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Moral ist die Schminke einer zivilisierten Gesellschaft. Nicht Krieg, sondern die schöpferische Zähmung der Natur bildet die Basis für die Entwicklung. Auf dem Kanal von Canopus verkehrten Wassertaxen, sie steuerten Herbergen, Traumdeuter–Häuser und Wirtshäuser an. Dieser Ort war Zentrum des sündhaften Luxus, sexueller Ausschweifungen und Hervorbringung ägyptischen Reichtums. Max geht der Strasse entlang, die am Hippodrom endet und betrachtet Paläste und Denkmäler. Ausgrabungsunternehmen forschen nach den Relikten des Leuchtturms von Alexandria. Die Geheimnisse stecken in Sedimenten aus Sand und Geröll. Zu sehen ist nichts. Was hier liegt, das wird bewacht.

Nach dem Gezeitenwechsel verzehren Nataly und Max ihre Mahlzeiten und verharren am Gewässer bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Nacht am tiefsten und der Tag am nächsten ist. Dieser Moment markiert eine lautlose Schnittstelle, die Pforte zum Tiefschlaf, an der nur noch das Rauschen des eigenen Bluts in den Ohren brandet. Für Melancholiker ist die Zeit eine Wunde, die niemals verheilt.

»Wann fängt man an, Vergangenes als Vergangenheit zu empfinden?«, wendet sich Nataly mit dem Fetzen eines Traumbilds an Max, als sie am Morgen erwacht. Er war bereits auf der grosszügigen Uferpromenade La Cornicheunterwegs, hat Ful zum Frühstück besorgt, das Nationalgericht aus Bohnenbrei und rohen Zwiebeln. Am Ufer hat erzudem eine Muschel aufgelesen. Nataly nimmt die Muschel zur Hand, blickt auf die Konturen, die das Sonnenlicht auf eine erinnerungswürdige Weise widerspiegeln und sie an die Ruinen von Herakleion erinnern, die sechs Kilometer vor der Küste Ägyptens liegen.

Ewigkeitsfermate. Letzte Fluchtburg der heidnischen Intelligenz. Noch im sechsten nachchristlichen Jahrhundert wurden in den zahlreichen Tempeln der Stadt viele Götter verehrt. Neben Steinsärgen und zerbrochenen Pharaonenstatuen fanden Forscher den Kopf der Serapis–Statue. Serapis hatte im späten Ägypten als Heilgott eine herausragende Bedeutung. Wer seine eigenen Schattenzonen kennen lernen will, hat hier eine Chance. In den Serapis–Tempeln liessen sich Kranke und Geplagte nieder und schliefen sich gesund. Max ahnt, dass diese Reise eine ähnliche Funktion für sie hat, während er das Frühstück zubereitet.

»Wenn das Vergangene nicht vergeht, wuchert der Schuldvorwurf weiter, wenn er nicht zur Sprache gebracht wird«, bewegt sich Max assoziativ querfeldein. Freundschaft bedeutet ihm, sich dem Anderen rückhaltlos zumuten zu können. Der beste Freund ist der Mensch, dem er eigentlich Unaussprechliches sagen kann. Aber nicht muss. Max hat noch kein Ziel, Nataly weiss, dass es keins gibt. Also schweigen sie gemeinsam und sehen am Abendhimmel die Sternbilder verblassen: Pegasus neben Delfin und Andromeda…

»Kann man lernen über eine Trauer zu sprechen, so behutsam, so umfassend, dass jeder sich wieder findet?«, erkundigt sich Nataly als Kaiserin der Grausamkeitsroutine. Schnippt die Muschel zurück ins Meer, wo sie auf den Scheitelkamm einer Welle fluppt und langsam in der Gischt versinkt.

Ein Tag noch am Meer, dicht am Sehkreis, dann führt der Weg vom Delta weg. Flussaufwärts, ins Landesinnere, wo Sicheldünen mit den Passatwinden wandern und in Oberägypten eine zwölf Meter hohe Ramses–Statue freigelegt haben.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

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Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.