Der erste Schultag

 

Der Herr Rektor Borchert saß auf seinem Katheder und ging die eingelaufenen Briefe durch. Es waren wieder drei Stück. Der erste war auf grobem, grauem Armeleutspapier geschrieben und kaum zu entziffern.

Er lautete:

»Herr Borchert

Ich mus ser bedauern das ich Ihnen mit meine wenigkeit belästigen mus da sie mein 6 Jähries Mendchen so gebrigelhaben das nach drei Tage noch braun un blau aus sa da ich mich genöthich finde andre wege zu suchn denn das kann mol ein jeder drum bezale ich mein Schulgelt nich das is nu zu zweiten mal das das Kind zu Hause komt one ein Knopff an das kleid zu habn das andre Kindr ihr die sticken nachbringen

Frau Gorges.«

Herr Borchert hatte das Schreiben wieder sorgfältig zusammengefaltet und steckte es vorsichtig in sein Kuvert zurück.

No. 167!

Mit Blaustift! Das hob sich so besser ab und war übersichtlicher …

An der Sieben besserte er noch ein klein wenig nach. Der Haken hinten schien ihm noch nicht schwungvoll genug.

So!

Der gehörte in die Schublade rechts. Die Schublade links war für die »Knubbels« reserviert –

Neben ihm stand eine Tasse Kaffee. Er nahm jetzt einen kleinen, behaglichen Schluck draus und ritzte dann auch den zweiten Brief auf.

Dieser war womöglich noch undeutlicher geschrieben und nicht einmal frankiert gewesen. Aber das tat nichts.

Diese reizende kleine Sammlung war ja seine einzige Freude …

Er las:

»Herr Lehrer.

Ich bitte mein Sohn Emil zu enschulligen weil er die Schule versäumt er hatt so schlimme Augen da bitte ich schon in Bischen Rücksicht zu nehmen und mächte si zuchleich bitten den Kindern nicht so ausverschämt zu hauhen des sie abgeschunden zu hause kommen

Herzlichen Gruß Frau Munk.«

No. 203 a!

Herr Borchert hatte seine kleinen, pechschwarzen Ferkeläugelchen prüfend dem interessanten Dokument genähert.

Gelbes Konzeptpapier und die Linien drauf mit dem stumpfen Ende einer Schere gezogen!

No. 203 a!

Das Blau drauf nahm sich sehr schön aus. Nur den Fettfleck! Den Fettfleck hier links neben der Unterschrift hätte sich die gute Frau Munk sparen können!

Er hatte sich jetzt hinten sein großes, rotbaumwollnes Taschentuch aus der Rocktasche gezogen und schneuzte sich. Dagegen! Dieses dritte Ding! Ordentlich manierlich![86]

Die Linien auf dem blaßrosa Kuvert waren augenscheinlich zuerst mit Bleistift gezogen und dann sorgfältig nachradiert. Außerdem wies auch die Rückseite noch ein Siegel auf, zu dessen Petschaft ein Zwölfschillingsstück gedient hatte. Es sah gradezu wohlhabend aus!

Das zierliche Briefchen lautete:

»Sehr geehrter Herr Borchert!

Ich frage gehorsamst an warum Sie mein Kind am 31. dieses Monatts das Gesicht blau geschlagen haben, oder ob Sie überhaupt das Recht dazu haben, ein Kind so zu schlagen daß es im Gesicht blau ist, denn wenn das Kind würde am Gehör davon leiden, was leicht möglich sein kann, würden und könnten Sie Ihn die Gesundheit wieder schaffen? Geehrter Herr Sie wissen vielleicht nicht wie sauer einem die Kinder werden, Ich habe mein Gott gedanckt daß ich gesunde Kinder habe und nun bin ich nich willens; daß ich, Meine Kinder von Ihn ungesund schlagen lasse, also ich bitte Sie daß nich noch einmal zu riskiren sonst konnte es etwas darauff folgen.

Hochachtungsvoll Frau Kuhlmann,

Georgenstraße 19.«

Herr Borchert lächelte.

Nummero zweihundertundvier!

Wenn er sich nicht irrte, war diese liebenswürdige Frau Kuhlmann schon seit zirka einem Vierteljahr Witwe. Herr Kuhlmann mußte ihr so eine Art Seifenladen hinterlassen haben. Hm …

Was nun?

Er gähnte. Ein Riß oben, mitten in der weißen Decke, interessierte ihn lebhaft.

Eine kleine Weile verging.

Sssss … ssss … sss …

Ein dicker, blauer Brummer stieß mit seinem Schädel fortwährend gegen das Fenster und summte.

Ah! Richtig! … Die Noten! Er wollte ja heute noch Notenlinien ziehen.

Bon!

Er entkorkte das Tintfaß. Die dicke, dumme musca domestica hatte aufgehört, gegen die Scheibe zu stoßen, seine Feder pflügte regelmäßig über das Papier …

In der Klasse war es ganz still. Die Vormittagssonne, die durch alle drei Fenster zugleich schien, füllte den ganzen Raum. Er war viereckig und mit einer sehr häßlichen, blauen Wasserfarbe angemalt.

Kein Kind rührte sich!

Sie hatten alle ihre kleinen, dicken Händchen fest zusammengefaltet und nun vollauf damit zu tun, ihren Atem möglichst regelmäßig durch ihre kleinen, kreisrunden Naslöcherchen zu blasen. Sie brauchten dabei zugleich nicht so den fremden, aus Lack und Schulstaub gemischten Geruch in sich einzuziehen, der in dem ganzen Zimmer die einzige Luft war.

Ihre kleinen, kirschroten Mäulerchen dabei aufzusperren, trauten sie sich nicht. Der Herr Rektor Borchert, der vorn vor der großen, schwarzen Tafel hinter dem grauenhaften, gelben Holzgestell wie ein alter, hungriger Rabe dasaß, der auf ein Stück Fleisch lauerte, beobachtete sie zu scharf. Es war wirklich schrecklich! Namentlich wenn man so dumm war und vorn auf der ersten Bank saß …

Die Fliegen, die ihnen über die Nasen liefen, hatten gut beißen. Die kleinen »Knubbels« zwinkerten nicht einmal mit den Augen. Der Herr Rektor Borchert hatte es ihnen streng verboten. Sie sollten sie nur alle still in die Tintfässer vor sich stecken und ihn nicht so anglupen. Sonst gab’s was mit seinem Fuchsschwanz! Oh!!

Natürlich taten die kleinen Würmerchen das auch und sahen alle sehr ernsthaft aus. Nur schrecklich rot waren sie dabei.

Ja! Es war ganz still in der Klasse …

Draußen, hinter dem großen, runden Kastanienbaum, der mit seinen schönen, bunten Blüten in einem fort gegen das dritte Fenster schlug, funkelte eine Turmspitze in den Himmel.

Sonst sah man weiter nichts.

Nur drüben, hoch, auf der anderen Seite des Marktes, die alte Rathausuhr, die auf ihrem schrägen, lichtblauen Schieferdach wie ein runder, weißer Klecks lag.

Die kleine, schwarze Luke drunter war heute mit dem großen, goldnen Spicker drüben, der sich aber auf der Wetterseite bereits dick mit Grünspan überzogen hatte, durch ein Seil verbunden. Dieses Seil war dick mit Kreide beschmiert und zerschnitt den Himmel in zwei große, dunkelblaue Hälften. Denn es war heute Jahrmarkt im Städtchen.

Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, wollte dort unter hohem Permiß eines gestrengen Herrn Bürgermeisters einem geneigten Publico mit seinen halsbrecherischen Produktionen aufwarten. Auf dem großen, zeisiggrünen Plakat, das der dicke Metzelthien schon am vergangenen Sonnabend unten an die Rathaustür geklebt hatte, war das alles aufs schönste abgemalt gewesen.

