»Hör mal, wie ruhig es hier ist!«, haucht Nataly. Ihr Trommelfell ist besonders anfällig für mediale Erfahrungen, weil sich das Ohr nicht so einfach verschliessen lässt wie das Auge. Das Zusammenwirken von Geist und Seele, Sinn und Expression scheint ihr ein Angelpunkt authentischen Ausdrucks; das schliesst allerdings Schwärmerei, Leidenschaftlichkeit und Persiflage nicht aus, sonst wäre einzig der Urschrei noch beglaubigt, und Kunst immer eine Fälschung. Nachdem sie die Grenzerfahrung von Surfern nachvollzogen hat, die auf der Suche nach der perfekten Welle dem Sommer nachreisen, weckt sie ihren Reisegefährten aus dem Halbschlaf. Max reibt sich die Lauscher, versucht den Knorpel zu verschliessen und stimmt ihr stillschweigend zu, dass es für das Ohr kein Lid gibt.
»Kann man in die Stille hinein hören?«, riskiert Max ein psychopathetisches Wagnis, nachdem die trägen Wellen lange nasse Finger auf den Sand zeichnen und unzählige Taschenkrebse mit ihren gepanzerten Gliedern in den Felsenhöhlen rascheln… nachfolgend ist nicht einmal mehr der Wind zu hören. Max gibt seine bewusste Zurückhaltung auf, erhebt sich und streunt am Strand entlang.
Seelenzergliederung. Nataly schweigt und ist erleichtert, wenn sie einen Tag lang ohne ein Wort auskommen. Es ist für sie unfassbar, was alles geredet wird. Sie lebt in einer geschwätzigen Welt, in der das Sprechen häufig nicht dazu dient, dass sich Menschen näher kommen, sondern dazu, dass sie sich zuschütten mit Worten und doch jeder für sich allein bleibt. Sie empfindet den sorglosen Umgang mit Sprache als schmerzhaft, weil sie ein Gefühl dafür entwickelt hat, dass Worte auch Gewicht haben und verletzen können. Besser erscheint es ihr, vorgeprägten Sprachbildern und eingeübten Redewendungen zu entsagen. Wahrheiten werden ihr durch Sprache vermittelt, Wahrhaftigkeit durch das Schweigen. Stumm–Sein ist leichter als Taub–Sein. Es ist eine beständige Aufwallung für Nataly, Mensch zu werden, aus der verstreichenden Zeit ihren Brustkasten aufzuspannen, dem Formlosen eine Figur abzugewinnen; ein unablässiger Ringkampf mit den Kräften des zu Gestaltenden, aus dem sie erst hervorgeht.
Nicht schön genug, um wahr zu sein. Sie fühlt sich irdisch stark und himmlisch flüchtig, oszilliert zwischen rauschhaftem Glück, fiebriger Verzweiflung und dem Wissen um die Schuld, die sie auf sich geladen hat. An ihr kränkelt kein Zweifel, sie muss weitermachen, indem sie versucht unter dem mediterranen Müssiggang das Nachdenken zu üben; und der Stille ihres Zweifels seine Zeit zu lassen…
Glühende Unbedingtheit. Nataly und Max verstehen einander, ohne viel Worte zu machen, sie empfinden sehr viel füreinander; aber sie suchen noch nach einer Sprache für ihre Ängste und Begierden, ihre Lust und ihr Begehren. Sie können einander noch nicht erzählen, was bereits in ihren Leib eingeschrieben ist. Suchen Worte, um dieses Zeichensystem zum Teil ihres Universums zu machen.
„Wann wird einem der Andere zum Prüfstein?“, grübelt Max. Utensilien ähneln Menschen, sie sprechen, sind jedoch nicht jedem gegenüber redselig. Max findet Gegenstände, nimmt sie mit sich, kommt mit ihnen ins Gespräch und erfährt so ihre Geschichten. Er sammelt Treibholz, entfacht ein Feuer, lässt Lammfleisch darüber kreisen und sieht aufs Meer hinaus. Beim Blick über das Nildelta erscheint ihm sein bisheriges Leben als ein Flickenteppich aus Erinnerungsfetzen.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
Weiterführend →
Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.