Nostalgischer Mythomane. Dr. h.c. Paul Pozozza begeht mit der Galeristin Grazia Terribile eine Maschinenhalle, erbaut aus Backstein, Glas und einem graziösen Stahlskelett. Die Museumsarchitektur als begehbare Skulptur ist selbst ein Kunstwerk und hat sich von ihrem Inhalt emanzipiert. Dem Kunsttempel wird damit die Pathosformel genommen, ihn aber nicht negiert hat. Hier bewiesen die rauchenden Obelisken der Dampfmaschinen, dass ein Kirchturm nichts gegen den Schornstein einer Fabrik war. Diese Fabrik stammt aus einer Zeit, als die Schwerindustrie grenzenlos zu wachsen schien, und der Gott, der darin wohnte, nannte sich Kapitalismus. Der entkernte Raum der Industriekultur wartet darauf, von einer neuen spirituellen Kraft erfüllt zu werden.
Paul Pozozza hat um das geschichtlich kontaminierte Areal kämpfen müssen. Politiker, Richter, Konzern–Lobbies und Regierungsbeamte pflegen untereinander diskrete, clever verzahnte wechselseitige Beziehungen und unterminieren dadurch die laterale Balance der Gewaltenteilung zwischen Verfassung, Gerichten, Parlament, Regierung und den unabhängigen Medien als struktureller Basis der parlamentarischen Demokratie. Zunehmend wird bei dieser Verzahnung auf Subtilität oder sorgfältig erdachte Verschleierung verzichtet. Als pensionierter Bundestagsabgeordneter begreift er Demokratie als heilige Kuh der hypermodernen Welt. Sie ist die Hure der freien Welt, bereit, sich herauszuputzen und andere niederzumachen, bereit, ein breites Geschmacks–Spektrum zu befriedigen, verfügbar, um nach Belieben benutzt und missbraucht zu werden. Mit ihrer gezielten Konzernglobalisierung haben die Multis das System geknackt. Freie Wahlen, eine freie Presse und eine unabhängige Justiz bedeuten wenig, wenn sie durch den freien Markt zu verkäuflichen Gütern verhökert werden.
Seine schmale Gestalt wirkt zart. Der edle Kopf mit dem silbernen Haar und das ebenmässige Gesicht von grosser Intensität drücken Ernst und Würde aus. Er hat die äussere Erscheinung eines feinnervigen Gelehrten. Sein Blick ist forschend. Sein Wesen atmet Licht und Helligkeit. Paul Pozozza scheint unnahbar und ist von zurückhaltender Höflichkeit, lebt in einer anderen Welt, kompromisslos, integer und geradezu puritanisch in seinem Verantwortungsbewusstsein. Es vergeht kein Tag, an dem er sich nicht mit dem Kauf von Kunst beschäftigt. Dabei folgt er der Faustregel: lieber das Beste von nicht so bekannten Künstlern erwerben als drittklassige Werke von grossen Namen. Als Sammler sucht er nicht den Dialog zwischen mir und dem Werk, sondern zwischen den Werken, er will Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Positionen, zwischen Kulturen und Generationen schaffen. Paul Pozozza liebt die Kunst. Und er liebt die Künstler. Sie sind seine wahren Freunde. Er sammelt die Momente, in denen er Künstlern begegnet; und deshalb sucht er die Nähe zu ihnen.
Grazia besinnt sie sich auf ihre Rolle als Inkubatorin der zeitgenössischen Kunst, die Galeristin möchte ihn zu einer Präsentation mit Arbeiten von Vera Strange bewegen. Sie vertraut auf die Wirkung ihrer Galerie mit sorgfältig ausgewählten Exponaten. Als sie über ihre Ausstellungen spricht, entspannen sich die Züge. Sie redet über die Künstler wie über Freunde, liebt untergründige Bewegungen, stellt Erinnerung neben Auslöschung, und serviert im nächsten Augenblick beiläufig ein Werk, das aus einer offenen Wahrnehmung der Realität kommt.
