Ich treffe das Indiana-Mädchen wieder. Mit ihr in einem Ford Babbit (rent car) zum Montezuma Castle. Oak Creek Canyon. Sunset Crater. Walnut Canyon. Holbrook, Arizona. Painted Desert und Petrified Forest. Albuquerque. Gallup. Hitchhiking nach Shiprock, Cortez, weil keine Greyhound-Linie. Indian reservation. Mesa Verde. Übernachtung in den neu gebauten Toiletten aus Angst vor tödlichen Skorpionen, die es hier geben soll. Hotel zu teuer. Hitchhiking durch die Rocky Mountains nach Durango. Weiter nach Pueblo. Hitchhiking zu den Carlsbad Caverns. Henry Coor jun. lädt uns zu sich nach Hause ein. Dort Übernachtung. Baden am River Beach. Das Indiana-Mädchen nimmt den Greyhound nach Norden, ich nach New Orleans.
Die Stadt am Mississippi langweilte mich. Ich war allein, das Geld war mir ausgegangen, ich hatte noch zehn Dollar. Ich streifte durch ein paar Straßen und war in Gedanken bei dem Mädchen aus Indiana. Ich ging zurück zum Busbahnhof, trank eine Cola und wartete auf den Bus nach New York. Ein junger Mann mit einem Texashut und einer großen Flöte lief langsam an meinem Tisch vorbei und flüsterte: „Grass … Grass … fifty Dollar …“ Dann setzte er sich zu mir an den Tisch: „Where do you come from?“ Ed Ash lud mich ein, als ich ihm sagte, ich sei pleite und auf der Rückreise. Macht nichts, meint er, er zeigt mir das French Quarter, dann gehen wir essen. Vorher ein paar nostalgische Jazzkapellen und Whisky in einer Psychadelic Bar. Ed zeigt mir seine Marihuana-Kollektion. Zurück zum Busbahnhof. „Ich muss Geld machen“, sagt Ed, „Atlanta ist ein gutes Pflaster.“ In einer Drogerie kauft er „Walgream“-Tabletten, das ist praktisch Vitamin B, und verkauft die Pillen als LSD für sechzig Dollar an naive Studenten, eingewickelt in die Plastikfolie einer Zigarettenpackung. Ich bin Eds Lockvogel: „Yes, the stuff works very good, teriffic material …!“ Ed kennt Studenten in einem alten Wohnviertel. Wir betreten eine alte Villa. Ein Student liegt auf dem Parkettboden des Salons, pafft einen Joint mit halb geschlossenen Augen, eng an ihn geschmiegt ein leicht bekleidetes Mädchen. L’après-midi d’un faune americain. Aus riesigen Boxen dröhnt der Walkürenritt. Türen und Fenster sind weit geöffnet. Im Nebenraum das gleiche Bild – halb geschlossene Augen … Ed macht gute Geschäfte mit den Placebos.
Orlando, Florida, fünf Uhr morgens. Zu Besuch bei Eds Bruder Harold. Schlafen, essen, Wäsche waschen, Duschen. Harold nimmt mich beiseite: „My brother is dangerous for you … leave him!“ Nachmittags bei Paulette und Kathy. Der zweite Joint. Paulette starrt mich an: „I want to have a fuck with you …“ Das Mädchen ist kaum sechzehn Jahre alt. Abends Pizza in Oakridge mit Harold. Der dritte Joint.
St. Augustin. Polizeikontrolle. Die Cops finden nichts außer Vitamin B. „Let’s go“, sagt Ed, „too hot for acid.“ Weiter nach Jacksonville. Ed geht zur Toilette, ich kaufe mir ein Bus-Ticket Richtung Norden, renne zum Bus, steige ein, der Fahrer schließt die Tür, der Motor läuft, der Fahrer gießt Kaffee in seinen Becher am Schaltknüppel. Ich überblicke am Busfenster die ganze Halle, Ed Ash kommt zurück, bleibt stehen, er sucht mich, schaut hoch zur Boarding-Anzeigetafel, läuft zum Schalter, zeigt auf den Bus, in dem ich sitze, kauft ein Ticket und rennt zum Bus. Er schlägt an die Tür, der Fahrer öffnet. Ed setzt sich neben mich. Sagt nichts. Der Bus fährt los. „Don’t do that again!“ Er drückt seine große Flöte gegen meinen Hals.
Der Bus hält in Columbia, South Carolina. Endstation. Drei Uhr nachts. Der nächste Bus nach New York fährt erst morgen früh um acht. Wir bleiben in der kleinen Halle der Bus Station und verstauen unsere Rucksäcke in den Schließfächern. Polizeikontrolle. Die Cops schauen uns skeptisch an. Ich bin unrasiert und trage lange Haare, aber mein Pass ist in Ordnung. Sie verlassen die Station. Ed Ash legt sich zum Schlafen auf die Bank. Er zieht seinen Texashut übers Gesicht. Er schläft. Ich hole meinen Rucksack aus dem Locker und haue ab. Ich renne durch leere Straßen raus aus Downtown. Es ist vier Uhr morgens, langsam wird es hell. Immer noch kein Mensch auf der Straße. Ich will hitchhiken, kein Auto hält an. Ich stehe vor einem Supermarkt. Der ist noch geschlossen. Die Sonne brennt von oben. Ich weiß nicht mehr weiter. Um acht Uhr rufe ich die Polizei in Columbia an. Gegen Mittag fährt ein Streifenwagen vor den Eingang zum Supermarkt. Der Polizist, ein beleibter Titan, winkt mich heran. Ich soll einsteigen. Lange, stumme Minuten. Dann fragt er mich aus. Langsam entwickelt sich ein Gespräch. Sgt. Gunther nimmt sich Zeit für eine sight seeing tour durch die Stadt: State Capitol, Universität, die Wohnviertel der Schwarzen: „Here lives the black trash.“ Schließlich hält Sgt. Gunther vor der Polizeiwache mit hochmodernem Untersuchungsgefängnis. Ein Beamter nimmt meine Finger-abdrücke. Ein anderer füllt ein Formular aus und kreuzt meine Hautfabe an: indian red. Sgt. Gunther bringt mich zu einem Pult, wo ich meine Habseligkeiten abgebe. Sie werden in einen Plastikbeutel gesteckt, der verschlossen und beschriftet wird. Nun bringt mich der Sergeant zu meiner Zelle und schließt mich ein. Ich sitze zwischen engen Blechwänden und höre seine Schritte auf dem Steinboden hallen. Es ist ein Scherz, aber ich bin mir nicht sicher. Ein paar Minuten später kommt er zurück, öffnet lachend die Zellentür und teilt mit, Ed Ash habe angerufen und mich als vermisst gemeldet … Ich fahre mit Sgt. Gunther zum Busbahnhof. Ed läuft mit ausgebreiteten Armen auf mich zu wie eine Mutter, die ihr verlorenes Kind wiederfindet. Sgt. Gunthers Arm liegt schwer auf Ed Ashs Schulter. Wir werden umringt von einer neugierigen Menge. Der Sergeant geht mit Ed Ash zum Schalter, der wird gezwungen, sich ein Ticket Richtung Florida zu kaufen.
Ich steige in den Bus nach New York. Die Fahrt dauert ewig. In der Nacht habe ich einen Alptraum. Ed Ash steigt in den Bus ein und kommt mit seiner gewaltigen Flöte langsam näher … Ich schreie.
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.