Die »Knubbels« wußten das.

Ihre kleinen, verstockten Herzen schlugen, wenn sie daran dachten.

Jeden Augenblick konnte jetzt dieser schreckliche Ari-ben-Aribell seinen Kopf, der ganz rot und weiß war und grade wie bei einem Teufel aussah, drüben aus dem Rathausdach stecken und dann mit seinen merkwürdigen, großen, kirschroten Strümpfen, die ihm hinten bis an den Popo gingen, mitten durch den Himmel bis hoch oben grade auf die Kirchturmspitze klettern! Dort sollte er sich dann mitten auf die große, goldne Kugel stellen und einen wirklichen, schneeweißen Vogel in die Luft werfen! Eine Taube oder einen Lämmergeier! Diese Taube oder dieser Lämmergeier flog dann dreimal rund um die ganze Stadt rum und setzte sich dann zuletzt wieder auf seine goldpapierne Mütze zurück!

Kotel Thiel, der aber ganz und gar bucklig war und dabei mit seinem Finger in das Plakat noch ein großes, rundes Loch gebohrt hatte, Kotel Thiel hatte sogar erzählt, daß er zuletzt auch noch aus einem großen, unsichtbaren Sack allerlei Raritäten – Zuckerkringel, Knackmandeln und Apfelsinen! – unten unter die Pudels werfen würde!

Die »Pudels« waren die Straßenjungens.

Ja! Die! Die!!

Zuckerkringel, Knackmandeln und Apfelsinen! Und nun mußte man hier still in der Schule sitzen und seine Augen immerzu in die dummen, langweiligen, schwarzen Tintfässer stecken.

Es war wirklich zu schrecklich!

Die Sonne, die bis jetzt nur über die Wand und die vielen kleinen, grünen Mützen dran gestrichen war, hatte sich unterdessen endlich auch an das Katheder herangewagt[90] und fing nun an, dem Herrn Rektor Borchert die Fäden an seinem schwarzen Rockärmel nachzuzählen.

Seine Notenfeder hatte er wieder weggelegt. Er pulte sich jetzt mit seinem Federmesserchen die Nägel aus.

Vor ihm stand ein großes, viereckiges Ding, in dem lauter rote, kupferne Drähte aufgespannt waren, auf die man wieder sehr, sehr viele bunte Kugeln gespickt hatte.

Das war die Rechenmaschine.

Wenn der Herr Rektor Borchert wollte, konnte er sie stellen, wie er Lust hatte. Aber er hatte heute keine. Er pulte sich nur die Nägel aus …

Plötzlich sah der Herr Rektor Borchert auf. Hinten, dicht neben der Tür, hatte eben eine Bank geknarrt. Die »Knubbels« hatten sich alle unwillkürlich tiefer geduckt. Seine kleinen, zugekniffenen Ferkeläugelchen sahen jetzt grün aus. Der kleine Jonathan, der ihn die ganze Zeit über angeschult hatte, steckte seine großen, blauen Jungensaugen wieder schnell in sein Tintfaß.

Ari-ben-Aribell hätte jetzt getrost aus seiner Dachluke klettern können. Nicht um alle Zuckerbrezeln der Welt hätte der kleine Jonathan nach ihm hinschmustern mögen.

Aber er hätte es ruhig tun können! Der Herr Rektor Borchert hatte sich schon längst wieder beruhigt. Die Sache war eben, daß das »Schweinzeug« vor ihm Respekt hatte. Und das »Schweinzeug« hatte Respekt vor ihm.

Den Teufel auch!

Das »Schweinzeug« war seine Klasse. Sie anders zu titulieren war ihm noch nie eingefallen. Die einzelnen Individuen hießen »Knubbels«.

Ja! Es war alles wieder ganz still. Nur die Fliege, die wieder summte, und dahinter das dunkle, dumpfe Gebrande, das unten vom Markt her an die hohen, festen Doppelfenster schlug. Dazwischen ab und zu eine Knubbelnase, die schnurchelte …

Der kleine Jonathan saß da wie tot.

Seit heute morgen hatte er vor dem Herrn Rektor Borchert einen furchtbaren Respekt bekommen. Kotel Thiel war nicht halb so schlimm! Schon sein Gesicht war so gräßlich! Er sah es überall!

Draußen auf dem großen, runden Kastanienbaum, der mit seinen Blüten wie ein Weihnachtsbaum aussah, mußte es jetzt grade oben auf der Spitze umhertanzen.

Wipp-wapp-wipp-wapp-wipp-wapp – immerzu, immerzu!

Auch jetzt, aus dem häßlichen, schwarzen Tintfaß schwamm es in die Höhe!

Der kleine Jonathan sah es ganz genau.

Es war weiß und dick, wie aus Mehlkleister gemacht, und hatte als Augen zwei kleine, funkelnde Rosinen drin. Dabei hatten sich seine Haare wie solche Schweinsborsten in die Höhe gesträubt und waren knallrot. Außerdem hatten ihm auch die Sommersprossen die ganze dicke Nase noch mit gelben Pickeln betupft. Sicher, er sah noch scheußlicher aus als der Schornsteinfeger Killkant!

Der kleine Jonathan war trostlos.

Nein! Lieber machte er seine Augen schon fest zu. –

Oh! Heute morgen!

Er hatte sich so gefreut! So zum ersten Male in die Schule gehn zu dürfen und dort so klug zu werden, daß man zuletzt ein Geographiebuch hatte und Afrika draus lernte, gewiß, das war zu schön! Zu schön!

Seine neue, rotlinierte Schiefertafel war so hübsch rein abgewischt gewesen, seine Fibel in solch einen dicken, blauen Umschlag gehängt und sein Federkasten, der ganz mit Abziehbildern beklebt war, voll lauter Steingriffel.

Kaffee hatte er schon gar nicht mehr getrunken. Er hatte nur immer am Fenster gestanden und an dem schönen, bunten Blumenstrauß gerochen, den er dem Herrn Rektor auf das große Klassenbuch legen sollte.

Gewiß! Er wollte nur noch immer in die Schule gehn! Nur noch immer in die Schule und dort so klug wie Papa werden!

Ach! Daß das so schwer war, hatte er nie gedacht!

So drei ganze, ausgeschlagene Stunden auf ein und derselben dummen Bank sitzen und dabei immer in ein und dasselbe dumme Tintfaß sehn müssen war keine Kleinigkeit. Ja! Es war sogar eine Gemeinheit! Eine richtige Gemeinheit! Man durfte nicht einmal husten!

Und dann – der schöne, schöne bunte Strauß! Das alte Pferd hatte ihn genommen und zum Fenster rausgeworfen!

Dummheit! hatte es gesagt, Dummheit! Blumen stinken! Pfui!

Und dabei hatte doch Mama sie gepflückt, und das blaue Band drum hatte Mama auch gebunden und Mama hatte sich so gefreut und Mama war so gut und … Nein! Es war zu gemein! Zu gemein!

Der kleine Jonathan war in Tränen ausgebrochen. – –

Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der dicht neben ihm saß und schon seit einer halben Stunde wirklich gar zu gerne mal »rausgegangen« wäre, nahm die Gelegenheit wahr und weinte gleich mit.

Hinter ihm saß der kleine Lewin.

Ihm war eben eine Fliege ins Genick gekrochen und dann so lange auf ihm rumgetappelt, bis sie ihm jetzt richtig mitten vorn auf dem Bauch saß.

