In Marseille kannte ich ein Mädchen, man nannte sie Angelface. Eigentlich kannte ich sie kaum, denn ich sah sie nur in der Nacht, ein einziges Mal, und da stand sie in ihrem Zimmer und dachte, dass wir Einbrecher sein müssten, Manuel und ich. Sie schlief zu ebener Erde in einem hässlichen Haus. Das Dorf war zwei Bahnstationen von Marseille entfernt, ihre Mutter wohnte da, und wenn das Mädchen genug hatte von der Stadt, von den Kneipen und von den Matrosen, ging sie zu ihr zurück und lebte still wie ein wohlerzogenes Mädchen. Deshalb nannte man sie wohl Angelface.
Aber wir sagten dazu: »Oder die Hafendirne von Marseille.«
Manuel und ich waren in einem Fordwagen unterwegs. Wir fuhren dem Meer entlang, es war mitten in der Nacht, und wir wollten nach Marseille zurück. Ich war hungrig, deshalb hielten wir vor dem Haus, wo Angelface wohnte, und weckten sie.
Manuel kniete auf der Erde und hatte die Arme gegen die Mauer gestützt.
»Angelface!« rief er.
Niemand antwortete. Dann kam sie durch das Zimmer, man sah nichts als einen weissen Schatten, der auf das Fenster zuglitt. Und dann presste sie ihr weisses Gesicht gegen das dichte Drahtnetz, das das Fenster gegen Moskitos schützte. Ich konnte ihre Züge nicht unterscheiden, aber die Knie wankten mir.
»Ich bin es«, sagte Manuel.
»Wer ist bei dir?« fragte Angelface.
»Mein Freund«, sagte Manuel.
»Wie alt ist er?« fragte Angelface.
»Zwanzig Jahre alt«, sagte Manuel. »Und wir möchten etwas essen.«
»Ich kann euch nicht hereinlassen«, sagte Angelface. »Meine Mutter wacht so leicht auf. Aber ich werde ein paar Brote für euch streichen.«
Ich ging zum Wagen zurück und wartete auf Manuel. Dann brachte er die Brote, und wir fuhren weiter.
»Liebst du denn Angelface?« fragte mich Manuel. Und dann sagte er kalt: »Es ist nicht sehr originell, sie zu lieben.«
Das war vor einem halben Jahr.
Manuel und ich schreiben uns nie. Aber durch einen Freund liess er mir sagen, dass Angelface sich erschossen habe.
Und jetzt denke ich, dass es nicht sehr originell sei, Sibylle zu lieben. Ich denke, dass ihr niemand widerstehen kann. –
***
Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933
Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.
Weiterführend →
In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.