Oben in den Bergen, weit über 2000 Meter hoch. Die Kraft des Sehens, heißt es, bewirke die Seele durch die Augen. Erstmals sah ich die Quelle meines Flusses durch die Augen von Robotervögeln. Fliegende Kameras mit Zeppelinleibern schwebten ferngesteuert zwischen Bündner Alpenwänden, filmten sich gegenseitig in nie zuvor auf diese Weise erkundetem Gelände. Zwitscherten und pickten am Panorama, entnahmen ihm Digitalwerte, von der Höhenluft verdünnte Farben. Torkelten durch den Himmel. Zoomten, ächzten. Schwirrten, klopften an den Fels, Berg Semsi, tu dich auf. Trotzten dem Wetter, erledigten ihre elektronische Pflicht. Am Ende stand ein Sensationserfolg: mithilfe der filmenden Vögel hatte ein deutsches Fernsehteam einige verschollene, mitten in die Landschaft eingearbeitete Segantini-Gemälde aufgespürt und gescannt, im Nachhinein mit modernsten Farben aufgehübscht, „restauriert“ und, aus dramaturgischen Gründen, szenisch in Bewegung versetzt.
Den Film hatte ich mir aus dem Netz heruntergeladen und starrte einigermaßen fassungslos auf das Bildmaterial. Das sollte tatsächlich die Rheinquelle, der Lai da Tuma, der Tomasee sein! Das zusammengeschnittene, mit synthetischer Orchestralmusik unterlegte Material kam auf 20 Sekunden Länge. Mehrmals hintereinander spielte ich das Video ab. In der letzten Sekunde war eine Gestalt zu erkennen, ein Mann, der einer Steinskulptur glich, der den See überschaute. Er stand auf dem Vorsprung, ab dem der Rhein jäh aus dem See ins Tal abfließt. Der Mann schien im Schreiten zu verharren, er stellte den Wanderer dar, der am Ziel angelangt bewundernd in die Landschaft blickt. Vielleicht zweifelt er auch, weil er sich alles eigentlich ganz anders vorgestellt hat. Dieser Wanderer auf dem Video war ich. Zur gleichen Zeit wie das deutsche Fernsehteam war ich am Tomasee gewesen, die Rheinquelle zu erforschen und die Filmleute hatten mich gebeten, auf dem Felsen zu posieren, damit die Zuschauer einen Eindruck der tatsächlichen Maßstäbe gewinnen könnten.
Humbug, alles Humbug! Das heißt wiederum, nicht alles. Der Wanderer war allerdings nicht ich. Vielmehr steige ich gleichmäßig den Pfad zum Tomasee empor, und ich bin nicht allein. Mara ist bei mir. Mara, die mir beigebracht hat, dass man in den Bergen gleichmäßig steigen muss. Mara, die nach dem Meer heißt, das sie nicht ausstehen kann. Ihr Revier sind die Alpen. Jetzt geht es endlich zur Quelle. Auch Mara ist aufgeregt, ich habe sie infiziert. Wie ein Zicklein springt sie umher, bischt’s Gizzili, steigt mir voran, kommt zurückgegumpt, rennt wieder fort, von fern ein Jauchzer, so benimmt man sich recht in der Höhe. In Augenblicken erscheint Mara verwachsen mit dem Fels, dann wieder ihre gewandten Bewegungen, denen ich so gerne zuschaue, sie teilt ihr Wesen mit jenem der Berge und ich frage mich, ob sie, wenn ich einmal nicht nach ihr schaue, schnell heimlich ein paar kleine Steinbrocken verspeist.
Rhein-Meditation, rhein wörtlich von Stan Lafleur, Edition 12 Farben, Köln 2014/15 – Bestellbar im Buchhandel oder direkt beim Verlag.