Er hätte es natürlich am liebsten ebenso gemacht wie der dicke, dumme Apothekerjunge. Aber der schauderhaft dicke Fuchsschwanz, den der Herr Rektor Borchert vorn unter seinen Rock geknöpft trug, hatte ihm einen zu gewaltigen Respekt eingejagt. Er begnügte sich damit, die grauenhaftesten Gesichter zu schneiden.

Der kleine Konditor Knorr, der kleine Steuereinnehmer Zippe und der kleine Schiffszimmermeister Bohl waren nicht halb so standhaft. Es war, als ob sie alle nur gewartet hätten, daß einer damit anfing. Sie weinten jetzt, daß ihnen die Tränen nur so von den Backen runtertropften. Es war die reine Meuterei!

»Schweinzeug!«

Mit einem Ruck war jetzt der Herr Rektor Borchert aufgesprungen und hatte seinen Fuchsschwanz gezückt. Die Rechenmaschine war quer über die schwarze Kathederplatte geschlagen, das kleine Federmesserchen lag unten neben dem eisernen Spucknapf auf der sandigen Diele.

»Schweinzeug!«

Er schnaubte!

Das »Schweinzeug« war wieder ganz muckchenstill geworden. Nur der Kastanienbaum draußen, der seine scharfgeränderten Zacken über die Bänke zittern ließ, und die Sonne, die dazwischen glitzerte.

Der gräuliche Fuchsschwanz, mit dem der schreckliche Mensch dort oben eben auf seinen gelben Tisch geschlagen, hatte alle Tränen, die das Schweinzeug noch vergießen wollte, mausetot gemacht. Die kleinen Sträflinge saßen jetzt wieder alle da wie schlecht angemalte Holzpuppen. Bloß ihre Gesichter waren noch röter geworden und ihre Augen, statt in die Tintfässer, alle auf den fürchterlichen Fuchsschwanz gerichtet!

Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, der drüben unter seinem Rathausdache auf diesen Moment nur gewartet zu haben schien, war hinterlistig genug, grade jetzt seinen gräßlichen Hampelmannskopf aus seiner Luke zu stecken.

Seine große, goldpapierne Mütze reichte mit ihrer Spitze bis grade oben ins Zifferblatt. Er hatte sich seine Backen mit Mehl eingerieben und seine Nase mit Zinnober bepinselt. Um seinen Leib hatte er eine dicke Badehose aus Sammet an, die ganz kohlschwarz war und außerdem noch mit kleinen, silbernen Flinkern bestickt.

Nachdem er sich vor dem vor Erwartung lautlosen Publico unten dreimal verbeugt und zwischendurch seine lange, goldgelbe Balancierstange ebenso viele Male hoch in die Luft über sich gewirbelt hatte, setzte er jetzt seinen linken, zierlichen Schuh vorsichtig auf das straffe, weiße Seil und war bereits bis auf die Mitte desselben getänzelt, noch ehe die verblüfften Bauern unten Zeit gefunden hatten, ihre Mäuler aufzusperren.

Kein Knubbel ahnte etwas!

Die Katastrophe draußen hatte sich vollzogen, ohne daß sie auch nur an sie gedacht hatten.

Die wirklichen, schneeweißen Tauben und Lämmergeier[95] waren jetzt alle vergessen. Nur der Fuchsschwanz existierte noch. Nur der Fuchsschwanz! Ihre großen, erschreckten Augen hatten sie alle sperrangelweit aufgerissen.

Nur der kleine Lewin nicht! Er hatte eben mit Schrecken gemerkt, wie die schändliche Fliege ihm grade den Bauch rauf in die Höhe kroch und an seinem Nabel haltmachte.

Uaaah!

Er brach jetzt, um nicht wie die andern vorhin zu weinen und so den Herrn Rektor Borchert noch mehr zu erzürnen, in ein gräßliches Lachen aus.

Der kleine Jonathan wurde weiß wie Kreide.

Gewiß! Jetzt schlug er ihn tot!!

Er mochte gar nicht hinsehen.

Aber er hätte ruhig hinsehen können!

Der Herr Rektor Borchert schlug den frechen Judenlümmel nicht tot. Dem Herrn Rektor Borchert fiel das gar nicht ein. Der Herr Rektor Borchert betrieb sein Handwerk weit gründlicher. Er hatte sein System. Und von diesem System wich er nie ab. Der Fuchsschwanz war nur sein Schreckmittel. Sein Züchtigungsmittel, sein eigentliches Züchtigungsmittel, war sein Siegelring.

Entschieden! Man mußte Grundsätze haben. Man mußte sich z.B. hüten, das Schweinzeug zu schlagen. Man war überhaupt gegen alles Schlagen … Nein! Knuffen mußte man das Schweinzeug! Knuffen! Die Handvoll Haare, die man ihm dann noch gelegentlich ausriß, zählte nicht …

Der kleine Lewin lachte noch immer. Aber schon so krampfhaft, daß die Augen ihm aus den Höhlen traten und die Zähne ihm zu klappern anfingen.

Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der jetzt an seinen schwindelnden Hoffnungen, mal rausgehn zu dürfen, vollständig verzweifelte, hatte wieder zu weinen angefangen. »Ah!«

Der Herr Rektor hatte seine dünnen Lippen noch fester zugekniffen. Er knöpfte sich jetzt seinen Fuchsschwanz wieder vorn in die Rocktasche.

» … B … Blut, kalt Blut, Borchert!«

Er hatte sich wieder schwer auf seinen Rohrstuhl gesetzt. Die Sache eilte ja nicht. Die Sache …

Er spielte mit seinem Siegelring. Einem sehr schönen, wertvollen Exemplar mit einem sehr schönen, wertvollen Stein drin. Glaube, Liebe, Hoffnung war in seine grüne Fläche geritzt.

Seine kleinen, zugedrückten Ferkelaugen schillerten jetzt in allen Farben. Seine Hände zitterten.

Es war sonst muckchenstill in der Klasse! Nur dieser einzige, aufrührerische, bodenlos freche Judenlümmel und dies Bäckerbalg, das ihn akkompagnierte!

Er hatte sich seinen Siegelring wieder an den Finger gesteckt und klopfte jetzt langsam mit ihm an die Seitenwand seines Katheders.

»Knubbel! Herkommen!«

Der kleine Lewin war mechanisch aufgestanden. Seine dünnen, wachsgelben Fingerchen hatten sich fest um die schwarze Bank vor ihm gekrampft, seine Schultern zuckten. Er bebte an allen Gliedern.

»Herkommen, Knubbel!!«

Die ganze Klasse hatte wieder laut zu weinen angefangen. Dies gräßliche Lachen, das er noch immer ausstieß, ging allen durch Mark und Bein. Ari-ben-Aribell, der jetzt grade draußen auf dem Kirchturmknauf mitten in dem wunderschönen Grünspanklecks saß und dort mit großem Appetit ein lebendiges Huhn verschlang, nachdem er sich eben erst einen blitzblanken, ellenlangen Degen in den Leib gestoßen hatte, hatte jetzt aufgehört, für sie zu existieren. Kotel Thiel hätte jetzt lügen können wie gedruckt. Sie hätten nicht einmal hingehört. Nein! Nur dies Lachen! Nur dies gräßliche Lachen!

Der Herr Rektor Borchert hatte sich jetzt aufrecht mitten auf sein Podium gestellt. Seine Lippen waren weiß geworden. Seine kleinen, spitzen Zähne knurrschten, als ob er an etwas kaute.

»Herkommen, Knubbel?!«

Aber der kleine Lewin hörte nichts mehr. Er lachte nur immer und lachte und lachte …

Jetzt endlich war der Geduldsfaden des Herrn Rektor Borchert mitten entzweigerissen! Mit einem Satz war er auf den wahnsinnigen Judenhund zugesprungen, hatte ihn an seinem schmierigen Jackenkragen zu packen gekriegt und schleifte ihn nun wutschnaubend auf sein Katheder.

