Ich im Bett. Zur Fensterseite liegt Elisa, rechts neben mir eine Frau, die ich nicht kenne. Beide sind mit dünnen Tüchern halb zugedeckt. Ich drehe mich zu Elisa im Licht, ins zarte Weiß, sie schläft, dann zu der anderen Frau im halben Licht. Sie schläft auch. Ich sehe Stella. Sie sieht mich an, sie spricht zu mir, aber ich höre nicht, was sie sagt. Ich sage nichts, ich schaue sie an im Halblicht, Stella mit halb geschlossenen Augen.
Ich gehe durch den Schlaf wie durch eine Wohnung, die mir bekannt und unbekannt zugleich vorkommt – links vor mir im Gegenlicht Grandmère, da steht sie im Türrahmen, hinter ihr die alten Möbel, ein Fenster, ich sehe deutlich ihr Gesicht, die guten Augen schauen mich an, ihr kleiner Körper beugt sich leicht vor. Wir gehen ins andere Licht. In eine andere Zeit? In einen anderen Raum. Grandmère Louise geht zur Chaiselongue im helleren Zimmer, legt sich hin, deckt sich zu und sagt: Ich bin müde. Ich lege mich zu dir, sage ich, dann sterben wir zusammen.
Wenn mein Traum leer war, wenn er mir nichts sagt, dann habe ich ihn nicht richtig gelesen. Nicht die Träume erschaffen mich. Aber die Angst vor dem Nichts. Das Unverstandene und das Versäumte ist manchmal dasselbe. Du versäumst, was du nicht erkennst, du lebst nicht einmal das tatsächlich Gelebte. Dich trifft nicht der Traum – du musst den Traum treffen. Ich will den Traum nicht durch eine Grenze von der Wirklichkeit unterscheiden, der Traum ist nur eine andere Wahrheit.
Ich im Grab. Ich betrete ein großes Oval. In der Mitte befinden sich Tische und Kommoden, auf einem ovalen Podest gestapelt, eine unbegehbare Zone ohne Geländer. Ich gehe rechts an der Außenwand entlang, auf einer Galerie ohne Tiefe, in die enge Biegung des Raums. Da steht ein großes Gehäuse aus hellbraunem Holz. Ich bin nicht allein. Ich sehe das Gesicht einer Frau links neben mir. Sie ist still. Sie sagt nichts. Elisa. Ich schaue zu ihr. Sie ist ernst, sie schaut in die Raumbiegung. Ich schaue an ihr vorbei. Auf der linken Seite des Ovals sitzt der Verkäufer des hölzernen Gehäuses, neben ihm seine stumme Frau. Ich gehe langsam weiter. Ich höre leise Töne aus dem schweren Kasten: Hüter, ist die Nacht bald hin? Ich schaue mich um – sind das Fenster über mir an der Wand? Lauter leere Rahmen! Ich stoße mit dem Fuß gegen das Holz des Gehäuses. Der schwere Kasten öffnet sich, drin hängt eine große Uhr mit Pendel, Seilen und schweren Kupfergewichten. Sie schlägt nicht mehr. Ich gehe in die Biegung, an der Uhr vorbei, vorbei an dem grinsenden Verkäufer. Hinter mir Tiefe. Ich bin allein.
Stella lächelte, hob die Tasse an den Mund, sah mir in die Augen und trank das Salz in einem Zug aus. Ihre Haut zischte weiß aus dem Rock. Stella lief ans offene Fenster und spuckte das Salz auf die Straße, rannte zum Wasserhahn und spülte ihre rote Stimme. Das war der Augenblick, in dem ich mich verliebte. Elisa war ausgelöscht. Ich wollte wissen, ob mich eine andere Frau gefährden konnte, ich war scharf darauf zu erfahren, wer mein Ego überbietet. Aber ich behielt den Überblick. Nur manchmal dachte ich, ich sei Herakles und das tausendköpfige Ungeheuer in einem, sah, wie ich mich enthauptete, wie mir neue Köpfe wuchsen, wie ich mich aber zuletzt in der Enthauptung behauptete.
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.