Tragödie einer Entwürdigung

Leidenschaft als Verwirrung und Entwürdigung war eigentlich der Gegenstand meiner Fabel, – was ich ursprünglich erzählen wollte, war überhaupt nichts Homo-Erotisches, es war die – grotesk gesehene – Geschichte des Greises Goethe zu jenem kleinen Mädchen in Marienbad, das er mit Zustimmung der streberisch-kupplerischen Mama und gegen das Entsetzen seiner eigenen Familie partout heiraten wollte, diese Geschichte mit allen ihren schauerlich komischen, zu ehrfürchtigem Gelächter stimmenden Situationen, […].“ Der Titel des Novellenplanes lautete: Goethe in Marienbad.

Thomas Mann

Thomas Mann nannte seine Novelle die Tragödie einer Entwürdigung: Gustav von Aschenbach, ein berühmter Schriftsteller von etwas über 50 Jahren und schon länger verwitwet, hat sein Leben ganz auf Leistung gestellt. Eine sommerliche Erholungsreise führt ihn nach Venedig. Dort beobachtet er am Strand täglich einen schönen Knaben, der mit seiner eleganten Mutter und seinen Schwestern samt Gouvernante im selben Hotel, dem Bäderhotel, wohnt. In ihn verliebt sich der Alternde. Er bewahrt zwar stets eine scheue Distanz zu dem Knaben, der späte Gefühlsrausch jedoch, dem sich der sonst so selbstgestrenge von Aschenbach nun willenlos hingibt, macht aus ihm letztlich einen würdelosen Greis.

Thomas Mann beschreibt das Scheitern eines asketischen, ausschließlich auf Leistung ausgerichteten Lebens, das ohne zwischenmenschlichen Halt auskommen muss. Einsam, ausgeschlossen vom Glück sorgloser Leichtlebigkeit, hart arbeitend, erreicht Gustav von Aschenbach mit seinem schriftstellerischen Werk Ruhm und Größe. Stolz auf seine Leistungen, ist er aber voller Misstrauen in seine Menschlichkeit und ohne Glauben, dass man ihn lieben könne. Da tritt ein Knabe in sein Leben, dessen androgyne Anmut für Aschenbach zur Inkarnation vollkommener Schönheit wird. Seine Faszination und Leidenschaft für dieses Idealbild rechtfertigt er mit philosophischen Argumenten, indem er in seinen Tagträumen wiederholt den platonischen Dialog zwischen Sokrates und Phaidros heranzieht und für seine Zwecke modifiziert und ästhetisch reflektiert: Die Schönheit sei „die einzige Form des Geistigen, welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können.“ Nur sie sei „göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg“ und daher „der Weg des Künstlers zum Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum Geistigen durch die Sinne führt?“ Wie sein selbstkritischer Autor Thomas Mann sieht auch Aschenbach die Scharlatanerie alles Künstlerischen: „Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen, notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühls bleiben? Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menschen zu uns lächerlich“. Und wie der Autor, so sieht auch sein Protagonist die fragwürdigen Seiten des Künstlers, der den Tod in Venedig nicht zufällig findet, sondern wissentlich sucht: „fortan gilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und der Form. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft, führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.“

Von Aschenbach gibt sich ganz der Bewunderung des Knaben hin. „Das war der Rausch; und gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen“. Nach Art der Dialoge Platons imaginiert „der Enthusiasmierte“ Gespräche mit dem Bewunderten. In ihnen bricht er mit seiner apollinischen, zuchtvollen Lebenssicht. „[…], denn der Leidenschaft ist, wie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags nicht gemäß.“ Er erkennt die Sinnlichkeit der Kunst und monologisiert: „[…] du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft.“ Doch damit beschönigt von Aschenbach. Nicht Eros leitet ihn. Dionysos ist es, dem er verfallen ist. Von ihm seines apollinisch-klaren Weltbildes beraubt, meint von Aschenbach, dem Künstler sei „eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren“.

Einen wilden Höhepunkt findet von Aschenbachs Entartung in dem Traum des fünften Kapitels. Er gerät unter die zügellos Feiernden eines antiken Dionysos-Kultes. „Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die [Opfer-]Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges.“

 

 

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Der Tod in Venedig ist eine Novelle von Thomas Mann, die 1911 entstanden ist. Sie erschien zunächst als Luxusdruck in einer Auflage von 100 nummerierten Exemplaren, danach in der Neuen Rundschau  und ab 1913 als Einzeldruck im S. Fischer Verlag.

Weiterfühend →

Über Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig findet sich hier ein Artikel. Zum 50. Jahrestag des Erscheinens liest Ulrich Bergmann Thomas Manns Doktor Faustus.  War’s nicht auch bei dem von ihm geschätzten Thomas Mann so – im Kleid des vollendeten Realismus gebar er eine deutsche Variante des magischen Erzählens lange vor Marquez und Co. Und Bergmanns Überlegungen Zum Schluss des Zauberbergs.

 

In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Dieser Ausschnitt verzichtet bewußt auf die Breite des Epischen, es genügten dem Novellisten ein Modell, eine Miniatur oder eine Vignette. Wir gehen davon aus, daß es sich bei dieser literarischen Kunstform um eine kürzere Erzählung in Prosaform handelt, sie hat eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, daß sie in einem Zug zu lesen sei. Und schon kommen wir ins Schwimmen. Als Gattung läßt sie sich nur schwer definieren und oft nur ex negativo von anderen Textsorten abgrenzen. KUNO postuliert, daß viele dieser Nebenarbeiten bedeutende Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur sind, wir belegen diese mit dem Rückgriff auf die Klassiker dieses Genres und stellen in diesem Jahr alte und neue Texte vor um die Entwicklung der Gattung aufzuhellen.