich die vollkommene Schönheit des stirnlosen Him-mels erschaue, das will ich erzählen. Stella und ich haben uns selbst geschaffen. Wir haben uns geatmet und wissen, wie man von Luft und Liebe lebt. Wir haben alle Clichés erfüllt, die das Leben bereit hält an den Tanzbrunnen. Die Clichés der Nacht sind wahrer als alle Verfremdungsverrenkungen, die wir uns ins Hirn pumpen.

Dark night! – I’m lost. Klick dich jetzt raus aus meinem Universum! … Der Wind peitscht mein Fenster. Der Rhein schäumt mir ins Aug. Ich will fort, sagst du, es wird Zeit, und wenn es bedeuten sollte auf ewig, ich würde es nicht aushalten. Ich gehe in die Allee hinaus, ich weine, strecke meine Arme aus … Hallo, sagtest du, als wir uns täuschten. Das war eine wunderbare Stelle in meinem Leben, die hell aufleuchtete und alles in ein unglaublich warmes Licht tauchte. Du lächelst, ich weiß. Das war nur so eine Phase. Ich werd bestimmt mal erwachsen.

Herzflimmern. Ich schmeiße das Handy auf den Boden und schneide mir ein Kreuz in die Stirn. Der Tod ist das prägnanteste Heilsversprechen. Du musst nur gern sterben wollen. Wir leben so dumm und suchen Erlösung. Ich mochte dich sehr. Aber ich habe dich nicht geliebt. Ich bin allein auf der Welt und kann tanzen, und alle Ärgernisse sind irrelevant auf einmal – heute Abend treffe ich die Sternfrau.   Ich bin stärker als der rippige Portier der Toteninsel, das weiß ich: Mein Kahn legt an deinem Ufer nicht an. Ich lasse dich links liegen, deine Hippe macht mir keine Angst. Wo ich ankomme, spielst du keine Rolle.

Eine Amsel kippt vom Baum, während ich mir sage, du musst dein Chaos streicheln. Ich renne durch den Schnee, an Autos vorbei und so weiter und Passanten mit Mützen und Schuhen und lachenden Mundwinkeln. Das Atmen tut weh im Hals. Ich muss mich an der Mülltonne abstützen, fliege fast hin, und das Ziel wird verschwommener bei jedem Meter. Ich muss mich hinsetzen, um zu überleben. Im Kopf natürlich.

Dann öffne ich das Fenster, und die Farben draußen sind ganz anders als auf dem Bildschirm.  

 

 

***

Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.