Wahrnehmung ist eine Tochter der Zeit. Und der Lebensumstände. Vera ist die einzig wahre Eklektikerin in der gegenwärtigen Kunstszene. Eine Stilistin ohne eindeutigen Stil. Sie analysiert, kommentiert und karikiert auf bildhaft–sinnliche Weise. Eine Künstlerin, die ihre Vision stets ganz in den Dienst des Sujets stellt, es durchdringt und analysiert, seine Stofflichkeit ermittelt und schliesslich in Bilder rückprojiziert. Die Galeristin präsentiert dem Sammler eine Arbeit:
Eine Frau sitzt auf einem freischwingenden Stuhl. Sie hat das linke über das rechte Bein gezirkelt. Ihr Fuss, der in einem roten hochhackigen Schuh steckt, zeigt nach unten. Die in der Farbe des Schuhes lackierten Zehennägel ihres rechten nackten Fusses berühren den Linoleumfussboden. Neben der Ferse liegt der andere Schuh. Die Hacke ist abgebrochen und zeigt mit dem spitzen Ende in Richtung des Betrachters. Über dem Knöchel umreift ein goldenes Kettchen den Unterschenkel. Der schwarze Seidenstrumpf hat ein Loch, aus dem die in der Farbe des Schuhes lackierten Zehennägel obszön herauslugen. Der rechte Unterarm liegt auf dem linken Oberschenkel. Die linke Hand umfasst die Kniescheibe. Die Farbe der lackierten Fingernägel gleicht der Farbe der lackierten Fussnägel. Über den linken Ringfinger hat sie einen Diamantring gesteckt. Der Daumennagel ist eingerissen. Das Nagelbett ist entzündet. Hinter der blassen Hand befindet sich, nicht ganz verdeckt, ein grosses Loch im schwarzen Seidenstrumpf. Um die Oberschenkel pellt sich ein lederner Minirock. Am rechten Oberschenkel ist der Rock zurückgerutscht. Die Frau trägt Straps. Im freiliegenden Bauchnabel glitzert ein Hauch Strass. Ihr Oberkörper ist leicht vorgebeugt. Von den Schultern hängt eine seidene Bluse herab. Die Bluse ist nicht zugeknöpft und gibt den Blick auf den roten BH frei. Der rechte Arm ist angewinkelt. Ihre rechte Hand liegt auf dem linken Schulterblatt. Um den Schwanenhals hängt ein goldenes Kettchen. An dem Kettchen hängt ein Emblem. Darauf ist ein Adler zu erkennen, der eine Schlange in den Krallen hält. Das Kinn fliesst in einer eleganten Rundung in die gepuderten Wangen über. Die Ohrläppchen sind angewachsen. Die Farbe des sinnlichen Mundes gleicht der Farbe der Fingernägel. Die spitze Nase ist ihr einziger Makel. Das raffinierte Arrangement des Lidschattens lenkt geschickt davon ab. Die grünen Augen sind weit aufgerissen. Das Fragment der Augenbrauen besteht aus einem Strich. Ihr langes kupferrotes, nach rechts gescheiteltes Haar fällt glatt auf die Schultern herab. An der Schläfe befindet sich ein Einschussloch.
»Der Raum hat die Zeit als dominante Kategorie der Weltwahrnehmung abgelöst. Raum–Mataphern spriesen pilzegleich aus dem Boden«, interessiert Grazia Terribile weniger, wie sich ein Mensch auf einer visuellen Ebene selbst entwirft. Eher fragen sie sich, ob sich auch durch Handlungen, Verhaltensweisen, Kommunikationsformen so etwas wie Subjektivität weiter gestalten lässt.
Ganz egal was man macht, so die feste Überzeugung von Vera Strange, es ist bereits ein Sinn darin angelegt. Was weniger kalkulierte Wurstigkeit ist, als vielmehr das Vertrauen in die eigenen Bilder, die nicht im Kopf entstehen. Kunst hat zur Voraussetzung, dass sie nötigenfalls nicht nur wohlgefällig scheint, sondern ertragen werden muss. Sie zeichnet eine exorbitante Sturheit und eine erdverwurzelte Biestigkeit aus. Ihre Aufgabe als Künstlerin liegt in der Verstörung oder sogar in der Provokation, sie interessiert das Leben auch in seiner unsinnigen Erscheinung.