»So ein Hund!! So ein Hund!!!«

Die »Knubbels«, die wieder ganz muckchenstill geworden waren, hatten alle unwillkürlich ihre Augen fest zugemacht. Die ganze große, rote Stube schwamm jetzt in Blut. In Blut. Oh! … Da!!

Plötzlich, mitten durch all das grausenhafte Schnauben und Gurgeln vorn, hatte draußen vom Flur her deutlich ein feines, schrilles Glöckchen angeschlagen.

Kein »Knubbel«, der nicht jetzt seine kleinen, rosa Öhrchen spitzte!

Das reine Christglöckchen! Es klingelte jetzt, daß es nur so eine Art hatte.

Ja! Ja! Das war der Herr Spaarmann, der liebe, gute Herr Spaarmann! Der Herr Spaarmann! Jetzt brauchten sie nicht mehr zu sterben. Jetzt war die schreckliche, schreckliche Stunde aus. Jetzt … Oh! Der Herr Spaarmann! Der Herr Spaarmann!

Der kleine Bäckermeister Trimpeter, dem die vielen dicken Tränen schon unten bis unter den Hals gelaufen waren, atmete erleichtert auf. Jetzt durfte er endlich, endlich mal rausgehn …

Der Herr Rektor Borchert hatte jetzt sein neues, schönes, rotgelb lackiertes Lineal zu packen gekriegt und es mitten unter die »Knubbels« geschleudert.

»Raus! Raus!! Raus!!!«

Er kannte sich selbst nicht mehr!

Das infame, rotznasige Judentier war schon längst neben das Katheder in den Spucknapf geflogen.

Er hatte jetzt auch die große, stählerne Rechenmaschine zu packen gekriegt.

»Raus! Raus!! Raus!!!«

Ah! Diese Knubbels! Diese verfluchten, vermaledeiten Knubbels!!

Aber diese »Knubbels«, diese verfluchten, vermaledeiten »Knubbels« waren schon längst alle die Treppe hinuntergepoltert.

Hals über Kopf! Wie es grade gekommen war!

Der kleine Konditor Knorr, der kleine Steuereinnehmer Zippe, der kleine Schiffszimmermeister Bohl, der kleine Jonathan Grule und wie sie alle hießen!

Allen voran aber natürlich wieder der kleine, dicke Bäckermeister Trimpeter!

Es war wirklich die höchste, allerhöchste Zeit gewesen …

Oh! Der Hof! Der Hof!!

Wie die warme, weiche Luft dort ihnen wohltat! Wie die Sonne dort oben hoch auf den Dächern lag! Auf den Dächern!! Die roten Schornsteine drauf rauchten, die Spatzen zwitscherten und die Sonne schien!

Oh!! Der Hof!! Der Hof!!

Ari-ben-Aribell, der größte Seilkünstler beider Welten, hatte soeben seine halsbrecherischen Produktionen beendet und verbeugte sich nun submissest vor seinem geneigten Publico.

Seine große, goldpapierne Mütze war ihm vorn über die fuchsrote, dreieckige Frisur weg bis unten tief in die breite, niedrige Stirn gerutscht, sein ganzes grauenhaftes Teufelsgesicht drunter bestand nur noch aus Mehl, Schweiß und Zinnober. Seine dicken, kohlschwarzen Badehosen mußten jetzt klitschnaß sein.

Die »Pudels«, die sich so lange wie große, anständige Leute betragen hatten, fingen jetzt laut zu brüllen an. Ihre dicken, grauen, zerknitterten Tuchmützen waren alle hoch in die Luft geflogen.

Kotel Thiel, der heute selbstverständlich schwänzte, war natürlich wieder mitten drunter. Sein dünner, runder, orangeroter Quintanerdeckel war entschieden der allerforscheste. Er wirbelte immer wieder und wieder in die Höhe. Immer wieder und wieder!

»Ari-ben-Aribell, Ari-ben-Aribell!«

Der größte Seilkünstler beider Welten verbeugte sich wieder.

Er war nur noch Schweiß, Mehl und Zinnober! Nur noch Schweiß, Mehl und Zinnober!

Die Sonne auf seiner langen, goldgelben Balancierstange glitzerte …

Oben in das stille, geleerte Schulzimmer, in das jetzt der große, runde Kastanienbaum draußen seinen ganzen scharfgezackten Schatten warf, war der stürmische Applaus der enthusiasmierten Jahrmarktsmenge wie ein lauter, lang anhaltender Wutschrei gebrochen.

Der dicke, blaue Brummer hinten in der letzten Scheibe war entsetzt auf das breite, gelbgestrichene Fensterbrett zurückgetaumelt. Er lag jetzt mitten in der tiefen, ausgetrockneten Regenrinne und hampelte dort verzweifelt mit seinen sechs dickbehaarten schwarzen Beinen umher.

Ab und zu versuchte er, sich auch mit seinen kleinen, graudurchäderten, glasharten Flügelchen aufzuhelfen. Schon mehr als einmal war ihm das auch mit Hilfe seines dicken, kohlschwarzen Rüssels fast gelungen; aber regelmäßig kullerte er wieder zurück.

Noch eine kleine Weile, und er mußte rechts durch das große, runde Loch mitten unten in den schrecklichen, stockdunklen Wasserkasten stürzen!

Sein zorniges, abgerissenes Brummen mischte sich abwechselnd in das scheußliche, ohrenzerreißende Gelächter, das noch immer durch das ganze große Zimmer gellte.

Der Herr Rektor Borchert stand da wie gelähmt. Er war mit seinem dicken, krummen Rücken schwer gegen das große, gelbe Gerüst neben die offene Tür getaumelt.

Seine schwarzen, abgeschabten Rockärmel schlotterten ihm wie um zwei lange, dünne Knochen. Seine kleinen, unheimlichen Ferkeläugelchen stierten entstetzt in die große, grellbeleuchtete Ecke neben dem Katheder.

Dort, dicht neben dem kleinen, eisernen Spucknapf, der jetzt umgestülpt war, wand sich etwas, das mit seinen dünnen, krummen Beinchen fortwährend zappelte und mit seinen kleinen, geballten Fäustchen wie wild um sich schlug. Das alte, schmierige Judenkaftanchen war ihm hinten mitten durchgerissen, aus seinen dicken, blauaufgeworfenen Lippen floß es wie Geifer.

Es war der kleine Lewin, der den Lachkrampf bekommen hatte. –

II

»Hier, meine Herrschaften, das Paradies des Sultans von Marokko! Treten Sie ein, meine Herrschaften, treten Sie ein! Man muß so etwas gesehen haben, meine Herrschaften! Man muß so etwas gesehn haben! Die weltberühmte Miß Pepita! Geboren drei Tage hinter dem Mond in der Wüste Sahara! Wo die Bäume ohne Wurzeln wachsen! Speit 40 Fuß in die Höhe und fängt es mit ihrem Rachen wieder auf! Man muß so etwas gesehn haben! Treten Sie ein! Die Vorstellung wird sogleich beginnen! Soldaten und Kinder zahlen nur die Hälfte! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein!«

Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, konnte kaum noch jappen. Er hatte sich heute sein dickes, rundes Kartoffelgesicht mit Ruß eingerieben und seinen spitzen, speckigen Bierbauch in ein dünnes, weißbaumwollenes Trikot gezwängt. Durch die weiten, groben Maschen schimmerte deutlich seine rosa Haut durch.

»Das Paradies des Sultans von Marokko! Treten Sie ein, meine Herrschaften! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein!«

Seine Stimme überschlug sich, seine runden, weißen Froschaugen waren ihm dick aus den dunklen Höhlen gequollen.

Das Publikum, das die Bude dicht umdrängte, sperrte Nasen und Mäuler auf. Dieser Mohr aus Pernambuco imponierte ihm!

Mit einem einzigen, furchtbaren Faustschlag, der allen durch Mark und Bein fröstelte, hatte er sich eben seine hohe, spitze Filzmütze, die fingerdick mit Kreide bestrichen war, bis unten, hinten in das rote, wulstige Genick runtergeschlagen und begann nun den bisher noch unübertroffenen, noch nie dagewesenen Kriegstanz des Königs Murri-Tschidschi-Wauwau. »Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«

Seine dicken, runden Fäuste, die rot mit Ochsenblut beschmiert waren, hieben wie wütend auf die große, himmelblaue Pauke ein, die ihm an einem langen, gelben Ledergurt vorn von den Schultern herab bis unten grade mitten vor den Bauch baumelte, die dünnen Bretter unter ihm krachten.

»Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«

Noch fünf Minuten, und er mußte in die gräßlichsten Zuckungen verfallen sein!

Die »Pudel« wagten kaum zu atmen. Um besser sehn zu können, hatten sie sich alle auf Spitzzehen gestellt. Pole Lackner war sogar auf eine Wagendeichsel geklettert! Etwas weiter nach rechts, auf der anderen Seite des Podiums, stand steif wie aus Holz geschnitzt Eliza Barberini, der Stern aus Paramaribo. Er war wie eine Balletttänzerin kostümiert und schlug die Triangel.

Dazwischen hinter den dünnen, kirschroten Portièren, grade über der kleinen, hölzernen Treppe, auf der großen, umgekippten Zuckerkiste, die heute aber dick mit Goldbronze bepinselt war, saß Mardochai. Die schönen, langen, schneeweißen Troddeln an seinen Ohren hingen ihm unten bis auf die große, kohlschwarze Kasse aus Ebenholz herab, die er bewachte.

»Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!«

Da! Jetzt! Pffff … bauz, rin in die Pauke!

Das Publikum, aus dessen Mitte der Stein geschleudert worden war, hatte sich unwillkürlich etwas geduckt.

Nanu? Donnerwetter! Alle Hälse waren jetzt wieder in die Höhe gereckt. Der große, ziegelrote Kanten war der armen Pauke grade oben durch das runde, weiße Fell mitten in den himmelblauen Bauch geplautscht.

»Aah!! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Ptschau, ptschau, ptschau!!«

Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, hatte plötzlich seinen bisher noch unübertroffenen, noch nie dagewesenen Kriegstanz des Königs Murri- Tschidschi-Wauwau mitten entzweischnappen lassen.

Sakra!! Er hatte es ganz deutlich gesehn! Die Bestie war so ein kleiner, verschrumpelter Rotzjung‘ gewesen, der einen runden, orangeroten Lateinschülerdeckel aufgehabt hatte.

»Na wacht! Wacht!«

Er hatte seine infame Pauke hinter sich auf das dünne, bretterne Gerüst gebullert und bohrte sich nun mit seinem dicken, runden Niggerschädel mitten durch die verblüfften Bauern. Seine spitze, weiße Mütze war ihm hinten unter die kleine, hölzerne Treppe gerollt, er hob sie nicht einmal auf!

»Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg, wenn ick di kreeg!«

Das Publikum, welches sich von seinem Schreck wieder erholt hatte, johlte.

»Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!«

Tschullu schäumte!

Links aus dem Cagliostrotheater setzte eben die Blechmusik ein.

M-ta, m-ta, m-tata,

M-ta, m-ta, m-tata,

Bum, bum, bum!

Mardochai saß oben auf seiner Zuckerkiste und heulte. Der ganze Jahrmarkt war jetzt wie verrückt geworden! Die Meerkatzen drüben aus der Menagerie zeterten, die Löwen brüllten, die Kakadus schrien, die Schmalzkuchen dufteten, die Schusterbuden stanken.

»Griep em, Tschullu! Griep em, griep em!«

Nur der Stern aus Paramaribo hatte sich nicht gerührt. Er stand noch immer wie aus Holz geschnitzt auf der andren Seite und schlug die Triangel. Seine langen, dünnen Beine, die noch immer in den zerplatzten, gräßlich grünen Trikots staken, standen noch genauso steif da wie vorhin.

Seine spärlichen, straffen Haare hingen ihm wie ein Gewirr von langen, schwarzen Bindfäden über die gelben, knochigen Schultern.

»Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!«

Der Stern aus Paramaribo rührte sich nicht. Er stand nur ruhig da und schlug seine Triangel. Es ging nun schon in das siebenundvierzigste Jahr, daß er taub war …

»Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg, wenn ick di kreeg!«

Aber Kotel Thiel war längst über alle Berge! Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambuco, konnte ihm jetzt den Buckel langrutschen!

Draußen auf der sogenannten Bauernvorstadt, zwischen den letzten kleinen, verkrumpelten Häuserchen, die zu beiden Seiten der Chaussee mit ihren alten, gelben, geflickten Strohdächern bis unten in die vielen kleinen, kreisrunden Pfützen tauchten, in denen Holzscheite, Papierkähne, Enten und Strohwische schwammen, hatten die Jahrmarktsleute ihr Barackenlager aufgeschlagen.

Dicht vor seinem Eingange, neben einer alten, umgekippten Tonne, aus der sich ein langer, dünner Teerfaden bis unten mitten in den gelben Sand gebohrt hatte, war Kotel Thiel endlich stehngeblieben.

»Puh, die Hitze!«

Das Diarium, das ihm von seinem schnellen Humpeln bis unten auf den Bauch gerutscht war, hatte er sich wieder fest unter seine Weste geknöpft.

Die ganze Bauernvorstadt war heute wie auf den Kopf gestellt.

Hier, neben einem kleinen, dreieckigen Vorgärtchen, über dessen graue, schiefgenagelte Bretter sich nur eine einzige große, gelbe Sonnenblume bog, stand ein großer, roter, abgeschirrter Wagen, aus dessen beiden Blechschornsteinen es dick rauchte; dort, zwischen zwei braunen, wackligen Lehmmauern hatte eine keifende Bajazzofamilie ihr buntes, niedriges, zerrissenes Zelt aufgeschlagen. Auf einem langen, gelben Leiterwagen, an dem drei kleine, dürre, kohlschwarze Klepper angehalftert waren, hockte ein altes, weißhaariges Zigeunerweib und lutschte aus einer dicken, verstaubten Weinflasche kalten Kaffee. Ihre roten Triefaugen hatte sie stier aufgerissen, die gelben Münzen an ihrem blauen Kopfputz klackerten.

Dazwischen überall kleine, ungezogene Bälge, die sich die Gesichter mit Ziegelrot beschmiert hatten, Kobolz schossen und dabei die vielen großen, angeketteten Hunde ärgerten. Die meisten barfuß und im Hemde. Alle aber braungebrannt und flachshaarig.

Auf einem umgekippten, kupfernen Kessel saß ein Clown und nähte sich Schellen an seine Kappe. Dahinter, halbnackt zwischen zwei ausgespannten Wolltüchern kauernd, vor einem kleinen, runden Taschenspiegelchen, ein junges, rothaariges Weib. Ein kleines, splitternacktes Kind steckte sich neben ihm grade seine kleinen, rosa Zehchen in den Mund und lachte. Nicht weit davon, in dem ausgetrockneten, staubigen Chausseegraben, zwischen den Wurzeln einer riesigen, dunkelgrünen Pappel, ein Brett mit der Aufschrift: »Heute abend bei Eintritt der Dunkelheit feenhafte Beleuchtung.« –

»Quatsch!«

Kotel Thiel hatte seine Hände großspurig in die Hosentaschen gesteckt und spuckte nun verächtlich aus.

Die kleinen, flachsköpfigen Bälge zwischen den Tümpeln hatten eben dicht hinter der Mauer unter Steinen und Brennesseln einen alten, zerbrochenen Kochtopf gefunden und tuteten nun die Nationalhymne auf ihm. Um den ersten kleinen, blauen Tümpel herum veranstalteten sie einen Gänsemarsch. Der Lehm unter ihren kleinen Füßen platschte, ihre Hemden flatterten. Ulle Lüders, der einen Dreispitz aus Strohpapier aufhatte, allen voran.

Kotel Thiel überlegte noch.

Die beiden großen, weißen Störche oben auf Linkerholts Scheune waren jetzt von dem plötzlichen Lärm unten scheu geworden und schwammen mit großen, weitausgebreiteten Flügeln, die langen, dünnen Beine wie zwei riesige, rote Streichhölzer zurückgeklappt, nach dem fernen, grünen Stadtwalde zu. Dort lag die Eselswiese, auf der es still war und Frösche gab. Ihr großes, rundes, schwarzes Nest starrte leer hinter ihnen auf dem spitzen, weißgemauerten Giebel in den dunkelblauen Himmel.

Nee! Hier war nischt los! Partutemang nischt!

Kotel Thiel hatte wieder verächtlich in die dämliche Tonne gespuckt.

Partutemang nischt!

Er wollte jetzt durch das Tor wieder in die Stadt zurück.

Aber noch ehe er die kleine, hölzerne Brücke passiert hatte, war er schon wieder stehngeblieben.

»Donnerwetter! Das … nee! – Du! Jung! Rotzvieh! Du schwänzt doch nich etwa? Ich denke, du Aff, du ochst jetzt?!«

Der kleine Jonathan war puterrot geworden. Er war eben hinten durch das kleine, gelbe Häuschen an der Mauer dem Herrn Rektor Borchert, der den armen, kleinen Judenjungen totgeschlagen hatte, ausgerückt und wollte sich nun hinten um die Bauernvorstadt rum zu dem alten Vater Lorenz oben in den Wald schleichen. Nach Hause wollte er nie mehr zurück. Aber er hatte seine dicke, blanke Doppelkrone genommen, die ihm sein Papa heute in den Kittel gesteckt, und fest drum die Hand zugemacht.

»Na, du Kuhjung‘? Wird’s bald?«

Kotel Thiel hatte ihm eins forsch auf die Schulter geschlagen. »Na?«

Er kramte eifrig in seinen Taschen rum.

»Na? Oder willst du Backzähne schlucken, Jungchen?!«

Der kleine Jonathan zitterte an seinem ganzen Leibe.

Kotel Thiel fing sich immer Frösche!

»Na? Eins – zwei – Himmel – und? Und? Na?«

Kotel Thiel hatte sich jetzt dicht vor ihn hingestellt und fuchtelte ihm nun mit seinem gräßlichen, blanken Federmesser in einem fort vorm Gesicht rum.

»Ach, du! Ach, du! Ach, Kotel! Ach, lieber, lieber Kotel!«

Der kleine Jonathan hatte jetzt laut zu weinen angefangen. Kotel Thiel schlitzte ihnen damit immer den Bauch auf!

»Nich? Na, denn nich, du Schafskopp!«

Kotel Thiel hatte sein greuliches Groschenmesser großmütig wieder zuschnappen lassen.

»Glaubst du, daß ich nich weiß, daß dein Vater Pillendreher is? Glaubst du, daß ich mir an dir die Finger schmutzig machen wer‘?«

Kotel Thiel wußte sich auf einmal kaum zu lassen vor Ekel. Er hatte eben das dicke, blanke, runde Ding in seiner Hand gesehn und war sich sofort darüber klar geworden, was das sein mußte. Er steckte sein Messer wieder ruhig in die Tasche. Sein Plan war gefaßt.

»Glaubt der Aff‘, daß ich ihm den Bauch aufschlitzen wer‘! Nee Duchen! Weißt du, was du bist? ’n Aff‘ bist du!«

Der kleine Jonathan trocknete sich noch immer mit seinen beiden Fäusten die Tränen aus den Augen. Kotel Thiel spielte immer Indianerchen! Er schluchzte nur so.

Kotel Thiel hatte sich jetzt nach allen Seiten hin vorsichtig umgesehn.

Es war niemand in der Nähe. Nur die kleinen, halbnackten Flachsköpfe, die mit ihren kleinen, schmuddligen Füßchen in den vielen runden Tümpeln ringsum rumpatschten, und die paar kleinen Mädchen, die sich hinten an den kurzen, zerrissenen Hemdchen gepackt hielten, damit sie nicht mitten zu den Papierkähnen unter die Enten purzelten. Eine alte Frau, die auf einer Steinschwelle hockte, war über ihrem blauen Strickstrumpf eingeschlafen. Ihre Hornbrille war ihr über ihre kleine, eingefallne Stubsnase auf ihr spitzes, behaartes Kinn gerutscht.

Es war alles sicher.

Die bunten Gräser oben auf der Stadtmauer nickten, ihre langen, blauen Schatten fielen unten auf die rosa Rücken zweier kleinen, dicken Ferkelchen, die sich mit ihren spitzen Schnauzen in den gelben Sand gewühlt hatten und nur noch mit den Ohren zuckelten, wenn eine Fliege über sie wegkroch. Weiter hinten bei den Bajazzos wurde grade ein kleiner Bengel durchgeprügelt. Sein jämmerliches Geschrei zeterte über die ganze Bauernvorstadt hin. Hinten, ganz fern auf der Chaussee, ein großer weißer Mehlwagen …

Kotel Thiel war jetzt gradezu manierlich geworden.

»Weißt du, Mensch? Soll ich dir mal was sagen?«

Der kleine Jonathan sah auf. Wenn Kotel Thiel zu einem »Mensch« sagte, brauchte man keine Angst vor ihm zu haben.

»Ich mein‘ …«

Er war jetzt auf einmal puterrot geworden. Er hustete.

»Ich mein‘ … also … kurz und gut, du Aff‘, du sollst mir was pumpen!«

Er hatte sich wieder die Hände mitten in die Hosentaschen gesteckt und sah nun den kleinen Jonathan drohend an.

Der kleine Jonathan hatte seine Augen vor Schrecken groß aufgerissen. Er war kreidebleich geworden.

»Natürlich brauchst du Knubbeljung‘ nich gleich zu denken, daß ich dir dein koddriges Geld nich wieder zurückgeb‘! Glaubst du, ich bin ein Jud‘? Du gibst mir einfach von deinem Alten noch was Lakritzensaft zu, und dann geb‘ ich dir Maikäfer für. Na? Zu, du Aff‘! Glaubst du, ich hab‘ hier so lange Zeit, zu stehn un nich in die Schul‘ zu gehn? Glaubst du, wir haben heute keine Schul‘, du Aff? Du bist ausgekniffen, du Aff‘! Du schwänzt! Na? Willst du nu oder nich? Eine ganze Schachtel voll! Eine ganze dicke, große Schachtel! Lauter Müller und Schornsteinfeger! Na?«

Kotel Thiel hatte seine ganze Beredsamkeit aufgeboten. Er stand jetzt breitbeinig vor ihm da.

»Na?«

Die beiden kleinen, rosa Ferkelchen, denen eben zu gleicher Zeit zwei dicke, blaue Brummer über die Schnauzen gekrochen waren, hatten sich jetzt beide auf ihre runden Rücken rumgesühlt und grunzten. Ihre acht kleinen, dicken Beine stakerten in die Luft.

