Lächeln als Kapitulation begreifen

 

Als ich noch in Berlin lebte, wurde ich oft gefragt, ob ich dort glücklich sei. Meine ehrliche Antwort lautete: „Nein.“ Berlin ist hässlich, laut, marode, stinkend. Berlin ist ein Schweinestall mit Bordellbeleuchtung. Es gibt keinen Grund, Berlin mit „Glück“ zu assoziieren. Gut, es lebten dort einige nette Leute, deshalb hatte ich mich entschieden, in diese Stadt zu ziehen. Aber „Glück“?

Ich bin auch jetzt nicht „glücklich“. Ich bin im großen und ganzen zufrieden. Mal bin ich besser drauf, mal nicht so gut. Mein Leben war und ist nicht einfach, meine Zukunft ist ungewiss, und die politische Situation erleichtert das auch nicht gerade. „Glück“ ist eine alberne und kitschige Kategorie. „Glück“ ist ein völlig überschätzter Begriff.

Genau hier setzt Juliane Marie Schreiber mit ihrem Buch „Ich möchte lieber nicht“ an. Das Buch hat den Untertitel „Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“, und ich muss ehrlich sagen: ein gutes Buch, ein treffendes Buch. Gut recherchiert, flott geschrieben. Einige unkritische und unsachliche Stellen, aber insgesamt ist das Buch sehr empfehlenswert.

Alles kommt vor: die Verdummung durch Optimismus; Martin Seligman, der Begründer der „positiven Psychologie“; „Glück“ als psychische Krankheit; der Deppenslogan „Scheitern als Chance“; das panische Selbst-Inszenieren der Happiness-Junkies; der ständige moralische Imperativ („Lächle! Leuchte! Strahle! Sei wunderbar! Sei ganz du selbst!“); die schamlose Abzocke, die von der Glücksindustrie betrieben wird; und auch die krankhafte und ungesunde Verdrängung von Schmerzen und Tod in dieser Happy-Hippo-Gesellschaft. Im zweiten Teil des Buches wird dann u.a. mithilfe von Statistiken und Studien dargelegt, dass „depressive Realisten“ zurechnungsfähigere Zeitgenossen sind als bedingungslose Optimisten, weil sie die Welt nicht ständig rosa verfärbt wahrnehmen und auch das weniger Schöne akzeptieren können.

Positivismus verblödet. Positivismus macht die Menschen unkritisch, unpolitisch, gefügig und leicht zu manipulieren. Ein Arbeitnehmer, der sich dem Positivismus verschrieben hat, wird nie eine Gehaltserhöhung fordern, denn: arme Menschen sind laut Positivismus glücklicher als reiche. Wenn er dennoch nicht glücklich ist, ist er daran somit selbst schuld. Die positive Psychologie ist ein perfides Machtinstrument, sie arbeitet mit Gehirnwäsche und hält die Schäfchen schön in ihrer Kiste, indem sie jedem einzelnen die Verantwortung für sein komplettes Leben selbst aufbürdet. Damit werden politische und wirtschaftliche Probleme internalisiert und relativiert. Wer arbeits- und obdachlos wird, sucht die Schuld bei sich statt bei den Umständen und strebt auch nicht danach, die Gesellschaft zu verändern, sondern frickelt nur an sich selbst herum.

Es ist seltsam: die Sprüche „Jedem das Seine“ und „Arbeit macht frei“ der Nazis empfinden wir als menschenverachtend – aber die Sprüche „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „Wer an sich glaubt, kann alles erreichen“ des Positivismus nicht, obwohl sie es genauso sind.

Was passiert, wenn in einer Gesellschaft, in der alle nur noch um sich selbst und ihren Wohlfühl-Index rotieren, eine wirkliche Krise ausbricht, hat man in den letzten zwei Jahren gesehen. Da taucht man mal wieder auf aus seiner Schmuseblase und muss feststellen: Corona, Krieg, Inflation. Wie konnte das passieren? Habe ich nicht positiv genug gedacht? Dass es zu solchen Aussetzern kam wie dem Applaus für die Krankenpfleger oder der Aktion „Licht aus gegen Putin“, daran hat auch die Gehirnwaschanlage der positiven Psychologie ihren Anteil. Ich warte noch auf die Aktion „Katzenvideos gegen Putin“.