Paul Pozozza schätzt Künstler, die irrwitzige Gegenwelten zum herrschenden Rationalitätsprinzip aufbauen und sich nicht dem Diktat der political correctness fügen, deren Kunst grotesk, witzig und unbequem ist. Der Sammler ist ein Dissident des Zeitgenössischen, er ist von der künstlerischen Arbeit überzeugt, möchte Vera Strange in der Maschinenhalle präsentieren und will die Künstlerin kennen lernen. Grazia Terribile gibt dem Chauffeur die Adresse des Ateliers.
Vera schaltet die Flex aus. Besieht sich das Resultat auf dem Stahlblech. Bei ihr kommunizieren zwei verschiedene Seiten des Gehirns. Das literarische Denken okkupiert eine Gehirnhälfte, das visuelle Denken eine andere. Auch Bilder sind Ideen. Sie sind nicht so präzise wie Worte, aber sie sind Ideen. Vera will den Druck der Radierung vorbereiten, als die Türglocke läutet. Als der Sammler so unverhofft vor der Tür steht, hat sie keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, ob sie nervös ist. Sie bittet ihre Galeristin und Paul Pozozza herein.
»Möchten Sie auch einen Milchkaffee?«, entzieht sie sich mit einer profanen Frage der Anspannung. Sie vermeidet es, ihm dabei in die Augen zu sehen.
»Wenn Sie die Milch auf der Herdplatte erwärmen, gerne«, sieht sich Pozozza in ihrem Atelier um, geht zielsicher zu dem Stahlblech und versucht in den Zeichen zu lesen. Erkennt den Remix als Reflexion, der Strom der Bilder der Erinnerung verdichtet zu einer Betriebsanleitung für die Zeit zwischen gestern und morgen. Das Manual einer anspornenden Melancholie.
»Mich beschäftigt die Frage, wie ich als Künstler in den politischen Diskurs hineinwirken kann, ohne selbstgerecht und belehrend sein«, kommentiert sie ihr Tun, reicht dazu dem Sammler und der Galeristin den Milchkaffee.
»Die globale Gesellschaft versucht, die aus ihrer Dynamik resultierenden Probleme auf Kosten ihrer menschlichen Umwelt zu lösen«, bestätigt Paul Pozozza, dass ohne tief greifende Strukturreformen Museen und Galerien nicht überlebensfähig sind. Sie brauchen den Mut, Neues zu wagen und sich von den alten Sicherheiten zu verabschieden.
»Seid ihr heimliche Antikapitalisten?«, ist die Galeristin über die metaphorischen Verweigerungsgesten erstaunt.
»Bei aller unvermeidbaren Ungerechtigkeit ist unser System der individuellen Selbstentfaltung am zuträglichsten. Ich bin Teil des kapitalistischen Kreislaufs und verdiene Geld mit Kunst. Als Bildproduzentin arbeite ich an der Verfeinerung und Auffächerung der visuellen Kultur und schaffe Ideale, auch Schönheitsideale, an die ich nach bestem Wissen und Gewissen glaube. Letzten Endes könnte man zynisch sagen, dass auch ich Wasser auf die Mühlen einer übervisualisierten Kultur schaufle«, entgegnet die Künstlerin gelassen.
»Es gibt im Geklüft der Globalisierung nicht nur imperiale Markenwaren. Es blüht auch ein Welthandel mit kulturellen Werten. Dabei schickt die Dritte Welt ihr Echo in die Erste, und die Erste antwortet der Dritten ebenso. So fliegen endlos Echos hin und her«, beugt sich der Sammler über die Reihe mit ihren Radierungen. Als er den schwebenden Farbvliesen gegenübertritt, öffnet sich eine Welt aus Farbe, die anziehend fremd ist und in ihrer Wirkung ebenso geheimnisvoll wie der Titel, der diese Werke schmückt. Dem feinen Netz der Adern vergleichbar, das unter der Haut des menschlichen Körpers verborgen liegt, durchweben unendlich differenzierte Farbschleier die bewegte Textur des Papiers und verdichten sie zu einer Farbhaut voller Kostbarkeit und Sinnlichkeit.
