Die Judenbuche

So liefen wir bis Heerse; da war es noch dunkel, und wir versteckten uns hinter das große Kreuz am Kirchhofe, bis es etwas heller würde, weil wir uns vor den Steinbrüchen am Zellerfelde fürchteten, und wie wir eine Weile gesessen hatten, hörten wir mit einem Male über uns schnauben und stampfen und sahen lange Feuerstrahlen in der Luft gerade über dem Heerser Kirchturm. Wir sprangen auf und liefen, was wir konnten, in Gottes Namen gerade aus, und wie es dämmerte, waren wir wirklich auf dem rechten Wege nach Paderborn.

Die Handlung spielt in dem entlegenen westfälischen „Dorf B.“ in einem deutschen Kleinstaat des 18. Jahrhunderts, noch vor der Zeit der großen Umwälzungen, die die Französische Revolution für Europa mit sich brachte. Die Novelle handelt von einem unaufgeklärten Mord, erläutert dessen Vor- und Nachgeschichte und wird nicht nur als Kriminalgeschichte, sondern vor allem als Milieustudie verstanden.

Im Kleinstaat Fürstbistum Paderborn hatte Hermann Georg (oder Johannes) Winckelhan (getauft am 22. August 1764) im Jahr 1782 von dem jüdischen Händler Soistmann Berend (oder auch Soestmann-Behrens) Stoff für ein Hemd erhalten, jedoch nicht bezahlt. In einem deshalb 1783 stattfindenden Prozess unter der Leitung des Lichtenauer Drosten Werner Adolph von Haxthausen (Droste war ein Amt der niederen Gerichtsbarkeit im Fürstbistum) wurde Winckelhan zur Zahlung verurteilt, woraufhin dieser gegen Soistmann Berend Morddrohungen aussprach. Am selben Abend sah ein Förster sowohl Winckelhan, mit einem Knüppel bewaffnet, als auch kurz darauf Soistmann Berend in den Wald gehen. Zwei Tage später wurde Soistmann Berend von seiner Frau an einer Buche im Wald erschlagen aufgefunden; in die Buche ritzte die jüdische Gemeinschaft des Ortes anschließend ein Zeichen in hebräischer Schrift ein. Um seiner Verhaftung zu entkommen, floh Winckelhan ins Ausland, wo er in Gefangenschaft geriet und versklavt wurde. Erst nach fast 25 Jahren kehrte er in seinen Heimatort zurück. Nachdem von einer weiteren Strafverfolgung aufgrund seines erlittenen Leides während der Versklavung abgesehen worden war, gestand er den Mord. Winckelhan lebte fortan als Tagelöhner und Bettler und erhängte sich 1806 an der Buche, an der Soistmann Berend erschlagen aufgefunden worden war. Der Baum wurde zwei Jahre später gefällt. Winckelhan wurde trotz des Selbstmords auf Bitte des Drosten am 18. September 1806 in Bellersen katholisch beigesetzt.

Annette von Droste-Hülshoff setzte diese Begebenheit literarisch um und entwickelte dazu eine Vorgeschichte, mit der es ihr gelang, „das Geschehen als Folge einer Störung der menschlichen Gemeinschaft darzustellen“ (Kindler). Das sich durch eine Folge ungewöhnlicher Ereignisse bald verdichtende und gegen Ende zuspitzende Schicksal Friedrich Mergels enthüllt das Verhängnisvolle der Situation der Gesellschaft.

Neben dem oben geschilderten Verbrechen an der Buche, in die hebräische Schriftzeichen eingeritzt worden waren, könnte Annette von Droste-Hülshoff auch vom so genannten Judenbaum im Reinhardswald inspiriert worden sein. Das legt zumindest die Gedenktafel nahe, die am Standort des mittlerweile abgestorbenen Baumes im Jahr 2003 aufgestellt wurde. Dort soll ein jüdischer Händler 1668 Opfer eines Raubmordes geworden sein. Seitdem war die dort stehende Eiche (also keine Buche) als Judenbaum bekannt. Dafür, dass sich die Schriftstellerin auch von diesem Baum anregen ließ, spricht zum einen die Tatsache, dass sie den Reinhardswald bereist hatte. Zum anderen spricht dafür, dass es zu dieser Zeit in den Dörfern des Reinhardswaldes einen Förster namens Friedrich Mergell und einen weiteren mit Namen Carl Friedrich Mergell gab. Die Ähnlichkeit mit dem Namen der Hauptperson der Judenbuche, Friedrich Mergel, kann kaum zufällig sein.

Alle negativen Ereignisse der Novelle geschehen in der Nähe der Buche im Brederwald, und zwar immer nachts oder während der Dämmerung, nie am Tage. So wird der Brederwald zu einer Art „magischem Raum“, die Buche zum „Dingsymbol für ein Geschehen des Unheils“ (B. v. Wiese). „Der sachlich-nüchterne, durch genaue Zeitangaben äußerst distanzierte Berichtstil lässt die ständige Bedrohung des Menschen […] durch die Macht des Dunklen und Irrealen noch unheimlicher hervortreten“.

Zu den zahlreichen sozialen Vorurteilen, die Annette von Droste-Hülshoffs „Sittengemälde“ thematisiert und die als „geheime Seelendiebe“ auch Friedrich Mergel schon in seiner Kindheit prägen wie „jedes Wort, das unvergessen / In junge Brust die zähen Wurzeln trieb“, gehört besonders die Judenfeindlichkeit im Dorf B.