Der kleine Jonathan schwankte noch.

»Maikäfer?«

»Zum Donnerwetter, ja doch! Maikäfer, du Aff‘! Verstehst du denn nich? Maikäfer!«

Kotel Thiel fing jetzt endlich wirklich an, die Geduld zu verlieren. Er mußte heute noch absolut seinen Aufsatz einschreiben: »Der seltene Edelmut des Horatius Cocles!« Er fing an: »Schon die alten Phönizier.«

»Also, willst du nu oder nicht? Eine ganze Schachtel voll!«

»Auf Ehre?«

Der kleine Jonathan hatte gehört, wenn Kotel Thiel zu einem »auf Ehre!« sagte, dann war alles wirklich und auf Ernst.

»Auf Ehre?«

Kotel Thiel war wieder rot geworden.

»Natürlich, du Aff‘! Auf was denn sonst? Ich bin doch kein Jud‘? Wenn du nochmal sagst, du Aff‘, daß ich ein Jud‘ bin, dann knuff‘ ich dir das Fell voll, aber wer‘ dir keine Maikäfer schenken! Glaubst du, ich bin ein Jud‘? Wenn du nich gleich sagst, daß ich kein Juditzig bin …«

»Da!«

Der kleine Jonathan hatte seine dicke, weiße Patschhand groß aufgemacht. Er hatte sie so lange hinter seinem Rücken gehalten. Die schöne, harte, blanke Doppelkrone lag mitten drin.

»Also eine ganze große, dicke Schachtel voll! Müller, Bäcker und …«

»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«

Der kleine Jonathan stand da!

Kotel Thiel war mit seiner schönen, harten, blanken Doppelkrone die lange, dunkle Torstraße in die Höhe gelaufen und stand jetzt breitbeinig über dem Rinnstein. Das schöne, silberne Ding schwenkte er immer nur so rund um seine Mütze rum.

»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«

Der kleine Jonathan dachte nicht einmal dran, seinen Mund aufzumachen.

Die bunten Gräser oben auf der Stadtmauer zitterten, unten in dem Teerstreifen spiegelte sich die Sonne.

Plötzlich war der kleine Jonathan wieder zusammengefahren. Aus dem nächsten Bauernhaus mitten unter die kleinen, halbnackten Flachsköpfe hatte sich eben ein altes, triefäugiges Weib gestürzt und bearbeitete sie nun mit einem großen, strubbligen Besen, der auf einen roten Birkenpfahl gespießt war.

»Will’n ji rin un stoppen Strümp?!«

Die kleinen Bälge liefen was sie konnten. Mutter Kerstens hinterdrein.

»Will’n ji rin un stoppen Strümp?«

Die beiden kleinen, rosa Ferkelchen hatten sich erschreckt unter die alte Stadtmauer geflüchtet, mitten zwischen die dicken Nesseln!

Der große, weiße Mehlwagen war die lange, staubige Chaussee runtergekommen und ratterte schwerfällig über die Brücke.

»Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!«

Der kleine Jonathan stand da wie tot. Er sah nur noch die Sonne, die sich unten in dem schwarzen Teerstreifen spiegelte.

III

Endlich, am Abend, als die Sonne schon rot hinter den stillen, schwarzen Tannen stand, wagte sich der kleine Jonathan wieder aus seinem Versteck. Sein ganzes schönes, neues Kittelchen war mit Moos beklebt, seine kleinen, kurzen Stulpstiefelchen staken voll Erde. Er war furchtbar hungrig!

Wenn er sich jetzt nicht zu dem alten Lorenz traute und um ein Stückchen Brot bettelte, mußte er sterben. Dann zerrissen ihn die Wölfe, und die Krähen hackten ihm die Augen aus. Dann war er so tot wie der kleine Lewin.

Er war wieder stehngeblieben.

Ein großer, roter Strauch hatte ihm hinten in sein zerrissenes Kittelchen einen Dorn eingehakt. Die dicken, blauen Beeren dran waren gewiß giftig.

Oh, er konnte nicht einmal mehr weinen!

Die Farren standen hier noch so hoch, daß sie ihm bis über den Bauch reichten. Ein Bündel Glockenblumen schwamm wie eine kleine, blaue Insel drin. Die großen, bunten Schmetterlinge drüber waren alle schon schlafen gegangen. Über einer kleinen, runden Lichtung spielte nur noch ein dicker, dunkler Schwarm Mücken in der goldnen Luft. Jetzt, irgendwo in der Ferne, sang ein Vogel Bülow. Der ganze Wald roch nach Pilzen.

Der kleine Jonathan seufzte. Er konnte sich kaum noch weiterschleppen.

Seine Händchen waren ihm dick geschwollen, seine langen, braunen Locken hingen ihm wirr über die kleine, weiße Stirn und über die großen, blauen Augen drunter, die ihm wehtaten. Bei jedem Schritt über die dicken, braunen Wurzeln unten stolperte er.

Der alte Lorenz war dem kleinen Jonathan sein bester Freund. Er kam immer unten in die Apotheke und verkaufte Kräuterchen.

Sein kleines, rotes Häuschen stand draußen dicht am Waldrand. Aus seinen beiden niedrigen Fensterchen, hinter denen das ganze Jahr durch immer Goldlack, Fuchsien und Verbenen blühten, konnte man grade unten auf die vielen alten, spitzen, grauen Dächer sehn.

Oben auf seinem kleinen, kohlschwarzen Schornsteinchen saßen heute zwei Tauben, die sich schnäbelten. Die dicken, dunklen Tannen drüber, die jetzt im Abendwinde leise ihre spitzen, vergoldeten Kronen schaukelten, duckten ihre starren, untersten, grünen Äste bis grade dicht auf ihr weiches, weißes Gefieder. Der alte, dicke, faule Plumpsack Pluto unten lag quer vor der Tür und schnarchte. Die kleinen, breiten Fensterchen zu beiden Seiten blitzten, der ganze, weiche Waldboden davor war mit Stroh bestreut.

Dazwischen die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen, die nach Regenwürmern pickten und dabei in einem fort gackerten.

Der kleine Jonathan atmete tief auf. Er hatte sich eben hinten durch das kleine, grüne Petersiliengärtchen verstohlen über die graue, ausgetretne Steinschwelle geschlichen und stand nun mitten in dem langen, schmalen, dunklen Flur.

Die Sonne, die von vorn her schräg durch die runde, rissige Tür schien, deren untere, viereckige Hälfte offenstand, lag noch auf einem Teil des Fußbodens. Er war rot geziegelt. Der kleine Jonathan hatte sich jetzt mit seinem kleinen, runden Kopf schwer gegen die dicke, weiße Wand gelehnt. Sie war eiskalt! Er fühlte, wie ihm sein kleines Herz klopfte. Seine Augen hatte er fest zugemacht …

Rechts hinter der dünnen, braunen Tür, die in die große, blaue Wohnstube führte, hörte er deutlich, wie in das Ticken der alten Kuckucksuhr etwas schnurrte.

Schnurr … schnurr …schnurr …

Das war das kleine, rote Eichkaterchen drin, das sein Bauerchen drehte.

Dazwischen über ein morsches Holz tippelte etwas mit seinen Pfoten.

Tipp-tapp … tipp-tapp … tipp-tapp …

Immer hin und her! Immer hin und her!

Das war der alte Rabe Jakob, der wieder spazierenging.

Der kleine Jonathan hörte es ganz deutlich! Ab und zu blieb er stehn und schimpfte.

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Dann blieb das kleine, rote Eichkaterchen jedesmal ganz erschreckt sitzen, und alles war wieder eine Zeitlang ganz still.

Ganz still …

Der kleine Jonathan hatte jetzt seine Augen wieder groß aufgemacht.