Paul Pozozza interessiert die Komplexität in den simplen Dingen, weil das Einfache näher dran an der Realität ist. Er denkt an seinen Bruder, der immer in Munkács gelebt hat, sein Leben lang Munkács nicht verlassen hat, und dennoch mal Ungar, mal Tschechoslowake, mal Sowjetbürger, und schliesslich ukrainischer Staatsbürger ist. Auf diese Weise wurde er ein Kosmopolit. Pozozza flieht den festen Ort, als Virtuose der Wahrnehmungsschärfe gewinnt er die Kraft aus dem Augenschein. Er will die Wahrnehmung auskühlen, den Menschen mit einer Verhaltenslehre der Kälte gegen Schmerz und Leidenschaft wappnen. Allein die Kunst bietet dem Sammler Heimat, fühlt er sich einsam, kann er an jedem Ort der Welt ein Museum besuchen, und schon ist er zu Hause. Kultur war der entscheidende Betriebsstoff bürgerlicher Emanzipation, sie ist die individuelle menschliche Würde, die Fähigkeit des Menschen ein autonomes Leben zu führen. Vernunftwesen handeln nur nach Maximen, die verallgemeinerbar sind. Diese Verallgemeinerbarkeit macht nicht an den Staatsgrenzen halt. Jede Gesellschaft weltweit bildet heute eine Vielzahl von Kulturen, Ethnien und Traditionen ab. Um diese multikulturelle Form des Zusammenlebens human zu gestalten, bedarf es der Rücksichtnahme und der Empathie, und damit auch des Interesses für andere Kulturen und andere Sprachen.
»Eine Zeitdiagnose besagt, dass wir uns in den transkontinentalen Privatgesellschaften zu hybriden, nomadenhaften, flexiblen Menschen entwickeln. Diese Identität hat den Künstler zum Vorbild. Kunstschaffende sind kulturelle Mischwesen, die von überall kommen, überall hinfliegen und ihre Einflüsse permanent allerorts herholen«, widerspricht ihm Vera scheinbar. So künstlich wie die dargestellten Ereignisse, so artifiziell sind auch die darin ausgedrückten Emotionen. Sie legt die Bilder der virtuellen Welt so lange übereinander, bis sie zu sich selbst finden. Seit Kolumbus gibt es ein globales Weltsystem, mit den hypermodernen Kommunikationsmitteln hat sich der Globalisierungsprozess ungeheuer beschleunigt. Zeit und Distanz sind abgeschafft.
»Längst sind alle Skandale ausgekostet, und das Prinzip des schärferen Reizes ist an seine Grenzen gestossen. Was gestern noch für grosse Aufregung sorgte, gehört heute zur Konvention«, bestätigt die Galeristin, dass es Erweiterung von Optionen der Freiheit gibt. Grazia Terribile kann in der Menschheit eine Tendenz zum Fortschritt in der Wissenschaft und der Technologie ausmachen, in der Kontrolle des Menschen über die Natur. Aber eine Tendenz zum Fortschritt in geistigen und moralischen Dingen kann sie nicht feststellen.
»Es ist notwendig, künstlerische Arbeiten in einen Raum des Möglichen einzutragen, in dem Handlungsmöglichkeiten zwar begrenzt sind, der aber gleichzeitig als offen und veränderbar zu begreifen ist«, betrachtet Paul Pozozza eine im Rostbraun verschwindende Gestalt. Sie scheint nur noch der mit Hammer und Sichel eingemeisselte Umriss einer geschichtlichen Figur zu sein. Diese Bewegung ging davon aus, dass diese inneren und äusseren Feinde in einem Endkampf besiegt werden würden und dass aus diesem blutigen Krieg dann jene unveränderbare endgültige Gesellschaft der Zukunft hervorgehen werde. Tiere handeln, Menschen taktieren, sie versuchen ihr Inneres hinter sozialem Verhalten zu verstecken. Das Tier ist eins mit seinem Körper, eine unschuldige Bestie; der Mensch fühlt sich seines Körpers enthoben, er ist der Schauspieler und Zuschauer seiner selbst. Das Tier lebt; der Mensch macht nurmehr Kunst.
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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.