Fünfter Schritt

 

Fünfter Schritt. Schon wieder ein Traum. Stella erzählte ihn mir, wieder am Brunnen. Sie träumte mich. Ich war im Traum mit ihr verschmolzen, sie träumte von mir, jetzt weiß ich es, sie träumte, was ich geträumt hätte, wenn ich an ihrer Stelle über mich hätte träumen können.

Ich träumte nur von Schatten. „Wer ist der dunkle Schatten?“, fragte ich Stella. „Ich weiß nicht“, sagte sie, „vielleicht ein Lichtgespenst.“ „Ich sah ihm in die Augen!“, sagte ich. „Das bedeutet nichts“, sagte Stella. „Ich spürte ihn“, sagte ich, „auch wenn ich keine Angst bekam, es war unheimlich.“ „Vielleicht war’s der Schatten selbst; wenn er sich begreift, leuchtet er“, sagte sie. „Nein“, sagte ich. Wir sahen uns an und schwiegen. Stella schloss die Augen. „Schschsch …!“ „Stella, du spielst mit mir!“ „Schschsch … ich hab’s. Es ist der Schiedsrichter deiner Lebensspiele“, sagte sie, „der mehräugige Zeuge, der immer da ist.“ „Was soll das sein?“, fragte ich. „Du musst dich selber lesen“, sagte sie. „Gut“, sagte ich und schloss die Augen, „ich will die Zunge entschlüsseln.“ „Die Zunge?“ „Ja“, sagte ich, „alle Bilder haben Zungen.“

Stella, die Romanistin. Sie kam aus Dresden, wo sie Kunst studierte. Sie wollte nicht Lehrerin werden, aber sie wusste, dass ihr am Ende keine andere Wahl blieb. Stella war zwei Jahre älter als ich. Sie erzählte nicht viel von sich. Sie wartete, bis ich mich wirklich für sie interessierte.

„Ich bin neugierig auf alles Wahnsinnige“, sagte sie, „du bist ein verdammt seltsamer Träumer, dein Wahnsinn ist schön und hat Witz.“

Sie erzählte mir, dass Schelling den Wahnsinn als belebendes Element sah, ohne das alles Sein in den leeren Schemen des Verstands erstarrt. Der Wahnsinn schlummert in jedem von uns, er tritt hervor, wenn Geist und Gemüt ohne den sanften Einfluss der Seele sind. Dann bricht das Dunkle hervor zum schreckenden Zeichen, und der Mensch, an dem er sich Bahn bricht, ist ihm ausgeliefert. Unter der zerbrechlichen Oberfläche verständigen Denkens und Wollens ruhen dunkle Kräfte, die durch heftigen Schmerz oder ähnlich erschütternde Emotionen angestoßen werden. Lebendiger Verstand ist nichts anderes als geregelter Wahnsinn.

„Du hast die Balance von Irresein und Wahn-Sinn ganz gut im Griff“, sagte Stella, „du erschaffst dir Vernunft mit deiner Einbildungskraft. Wer keinen Wahnsinn in sich hat, ist leer.“

Ich wusste, dass ich gern und viel träumte, aber ich war unsicher, ob das für mich gut war. Stella meinte, der Wahnsinn sei eingeschlossen in die sich selbst entfaltende Vernunft. Ich spürte kaum die Angst vor meiner Schwäche, die ich als Stärke noch nicht entdeckt hatte. Ohne es zu wollen, verhalf mir Stella zu einer ungeheuerlichen Selbstrechtfertigung meiner Lebensweise. Ich war nicht mehr weit davon entfernt, sie zur Lebenskunst zu erhöhen. Die Angst, das wusste ich, ist keine zufällige.

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.