Ein Einfall war da, die Gestalt tritt hinzu, die dazu dient, den Einfall zu illustrieren, und der Einfall tritt im Laufe der Überlegung, eventuell erst im Laufe der Arbeit hinter der Gestalt zurück.
Arthur Schnitzler
Diese Novelle ist fast gänzlich als innerer Monolog gestaltet, was als Neuheit in der deutschsprachigen Literaturgeschichte gewürdigt wird; er stellt die Ängste, Obsessionen und Neurosen eines jungen Leutnants der k.u.k. Armee aus der Innenperspektive des Protagonisten dar.
Leutnant Gustl ist ein Paradebeispiel für die Erzähltechnik des ununterbrochenen inneren Monologs. Schauplatz der Handlung ist ausschließlich Gustls Denken. Daher wird der Akzent auch nicht von einem Erzähler auf bestimmte Aspekte der Handlung gelegt, sondern der Leser muss Gustls Gedanken selbst werten.
Gustl bezieht sein Selbstwertgefühl allein aus der Tatsache, dass er eine Uniform trägt. Er bedauert es, keinen Krieg erlebt zu haben und verachtet Nichtmilitärs, wie man an seiner groben Behandlung des Bäckers sieht. Als diese Autorität erschüttert wird, scheint Gustl konsequent zu seinen Ehrbegriffen zu stehen. Doch sobald er vom Tod Habetswallners erfährt, vergisst er seinen Vorsatz sofort. So wird der Ehrbegriff des K.u.k.-Militärs als hohl und selbstgerecht entlarvt. Dass manche bürgerliche Zivilisten schon längst gefahrlos den Respekt vor einem jungen vorlauten Leutnant verlieren können, zeigt außerdem die bröckelnde Fassade des militärischen Selbstbilds.
Viele Gedanken Gustls drehen sich um Frauen, mit denen er Affären hatte. Er ist überzeugt, ungemein attraktiv auf diese Frauen gewirkt zu haben, hat längerfristige Bindungen aber immer abgelehnt, da diese Mädchen („Menscher“) nicht gesellschaftsfähig gewesen seien. Gleichzeitig vertritt der Leutnant einen rüden Antisemitismus, der sich gegen die Juden im Zivilleben und Militär gleichermaßen richtet. Einen Bezugspunkt hierzu bildet die Dreyfus-Affäre, die sich zur selben Zeit in Frankreich abspielte.
Um die Jahrhundertwende pflegte das Militär in Österreich-Ungarn einen Ehrenkodex, der zeittypische Besonderheiten aufwies: So bestand noch bis 1911 die Pflicht für jeden Offizier, einer Duellforderung unbedingt nachzukommen. Schnitzler traf mit seiner Novelle die Schwachstelle dieses Ehrenkodexes, denn „satisfaktionsfähig“, also mit der Waffe zur Rechenschaft zu ziehen, waren nur Adelige, Militärs und Akademiker. Gustl, der sich von einem einfachen Bäckermeister bedroht fühlt, kann seine Ehre also nicht mittels eines Duells verteidigen oder zurückerlangen, weshalb er glaubt, seine verlorene Würde nur durch einen Suizid wiederherstellen zu können.
Inhalt, mit Spoiler
Im Anschluss an ein abendliches Konzert, das er gelangweilt verfolgt hat, gerät Gustl an der Garderobe des Konzerthauses in einen Streit mit dem ihm bekannten Bäckermeister Habetswallner. Gustl will seinen Säbel ziehen, wird aber durch seinen körperlich überlegenen Kontrahenten daran gehindert und als „dummer Bub“ beschimpft. Die Schmach, von einem gesellschaftlich tiefer stehenden Bäckermeister beleidigt worden zu sein, vermag Gustl nicht zu verwinden. Dem militärischen Ehrenkodex verhaftet, beschließt er, am nächsten Morgen um sieben Uhr Selbstmord zu begehen, unabhängig davon, ob der Bäckermeister den Vorfall publik machen wird oder nicht.
Auf seinem Weg nach Hause durchquert Gustl den Wiener Prater. Der Duft der ersten Frühlingsblumen lässt ihn in seinem Selbstmordentschluss wanken. Das Bewusstsein, von all diesen schönen Dingen Abschied nehmen zu müssen, entfacht in ihm eine neue Lebenslust. Die Erinnerung an seine Familie, insbesondere seine Mutter und seine Schwester, sowie an diverse aktuelle und verflossene Geliebte versetzt ihn in eine tiefe Betrübnis, die er mit der Feststellung, als österreichischer Offizier zum Suizid verpflichtet zu sein, vergeblich zu betäuben versucht.
Er schläft auf einer Parkbank ein und erwacht erst am frühen Morgen. Bevor er nach Hause zurückkehrt, wo er seinen Revolver gegen sich zu richten beabsichtigt, besucht er sein Stammkaffeehaus. Der dort arbeitende Kellner Rudolf berichtet ihm, sein Beleidiger, der Bäcker Habetswallner, sei in der Nacht unerwartet an einem Schlaganfall gestorben. Über alle Maßen erleichtert, nimmt Gustl freudig von seinen Suizidplänen Abstand und ergeht sich in Betrachtungen anstehender Unternehmungen. So wird er sich schon am Nachmittag desselben Tages duellieren – mit dem Gedanken an seinen Kontrahenten endet der Text:
„Dich hau‘ ich zu Krenfleisch!“
***
Leutnant Gustl (im Original: Lieutenant Gustl) ist eine Novelle von Arthur Schnitzler. Sie wurde 1900 in der Weihnachtsbeilage der Wiener Neuen Freien Presse erstmals veröffentlicht und erschien 1901 mit Illustrationen von Moritz Coschell im S. Fischer Verlag (Berlin).
Weiterführend →
In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.