Wenn einer träumt, fällt er aus dem Zeitlupentempo seines wachen Lebens. In den rasenden Bildern der Nacht überholt er sich, man kann sagen, am Ende eines Traums stehe ich am Ziel und warte auf mich selbst. Aber was ist das Ziel? Der Eiserne Vorhang fiel nicht. Ich ließ mich in ein Phlegma fallen, ohne darüber nachzudenken. Ich heischte nach einer moralisch intakten Welt, ich attackierte meine Eltern und warf ihnen Scheinheiligkeit vor, bezichtigte sie der Verlogenheit – ich dagegen entzog mich den häuslichen Pflichten, flunkerte und log, wenn es mir nützte, wenn auch nur kurzfristig. Ich belog mich am Ende selbst. Mein Idealismus bestand nur aus Worten und Wünschen. Ich wollte mich in einem moralischen Schlaraffenland bequem einrichten, als König natürlich, und dachte kaum über den Tag hinaus. Als mir mein Großvater, Studienrat in Bochum, einen Brief schrieb, in dem er mit mir und meiner Verblendung abrechnete, schnappte ich ein, fühlte mich unverstanden und nun erst recht als verkanntes Genie. Du allein, nur Du hast Schuld an den Trümmern, vor denen Du heute stehst!, schrieb er. Er warf mir vor, mir habe sehr viel daran gelegen, in der Schule eine Rolle zu spielen, außer in den Fächern, die ich für die Versetzung brauchte. Wenn ich mich nicht endlich zu solider Arbeit entschiede, sei ich auf dem besten Wege zu einer verkrachten Existenz. Er nannte mich eine faule Frucht, für die keine Nachfrage bestehe. Nur ein Dummer hofft auf ein Wunder in seinem Lebensweg, meinte er. Wenn ich mich für einen besonders Begnadeten hielte, den die Menschen anbeten und dem sie opfern, dann sei ich ganz und gar vertrottelt. Du hast keine Ahnung vom Leben, schrieb er. Ich sei jeder soliden und ernsten Arbeit mit größtem Fleiß und vollkommenem Erfolg aus dem Wege gegangen. Als meine Fassade Risse bekam, hätte ich mit Schwindeleien andere und mich selbst über die Tatsachen hinwegtäuschen wollen … Das stimmte alles. Ich konnte die Wahrheit nicht akzeptieren.“
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.