Spoilerfreie Handlung

Friedrich Mergels Werdegang scheint schon vor seiner Geburt festzustehen: In seiner Familie herrschen „viel Unordnung und böse Wirtschaft“. Seine Mutter Margreth war in ihrer Jugend zu stolz und hat spät geheiratet, und das nicht aus Liebe, sondern nur, um nicht als alte Jungfer ins soziale Abseits zu geraten. Sein Vater Hermann Mergel, ein starker Alkoholiker, nahm Margreth Semmler zur Frau, nachdem ihm seine erste Braut in der Hochzeitsnacht davongelaufen und später gestorben war. Auch Margreth hat unter seinen allwöchentlichen Saufgelagen und anschließenden Handgreiflichkeiten zu leiden, obwohl sie dies vor der Dorfgemeinschaft zu verbergen versucht.

Als Friedrich neun Jahre alt ist, kommt sein Vater in einer stürmischen Winternacht ums Leben, nachdem er betrunken im Wald einschläft und dabei erfriert. Dadurch sinkt Friedrichs ohnehin ramponiertes soziales Ansehen im Dorf noch tiefer. Er hütet fortan die Kühe. Wenige Jahre später adoptiert ihn sein Onkel Simon, stellt ihn bei sich ein und verhilft ihm mit obskuren Geschäften zu etwas Geld und Ansehen. Friedrich macht Bekanntschaft mit Simons unehelichem Sohn, dem Schweinehirten Johannes Niemand, einem verängstigten Jungen, der Friedrich äußerlich auffallend ähnlich sieht und den der selbstbewusst gewordene Friedrich bald wie seinen Diener behandelt.

Bisher vom Dorf wenig beachtete Holzdiebstähle durch die sogenannten Blaukittel nehmen immer mehr zu. Daher verstärken die Förster ihre Kontrollen, können aber die Diebe dennoch nicht auf frischer Tat ertappen. Als dieses eines Nachts dem Oberförster Brandis zu gelingen scheint, wird er von den Blaukitteln brutal erschlagen. Friedrich fühlt sich, obwohl er vor Gericht alles ableugnet und man ihm nichts beweisen kann, mitschuldig an Brandis‘ Tod, hat er doch in jener Nacht Schmiere gestanden, die Blaukittel durch einen Pfiff vor der Ankunft des Försters gewarnt und diesen dann in einen Hinterhalt geschickt. Sein Oheim drängt ihn durch das Verdrehen der Zehn Gebote zum Schweigen:

„Denk an die zehn Gebote: du sollst kein Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten.« – »Kein falsches!« – »Nein, gar keines; du bist schlecht unterrichtet; wer einen andern in der Beichte anklagt, der empfängt das Sakrament unwürdig.“

– Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche Kapitel 5

Im Oktober 1760 wird Friedrich auf einer Hochzeitsfeier vom Juden Aaron bloßgestellt, der ihn lauthals „vor allen Leuten um den Betrag von zehn Talern für eine schon um Ostern gelieferte Uhr“ mahnt. Aarons Leiche wird wenig später im Brederwald unter einer Buche aufgefunden. Sofort gerät Friedrich in Verdacht. Als man sein Haus umzingelt, um ihn festzunehmen, flieht er zusammen mit Johannes Niemand durchs Fenster. Der Verdacht wird später zwar offiziell durch das Geständnis eines Dritten entkräftet, es bleibt jedoch ungeklärt, ob sich dessen Aussage tatsächlich auf den Mord an Aaron bezieht. Friedrich und Johannes aber bleiben verschwunden.

Eine Delegation der Juden des Dorfes kauft die Buche, unter der Aaron gefunden wurde, und ritzt mit hebräischen Schriftzeichen in deren Rinde den Satz „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ Fortan wird diese Buche von den Dorfbewohnern „die Judenbuche“ genannt. Der Mord ist längst verjährt und vergessen, als nach achtundzwanzig Jahren, am Heiligen Abend des Jahres 1788, ein Mann in das Dorf B. zurückkehrt, der sich als Johannes Niemand ausgibt. Margreth Mergel, die seit der Flucht ihres Sohnes in „völliger Geistesdumpfheit“ dahinvegetierte, und ihr Bruder Simon Semmler sind zu diesem Zeitpunkt bereits verarmt gestorben. Der Zurückgekehrte kann beim Gutsherrn des Dorfes unterkommen und verbringt seine alten Tage mit Botengängen und dem Schnitzen von Holzlöffeln. Neun Monate später kehrt er eines Tages nicht mehr aus dem Brederwald zurück. Als man nach ihm sucht, findet der junge Brandis, Sohn des ermordeten Oberförsters, den Vermissten in der Judenbuche erhängt. Der Gutsherr untersucht die Leiche und entdeckt zu seiner Überraschung eine alte Halsnarbe, die den Toten als Friedrich Mergel identifiziert. Ohne geistlichen Beistand wird er auf dem Schindanger verscharrt.

 

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Die Judenbuche – Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen ist eine Novelle von Annette von Droste-Hülshoff, die erstmals 1842 im Cotta’schen Morgenblatt für gebildete Leser erschien.

Weiterführend

Regelmäßig wird im Zusammenhang mit der Novelle die von Paul Heyse formulierte „Falkentheorie“ angeführt, die die Kategorien der Silhouette (Konzentration auf das Grundmotiv im Handlungsverlauf) und des Falken (Dingsymbol für das jeweilige Problem der Novelle) als novellentypisch benennt. Photo: Ph. Oelwein

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.