Den 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini verbindet die europäische Postmoderne mit einer Würdigung eines ungewöhnlich vielseitigen Dichters, Schriftstellers, Sprachforschers, Filmemachers, Journalisten und nun auch … Fußballers. Die Edition Converso , seit vielen Jahren mit der italienischen Kulturwelt vertraut, hat sich aus diesem Anlass für Pier Paolo Pasolini etwas Besonderes ausgedacht. Eine Kombination von Beiträgen und Interviews aus dem Kreis italienischer Pasolini-Kenner und Verehrer wie auch einen Essay aus der Feder eines renommierten deutschen Schriftstellers und versiertem Hobby-Fußballers. Auf diese Weise ist eine besondere Form der Würdigung für Pasolini entstanden: Der Norddeutsche Moritz Rinke mit seinem Essay „Jedes Tor ist eine eigene Erfindung“ und der italienische Literaturwissenschaftler und Sportjournalist Valerio Curcio. Der eine auf der Suche nach Motiven, die seine eigene Begeisterung für das Spiel mit dem runden Leder mit der von Pasolinis Fussball-Leidenschaft verbinden, der andere auf der Suche nach den vielen Impulsen, die Pasolinis Fußball-Faszination in unterschiedlichen Funktionen und Lebenssituationen belegen.
Was aber verbindet die beiden Fußball-Fanatiker, die in ihrer Jugend jede freie Minute mit dem Kicken des verführerischen Lederballs verbrachten? Der eine in den frühen dreißiger Jahren im nordostitalienischen Friaul und dann als junger Mann in Bologna, der andere in den siebziger Jahren im Teufelsmoor bei Worpswede und dann als Stürmer in Autoren-Nationalmannschaften. Die aufopferungsvolle Bereitschaft, dem jeweiligen Gegner möglichst viele Bälle ins Netz zu ballern? Falsch geraten! Vielmehr geht es nach Rinke um die Erfüllung von Kindheitsträumen, dem die Bewunderten und die Bewunderer der Lederkugel nachhängen, egal ob sie verzückt an den Lippen der Fußballstars hängen, deren bizarren Sturmläufen folgen oder sich selbst mit dem Zauberball wieder in ihre Kindheit zurückbeamen. Und Moritz? Er hätte sehr gern Pasolini kennengelernt. Leider, leider war ihm das nicht vergönnt. Aber wenn sie sich getroffen hätten, dann hätte Moritz dem Allround-Künstler und Wissenschaftler Pasolini sicherlich erzählt, wie er als Stürmer der deutschen Autoren-Nationalmannschaft seinen italienischen Kollegen die Kugel ins Netz gedonnert hat. Und Paolo? Er hätte ihm gezeigt, dass er so wie der berühmte Stürmer von FC Bologna Amedeo Biavati, noch den „Übersteiger“ beherrscht. Noch weitere Fragen? Nein? Dann kommt Valerio Curcio mit seiner Monografie über Paolo Pasolini ins Spiel. Jede freie Minute habe der mit den Jungen gespielt, “die einen Zauber auf ihn ausübten.“ Eine Behauptung, die überprüft werden müsste. Paolo Pasolini, der Dichter, der unter die Fußballer gegangen ist? Stimmt denn das? Vielmehr ginge es doch um ein gleichsam metaphysisches Erleben, um „ein vollkommenes, authentisches, tiefes und zugleich kaleidoskopisches Versenken, wie man es selbst beim begeistertsten aller Fußballfans nur selten findet.“
Diese These greift Curcio in seiner themenorientierten Einleitung auf. “Für Pasolini … war der Sport die reinste Form der Erkenntnis, seiner selbst und der anderen,“ und keinesfalls nur eine schlaglichtartige, oberflächliche Momentaufnahme. Deshalb geht es ihm in den folgenden fünf Kapiteln in einer Art Mosaik um die Aufzeichnung von unterschiedlich nebeneinander existierenden Linien, „an denen entlang sich Pasolinis Liebe zum Fußball entwickelt hat.“ (S. 22) Er begreife Fußball „als universelle Sprache, als Mittel der Kommunikation, der Interaktion, als Teilhabe.“
In den folgenden Kapiteln mit den Bezeichnungen der Fußballfan, der Fußballspieler, der Erzähler, der Sportreporter, der Intellektuelle setzt sich Curcio aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven mit dem Sujet ‚Fußball‘ auseinander. In einleitenden Zitaten erfasst er dabei eine gleichsam schlaglichtartige Situation, die für Pasolini in den unterschiedlichen Funktionszuschreibungen symptomatisch war. Auf diese Weise entsteht bei der Lektüre der einzelnen Kapitel eine immer dichtere Argumentationskette, an deren Ende ein Fragezeichen steht: Opium fürs Volk? Und die Antwort lautet: „Pasolini war ein Intellektueller, der sich auf jede erdenkliche Weise mit Sport und sich ganz besonders mit dem Fußballspiel beschäftigte.“ (S. 125) Mit dieser sozialanthropologischen Perspektive auf den Fußball, an der er als begeisterter Akteur beteiligt ist, wendet sich Pasolini gegen die Behauptung, der Fußball verdumme die Massen und lenke sie von ihren revolutionären Energien ab. Gegen die in den 1960er und frühen 1970er Jahren heftigen Diskussionen, an denen sich der Intellektuelle beteiligte und oft zum heftig kritisierten Gegenstand sowohl der rechts-wie auch der linksorientierten Öffentlichkeit wurde, wehrte er sich mit einer Argumentationskette. In ihr kommen sowohl linguistisch orientierte Deutungsmuster als auch sakrale Elemente als neuzeitliches Kommunikationsmittel zum Tragen. Sie münden in der These, dass der Fußball als Massenphänomen funktioniere, wenngleich das ihn begleitende Milliarden-Geschäft zu verdammen sei. Und Pasolini? Er wird seit Anfang der 1970er Jahre sowohl von links- als auch rechtsorientierten Gruppierungen angegriffen. In vier Interviews verteidigt er seine therapeutische Haltung gegenüber seiner Fußballbegeisterung, die auch in den Fotografien des eindrucksvoll gestalteten Paperback-Band zum Ausdruck kommen. Ein erotisches Spiel sei es für ihn gewesen, sagt die Kulturanthropologin Dacia Maraini zum krönenden Abschluss. Kann es eine bessere Werbung für den genialen Pasolini in Deutschland geben?
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Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fussball nach Pier Paolo Pasolin, von Valerio Curcio i. Aus dem Italienischen von Judith Krieg. Bad Herrnalb (Edition Converso) 2022