Umm el–dunja = die Mutter der Welt. Leben auf einer überhitzten Herdplatte, von der sich Dieselschwaden nicht verziehen wollen. Fossile Brennstoffe weisen den Weg in die Zukunft. Im Gegensatz zum muselmanisch–mittelalterlichen Treiben in den Souks der Altstadt steht der chaotische Verkehr von El Qahira mit ihren breiten Strassen und vielen Hochhäusern. Die Bauweise basiert auf der Einheit von Licht und Raum. Wüstenwinde aus dem Süden bringen Sand und Staub.
Ökonomische Bewegungen. Verhüllte Frauen gleiten durch die Strassen. Nataly stellt sich vor, wie es sich hinter einem Schleier lebt. Dieses Kleidungsstück erscheint in ihren Augen als Symbol für die unterprivilegierte Stellung der Frauen, für verhindertes Wissen, für den Ausschluss von wirtschaftlicher und politischer Macht. Jüngere Frauen tragen Kopftuch, nicht ohne Würde: Ma’lesch = mach dir nichts draus – Allah wird’s fügen, Insch’allah.
Fünfmal täglich ruft der Muezzin zum Gebet. Nataly und Max suchen den Schatten und schöpfen frische Luft auf der Insel Ghezira. Von der Spitze des Kairo–Turms geniessen sie den Rundblick auf die Stadt und den Nil. Sie versuchen, das Überzeitliche in Bewegung zu bringen. Fühlen sich auf eine Zauberwiese versetzt, die mit den heiligen Malen des kulturellen Anbeginns bebaut ist. Einst waren die Pyramiden mit schneeweissen, glattpolierten Kalkplatten verkleidet. Auf ihren Spitzen steckten Hütchen aus Elektrum…
Nach dem Besuch von Gizeh absolvieren sie ihre Sightseeing–Tour zwischen Sultan–Hasan–Moschee und den Marmeluckengräbern. El Qahira ist vollgestopft mit Sehenswürdigkeiten aus seiner pharaonischen, koptischen und islamischen Geschichte. Der Stolz auf das Altertum verstellt zuweilen den Blick auf die Geschichte der Neuzeit. Erschöpft von der Erkenntnis, dass Verständnis erst durch Mit–Erleben entsteht, flüchten sie sich in den Schatten der Souks am Rand des Khan–el–Khalili–Basars, versuchen sich mit kalten Getränken in den Bars abzukühlen und sehen den Hautausdünstungen beim Verdampfen zu. In der vielstimmigen Stadt bleiben ihre Worte am Rande des Nichts, stumme Schreie.
Realitätsfragmente. Es ist wie überall im Jederzeit, auch Fellachen ernähren sich nicht nur von Foul–Medames, sondern von westlichem Fastfood. Nataly hat eine traumverlorene Traurigkeit in den Augen. Blossgelegt wird von ihr die Anatomie ihres Daseins, in dem das Handeln sich der Souveränität entzogen hat und in der Wirkung unberechenbar wird. Nicht das Unglück einer einzelnen verkorksten Biografie, nicht Pech oder Schicksalsschläge sind es, die das Leben so trostlos machen, es ist der fundamentale Riss, der durch ihre Existenz geht. In der Luft liegt ein süsslich morbider Geruch. Langsam und unaufhörlich treibt die Verwesung tiefe Wunden in die Strassen und Plätze.
Verständnis und Vermittlung kann alles lösen. Als Meisterin der Gleichzeitigkeit aller Wirklichkeiten, versucht Nataly Vergangenes als Gegenwärtiges lebendig zu machen. Mit ihrer subjektiven Wahrnehmung erfindet sie die Realität immer wieder neu. Nataly nützt ein Drama in Gedanken alles, weil es gerade im Gedachten alle Menschenmöglichkeiten offen– und deshalb das Denkfutter buchstäblich vorstellbar sein lässt. Sie nimmt sich vor, sichnichts und niemandem zu unterwerfen, ausser den Gesetzen der Physik und ihrer eigenen Moral.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
Weiterführend →
Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.