„Du schiebst alles auf, was Arbeit macht, du verdrängst deine Pflicht. Du suchst belanglose Abenteuer und weißt nicht, wie du dein Leben gestaltest.“ „Ich weiß“, antwortete ich, „aber ich lerne auch aus meinen Eskapaden.“ „Du bist irrsinnig“, sagte Stella, „deine Angst vor dem Tag lockt das Dunkle hervor. Du lieferst dich dem Wahnsinn aus.“ Pause. „Und du bist pleite!“, sagte sie. „Oder?“
Sie hat recht, dachte ich. Ich glaubte, die dreitausend Euro Militär-Abfindung würden reichen. Ich hatte keine Lust arbeiten zu gehen, und das Abendgymnasium war mir sowieso zu schulisch, da wollte ich nicht hin. Was ich Stella nicht erzählte: mein Märchen vom Vorbereitungskurs auf das Externenabitur. Ich verschwieg meiner Familie, dass ich dort nicht aufgenommen wurde. Ich erfand die Lehrer und meine Mitschüler. Ich fälschte eine Lateinarbeit, einen Deutschaufsatz, korrigierte mit Rot und schrieb Noten darunter, eine Drei in Latein, eine Zwei in Deutsch. Grandmère prämierte die Drei in Latein mit zwanzig Euro. Je länger ich log, umso mehr kam ich in einen Rausch des Fabulierens. Ich glaubte nicht an die Details, die ich erfand, ich glaubte an die Idee meines Plans: Ich wollte mein Hochstaplertum nach ungefähr einem Jahr beenden, indem ich mich durchs Abitur fallen ließ. Solange konnte ich mich in meinen Interessen und im Nichtstun suhlen. Wenn der nächste Vorbereitungskurs begann, sollte die Realität wieder in Kraft treten. Als ich Stella sagte, ich sei erst vor vier Wochen aus der Bundeswehr entlassen worden, log ich. Auch die Story, Grandmère habe mir die Paris-Reise als Erholung verordnet, war erfunden. Auch Usch belog ich. Meine Mutter wohnte in Halle, weit weg, sie wusste bis zum Schluss nichts davon. Ich beschrieb die Lehrer bis ins Einzelne – wie sie aussahen, ihre Art des Unterrichts, ja sogar, was sie privat von sich erzählten, ich gab ihnen und meinen Mitschülern Namen, ich erfand ganze Lebensläufe und dachte mir Episoden aus. Ich bildete einfach mein bisher erfahrenes Schulleben in einer neuen Wirklichkeitsfiktion so glaubhaft ab, dass jeder, dem ich meine Fantasien aufband, eine plastische Vorstellung von den Abendkursen im Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium bekam. Ich erschuf einen derart intensiven und nuancierten Fortsetzungsroman, dass ich glaubte, einen vollständigen Ersatz der verpassten Wirklichkeit zu haben. Ich war in meinem Lügennetz gefangen. Nach den Osterferien ließ ich die schriftlichen Abiturprüfungen beginnen, die in Düsseldorf stattfanden, am Sitz der Regierung – so meine Darstellung. Ich fing an mit dem Deutsch-Aufsatz. Das Thema war eine Parabel von Kafka – Eine kaiserliche Botschaft. Der letzte Satz schnitt mir das Herz auf. „Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.“ Es lief gut, ich verstand Kafka. Ich habe ein gutes Gefühl, sagte ich zu Grandmère. Die Lateinarbeit war schwieriger. Unklarer Ausgang. Mathe – schwer zu sagen, Differentialrechnung – ein rotes Tuch für mich. Die Französisch-Klausur handelte von Voltaire. Ich verstand alles, „Candide“ war eine leichte Denkaufgabe für mich, aber mein Französisch war so armselig, ich wusste nicht zu formulieren, was ich dachte, und schrieb fast alles auf Deutsch. Nach Pfingsten kamen die mündlichen Prüfungen. Meine Ära des dolce far niente ging jäh zu Ende, schneller als gedacht, ich hatte mich schon allzu gemütlich eingerichtet in meinem Lügenhaus. Die Bank hatte mich vorgeladen, mein Konto stand im Minus, ich bekam mit der Euroscheckkarte kein Geld mehr am Automaten. Das Kartenhaus meiner Existenz war nicht mehr erdbebensicher, es drohte sogar seine innere Stabilität zu verlieren. Es wurde höchste Zeit, die Kunst der Täuschung umzuwandeln in ein Ende ohne Schrecken. Ich wollte mich in Französisch und Mathematik absägen und ließ verlautbaren, dass den Prüflingen das Ergebnis der schriftlichen und mündlichen Prüfungen in Düsseldorf mitgeteilt wird. Als Grandmère ungeduldig fragte: Wann denn?, nannte ich, um Sicherheit vorzutäuschen, aus dem Kopf den 26. Mai, ein Donnerstag. Am Abend rief sie mich an: Donnerstag ist Fronleichnam! Ja, sagte ich, da habe ich mich vertan … Ich log weiter, ich konnte nicht anders. Ich war aufgeflogen. In den nächsten Tagen brach der totalitäre shit storm der Familie über mich herein. Ich, der Lügner, war das schwarze Schaf. Mein Vater brach den Kontakt zu mir ab. Gib mir Bescheid, wenn du ins wirkliche Leben zurückgekehrt bist. Die Scham verleitete mich zu Fluchtgedanken – zurück zur Bundeswehr, auswandern nach Amerika? Ich wollte nicht in Bonn bleiben. Ich ging zu Grandmère, sie war in dieser Situation die einzige, die mir beistand. Ich bat sie um Geld, ich wollte zu meiner Mutter nach Halle fahren.
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.