Die Zeit der Corona-Lockdowns empfanden viele als „spannende“ Zeit, sie vertieften sich in abseitige Projekte oder „gönnten“ sich mehr „Me-Time“. Vermutlich ist 2020/21 der Ausstoß schlechter Lyrikbändchen stark angestiegen. Kaum einer schien sich Gedanken darüber zu machen, was diese Zeit politisch und wirtschaftlich bedeutete, kaum einer schien sich zu überlegen, wie es nach den Lockdowns weiterging. Es war wie im Kindergarten: alle spielen fröhlich Blindekuh, bis die  Kindergärtnerin in die Hände klatscht, dann dürfen alle gemeinsam in den Garten gehen. Ich rede hier nicht vom Nutzen der Corona-Maßnahmen, sondern davon, dass kaum jemand gewillt war, über sie hinauszublicken. Auch in Interviews mit diversen Prominenten las ich inflationär oft „In der Krise muss man auch mal lachen dürfen“ und ähnliches und dachte mir: „Wieso ‚auch mal‘, die sollten lieber auch mal wieder aufhören zu lachen und zurechnungsfähig werden!“

Man hat die bleierne Zeit unter Merkel oft als „Neo-Biedermeier“ bezeichnet, und auch Juliane Marie Schreiber zieht in ihrem Buch mehrfach diese Parallele. Wobei: das Wort „Biedermeier“ ist nicht stark genug. Der geballte Rückzug in die Innerlichkeit, der besonders während Corona zu beobachten war, ist „Biedermeier Extralarge“. Zurück in die Infantilität, zurück ins Teletubbie-Land, das fühlt sich gut an, Trallala und Hoppsassa, Katzenbildchen, Netflix, Schmink-Videos, Kuschelzone – Verblödung pur. So viele Möglichkeiten zur Kollektiv-Regression hatten die Leute um 1815, im echten Biedermeier, nicht.

Was ich persönlich an dem Buch deplatziert finde, ist das Kapitel „Schöner Schimpfen“. Schreiber schlägt darin vor, statt des ewigen Gut-Drauf-Sein-Müssens das Gegenteil zu praktizieren: ständig meckern. Schimpfwortkaskaden bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten, Fluchen und lautes Beschweren würden, so schreibt sie, die Seele befreien, und man käme mit Schmerzen besser zurecht. In den USA scheint das der neue Trendsport zu sein: es nennt sich „Kvetching“. Doch damit fällt Schreiber auf ihre eigenen Argumente herein. „Schimpfen, weil es sich gut anfühlt“ ist auch nur ein Manipulationsmechanismus, mit dem man seine Stimmung so beeinflussen will, dass man mit den Gegebenheiten wieder besser zurechtkommt. Und das ist genau das, was Schreiber an der positiven Psychologie kritisiert. Es stimmt zwar, dass es in der Gesellschaft keine Veränderung geben kann, wenn die Bürger nicht lauthals ihren Unmut äußern – aber das ist dann echter Unmut, echte Wut, eine echte Emotion und keine reproduzierte und ritualisierte Fake-Emotion zur Stimmungsmanipulation. Die Bastille wurde nicht von Leuten erstürmt, die demonstrierten, weil sich das gut anfühlt, sondern von Leuten, die demonstrierten, weil sie Hunger litten. Es ging um Existenzfragen und nicht darum, auf Instagram trendy zu wirken. Das ist ein wesentlicher Unterschied, und genau da hakt die moderne Zivilisation aus. Und insofern ist auch nicht Meckern der Motor der Gesellschaft, sondern nach wie vor das Handeln. Die Gesellschaft wird nicht von Nörglern verändert, sondern von denen, die handeln statt zu nörgeln. Das exaltierte Schimpfen, das Schreiber propagiert, wirkt auf mich genauso aufgesetzt wie das exaltierte Lächeln und Strahlen, das sie kritisiert.

Die Worte „Resilienz“, „Empathie“ und „Achtsamkeit“ las man noch um 2005 hauptsächlich in esoterischen Büchern – heute grassieren sie inflationär selbst in seriösen Tageszeitungen. Die Emotionalisierung der Öffentlichkeit hat teils unerträgliche Ausmaße angenommen, weshalb Juliane Marie Schreibers Appell zum „Nein“ dringend nötig ist. Es ist ein überfälliges Zurück zur Sachlichkeit, zur Nüchternheit.

Dass Schmerzen wie Angst und Trauer evolutionär wichtige Funktionen haben, davon spricht Schreiber in ihrem Buch öfters. Es hat aber auch das Lächeln eine evolutionäre Funktion: Schimpansen, die „lächelten“, sagten damit: ich ergebe mich, ich kapituliere, du kannst mit mir machen, was du willst.

Insofern sendet eigentlich die ganze „Keep smiling“-Society nur ein Signal aus: sie hat kapituliert. Sie hat sich kampflos ergeben. Sie hat keinerlei Ansprüche mehr.

Hören wir also mal wieder auf zu lächeln, nehmen wir uns und unser Leben mal wieder ernst. Es ist wirklich an der Zeit.

 

 

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Ich möchte lieber nicht von Juliane Marie Schreiber, Piper Verlag München 2022

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Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango)