In wasserloser Ferne

 

In wasserloser Ferne. Ich wohne in einer alten Stadt in einem kleinen Haus mit engen Stiegen am großen Platz, der zerfurcht ist von den Schienen der Straßenbahn. In der Ferne kreischen die Räder aus dem blanken Metall der Gleise. Sommerdunkel. Ich stehe im düsteren  Stiegenhaus eng angelehnt an eine Frau mit weit fliegenden Venus-Haaren. – Im Kopf bin ich woanders. Ich fahre mit dem Rad über den Platz. Ich steige ab, mir ist der Sattel gestohlen worden. Ich habe Durst. Ich stelle das Rad in einen schmalen Gang hinter einem Kiosk… Dann reißt mein Gedächtnis. Ich sehe, wie es reißt, ich sehe mir zu, wie ich mich vergesse. – Ich verlasse den Platz, die Stadt, und gehe den Berg hinunter. Ich will in die Ebene, zum Fluss. Ich habe ja Durst. Ich bin ausgedörrt, meine Erde braucht Wasser. – Da laufen Frauen in kleinen Gruppen. Ich stehe mitten unter ihnen. Sie laufen schnell weiter. Ich schaue ihnen nach. Sie bewegen sich in Kampfhandlungen. Eine tonlose Raserei! Sie flüchten, plötzlich auf dünne Bäume kletternd – Bäume wie Zweige! –,  den Berg hinauf zur Stadt, die über der Ebene liegt. Solche Bäume gibt es nur hier. Die Frauen laufen über den schlanken Stamm hinauf zur Krone, die sie in den Hang biegen, und springen vom Wipfel wieder zur Erde. Der Baum peitscht die Luft. Manche steigen vielleicht sieben Meter hoch und fallen mit nackten Füßen ins Moos, ins Laub- und Nadelbett der Walderde und rennen weiter hinauf zum nächsten Baum, der sich biegen lässt… Hinab, denke ich, hinab! Zum rettenden Wasser. Es ist kein Krieg. Jetzt wird es heller. – Ich schaue zurück. Oben am Rand des Felsplateaus lehnen sich die Frauen zu weit vor. Sie können sich nicht halten und stürzen vom Himmel. Die Bilder verblassen. – Es ist heiß. Nun wieder die dämmrige Luft. „Ich lebe gern in deinen Bildern“, sagte Stella. Wir sind mit den Köpfen im schwarzen Raum des Spiels. „Ich stehe fest auf dem Boden des Traums“, sagte ich.

 

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.