Die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen draußen, ab und zu, gackerten, der alte, dicke Pluto, der mit seinem grauen Hinterteil noch grade vorn in das rote, warme Sonnenviertel reichte, schnarchte, die Tauben oben über dem Dache gurrten, die Tannen drüber rauschten.

Der kleine Jonathan horchte.

Das war grade wie ein Märchen! Das war wie das Haus von der alten Hexe …

Nur der alte Papa Lorenz ließ sich nicht hören! Der saß jetzt wahrscheinlich wieder in dem großen, ledernen Lehnstuhl neben dem Fenster und schlief. Bloß, er schnarchte heute nicht!

Der kleine Jonathan schwankte noch. Endlich aber faßte er sich ein Herz.

Er stellte sich auf Spitzzehen und klinkte den runden, eisernen Drücker auf.

»Schnurr … schnurr … schnurr … Dummkopf!«

Er stand jetzt mitten in der Stube!

Die Sonne, die schräg durch das breite, niedrige Fensterchen fiel, schien dem alten Vater Lorenz grade mitten in den alten, runzligen Mund. Er stand groß auf und hatte keine Zähne mehr. Vorn auf seiner dicken, blauen Zunge saß eine kleine Fliege. Sie putzte sich eben ihre schwarzen Hinterbeinchen.

Ganz erschreckt war der kleine Jonathan stehngeblieben.

Noch nie hatte er gewußt, daß ein Mensch so die Augen aufhatte, wenn er schlief!

Der alte Papa Lorenz hatte sie starr oben auf den großen, weißen Balken an der Decke gerichtet, von dem an dem roten, zerrissenen Schnupftuch noch vom vergangenen Winter her das alte, leere, hölzerne Vogelbauerchen baumelte.

Seine runde, blaue Brille, die in der Mitte dick mit Werg umwickelt war, saß ihm grade vorn auf der dünnen, schneeweißen Nasenspitze. Rechts und links auf den blanken, ledernen Lehnen seine beiden Hände. Die Finger dran alle weit auseinandergespreizt, die dicken, blauen Adern drum schwarz geschwollen.

Seine schöne, neue, lange Pfeife war ihm eben ausgegangen. Sie stak mitten zwischen seinen alten, dünnen Beinen, die heute dick mit weißen Lappen umwickelt waren.

»Dummkopf!«

Der kleine Jonathan war unwillkürlich zurückgeprallt.

So zornig hatte er den alten Raben Jakob noch nie gesehn.

Die dünnen, schwarzen Federn auf seinem Rücken hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten.

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Er hackte jetzt mit seinem großen, schwarzen Schnabel wie wütend auf das breite, morsche Fensterbrett ein.

Die vielen kleinen, bunten Blumentöpfe drauf wackelten, von den mittelsten Fuchsien plumpten jetzt nacheinander drei dicke, rosa Blüten runter.

Der kleine Jonathan sah alles ganz genau! Er hatte sich nach und nach bis hinten hinter das grüne, wacklige Küchentischchen geflüchtet.

Die erste lag unten mitten in dem kleinen, weißen Zuckerschälchen, die zweite hing der großen, himmelblauen Kaffeetasse dicht daneben noch grade schief über den dünnen abgeschabten Goldrand, die dritte war gleich dahinter mitten in die tiefe, runde, grünbraune Schnupftabaksdose gefallen. Quer davor aus dem alten, rotgefütterten Lederfutteral stak das Rasiermesser von dem alten Vater Lorenz!

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Seine beiden alten, welken Hände waren kraftlos rechts und links über die Lehnen runtergeschlottert, seine Pfeife lag jetzt unten mitten zwischen dem blauen Blumenschatten. Das dicke, schwarze Vieh hatte sich ihm eben mitten auf den Bauch plumpen lassen.

Der kleine Jonathan zitterte an allen Gliedern.

Der alte Papa Lorenz schlief noch immer!

Seinen dicken, schwarzen Schnabel hatte der alte Rabe Jakob mitten in die alte, blaßrote Flanelljacke gehakt. Um nicht unten in die dicke Pfeifenasche zu fallen, schlug er dabei wütend mit den Flügeln. Sie waren kurz und an ihren Enden abgehackt. Jetzt hatte er endlich auch den ersten großen, runden Hornknopf zu packen gekriegt. Er biß sich dran fest! Die Nähte drumrum krachten, er kletterte langsam in die Höhe. Er konnte jetzt vor lauter Wut nicht einmal mehr schreien. Er krächzte nur noch.

»Kraah … kraah … kraah …«

Der kleine Jonathan hatte sich jetzt bis ganz hinten hinter den großen, grünen Kachelofen verkrochen. Eine entsetzliche Angst hatte ihn gepackt. Er wollte schreien! Großvater!! Aber er konnte nicht! Seine kleine Kehle war ihm wie zugeschnürt …

Der alte Vater Lorenz saß noch immer da. Die kleine, schwarze Fliege aus seinem Munde war aufgesurrt und stieß jetzt mit ihren kleinen, blauen, glasharten Flügelchen fortwährend gegen den dicken, weißen Balken oben.

»Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Das kleine, rote Eichkaterchen in seinem Bauerchen hatte sich mit seinen krummen Pfoten vorn in die Drahtsprossen gehakt und sah neugierig nach dem Raben rüber. Der war das rotgestreifte Kissen in die Höhe bis oben auf den Lehnstuhl geklettert und saß nun dem alten Vater Lorenz grade mitten über dem Kopfe. »Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!«

Seine spitze, abgelederte Brust hatte sich ihm dick aufgebläht, seine schwarzen Flügel schlugen.

Der kleine Jonathan hätte am liebsten zu weinen angefangen.

Wenn der alte Papa Lorenz jetzt nicht endlich aufwachte, hackte er ihm den Kopf ab!

»Großvater! Großvater!«

Ah! Jetzt hatte das alte, schwarze Vieh ihn gesehn. Seine Schwanzfedern hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten. Fast wäre es mit seinem dicken, schwarzen Schnabel vornübergewippt. Aber er hielt sich noch!

»Kraah! Kraah!! Kraah!!!«

Mit einem Ruck war es jetzt dem alten Lorenz mit seinen scharfen, spitzen Krallen auf den alten, nackten Kopf gesprungen.

»Kraah!!!«

Dem kleinen Jonathan war es eiskalt über den Rücken gelaufen.

Der alte Papa Lorenz hatte nicht einmal Muck gemacht! Sein Kopf war lautlos vornübergewippt, die Kinnlade unten auf die rote, eingefallne Brust gestoßen, der Mund gräßlich zugeklappt und die kleine, schwarze Fliege drin, die sich eben wieder auf seine Zunge gewagt hatte, begraben. Der alte Rabe Jakob aber war bis unten auf die gelben, schrunzligen Dielen mitten in die dicke, graue Pfeifenasche gekullert.

»Kraah! Kraah!!«

Er hatte sich wieder aufgerappelt und kam sehr zornig auf den kleinen Jonathan zugehumpelt.

»Kraah! Kraah!«

Über die Pfeife stolperte er.

»Kraah!«

Das kleine, rote Eichkaterchen drehte wieder wie toll sein Bauerchen.

Schnurr … schnurr … schnurr …

Der kleine Jonathan hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Er wußte von nichts mehr!

Nur noch die Mama, die Mama!

Als er sich dann aber draußen über den alten, dicken Pluto weg mitten unter die kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen stürzte, schlugen von unten aus der Stadt her grade die Glocken an. Feierabend!

Das war dem kleinen Jonathan sein erster Schultag.

 

 

 

Arno Holz, Porträt von Erich Büttner (1916

Weiterführend

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, dass sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. Daher stellen wir in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.